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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Verfassung des deutschen Reiches im vorigen Jahrhundert.

Ob das Land des deutschen Ordens, Preußen, und ob gar die Besitzungen
der Schwertbrüder in den jetzt russischen Ostseeprovinzen dem deutschen Reiche
zuzurechnen waren oder nicht, war stets streitig.

Es würde viel zu weit führen, die Zusammensetzung jedes einzelnen dieser
Kreise auch nur ganz kurz anzugeben. Aber das Bild, welches dem Leser vor¬
geführt werden soll, würde geradezu unvollständig sein, wenn nicht wenigstens
ein oder der andre dieser Kreise einer genaueren Betrachtung unterzogen würde,
um zu erkennen, wie bunt, mannichfaltig und willkürlich die Gebiete derselben
zusammengewürfelt waren.

Das großartigste Bild jener oben angeführten eoutuÄo eliviniws oräw-z.tA
bildete der schwäbische Kreis, der darum auch förmlich sprichwörtlich war. Die
Stunde dieses Kreises, der etwa sechshundert Geviertmeilen umfaßte, teilten sich
auf ihren Kreistagen in fünf Bänke. Auf der ersten saßen vier geistliche Stifter
und Fürsten; die zweite wurde beschickt vou dreizehn weltlichen Fürsten und
Stiftern; auf der dritten waren vertreten siebzehn Prälaten und vier Äbtissinnen;
auf der vierten hatten sechsundzwanzig Grafen und Herren ihren Sitz; dann
folgten endlich auf der fünften Bank die Vertreter von 37, sage und schreibe
siebenunddreißig freien Reichsstädten! Das waren in Summn fünfundneunzig
Stände. Dazu kamen dann noch vier unmittelbare Reichslande, die aber nicht
die Neichsstandschaft besaßen, also insgesamt neunundneunzig Territorien. Wenn
man uun noch bedenkt, daß dazwischen in buntesten Gemisch die Gebiete von
mehreren Hunderten von Reichsrittern eingestreut lagen, und endlich, daß der
ganze Kreis durchzogen wurde von einer Kette der sogenannten vorderöster¬
reichischen Besitzungen des Hauses Habsburg, so braucht man sich nicht darüber
zu wundern, daß das gesegnete Schwaben das berufene Paradies war für alle
Bummler, Landstreicher lind Strolche. So leicht wie hier konnte man sich
nirgends sonst der Verfolgung entziehen, so leicht wie hier nirgends sonst der
Behörde ein Schnippchen schlagen.

So zersplittert wie der schwäbische, war allerdings kein andrer Reichskreis.
Wunderlich genug zusammengesetzt freilich waren alle. Beispielsweise sei noch
erwähnt, daß zum niederrheinischen oder Kurkreise auch Erfurt und das Eichs¬
feld, Besitzungen des Kurfttrsteu von Mainz, gehörten, während Hesse"-Kassel
zum oberrheinischen Kreise gezählt wurde. Zu den sechsundfünfzig Ständen
des westfälischen Kreises gehörten auch die Bischöfe von Lttttich, deren Be¬
sitzungen in den Niederlanden liegen, die rheinischen Herzöge von Jülich-Cleve-
Berg, die rheinischen Reichsstädte Köln und Aachen, die folgenden Bestandteile
der jetzigen Provinz Hannover: Osnabrück, Werden, Lingen, Hoya, Diepholz.

Im ganzen Reiche gab es 296 Stände, welche auf den Reichstagen teils
Viril-, teils Anteil an Kuriatstimmen hatten. Dazu kamen dann nahezu
1500 reichsritterschaftliche und andre kleine Territorien, sodaß das Reich in
fast 1800 von einander ziemlich unabhängige Gebiete zerfiel, welche sich der


Die Verfassung des deutschen Reiches im vorigen Jahrhundert.

Ob das Land des deutschen Ordens, Preußen, und ob gar die Besitzungen
der Schwertbrüder in den jetzt russischen Ostseeprovinzen dem deutschen Reiche
zuzurechnen waren oder nicht, war stets streitig.

Es würde viel zu weit führen, die Zusammensetzung jedes einzelnen dieser
Kreise auch nur ganz kurz anzugeben. Aber das Bild, welches dem Leser vor¬
geführt werden soll, würde geradezu unvollständig sein, wenn nicht wenigstens
ein oder der andre dieser Kreise einer genaueren Betrachtung unterzogen würde,
um zu erkennen, wie bunt, mannichfaltig und willkürlich die Gebiete derselben
zusammengewürfelt waren.

Das großartigste Bild jener oben angeführten eoutuÄo eliviniws oräw-z.tA
bildete der schwäbische Kreis, der darum auch förmlich sprichwörtlich war. Die
Stunde dieses Kreises, der etwa sechshundert Geviertmeilen umfaßte, teilten sich
auf ihren Kreistagen in fünf Bänke. Auf der ersten saßen vier geistliche Stifter
und Fürsten; die zweite wurde beschickt vou dreizehn weltlichen Fürsten und
Stiftern; auf der dritten waren vertreten siebzehn Prälaten und vier Äbtissinnen;
auf der vierten hatten sechsundzwanzig Grafen und Herren ihren Sitz; dann
folgten endlich auf der fünften Bank die Vertreter von 37, sage und schreibe
siebenunddreißig freien Reichsstädten! Das waren in Summn fünfundneunzig
Stände. Dazu kamen dann noch vier unmittelbare Reichslande, die aber nicht
die Neichsstandschaft besaßen, also insgesamt neunundneunzig Territorien. Wenn
man uun noch bedenkt, daß dazwischen in buntesten Gemisch die Gebiete von
mehreren Hunderten von Reichsrittern eingestreut lagen, und endlich, daß der
ganze Kreis durchzogen wurde von einer Kette der sogenannten vorderöster¬
reichischen Besitzungen des Hauses Habsburg, so braucht man sich nicht darüber
zu wundern, daß das gesegnete Schwaben das berufene Paradies war für alle
Bummler, Landstreicher lind Strolche. So leicht wie hier konnte man sich
nirgends sonst der Verfolgung entziehen, so leicht wie hier nirgends sonst der
Behörde ein Schnippchen schlagen.

So zersplittert wie der schwäbische, war allerdings kein andrer Reichskreis.
Wunderlich genug zusammengesetzt freilich waren alle. Beispielsweise sei noch
erwähnt, daß zum niederrheinischen oder Kurkreise auch Erfurt und das Eichs¬
feld, Besitzungen des Kurfttrsteu von Mainz, gehörten, während Hesse«-Kassel
zum oberrheinischen Kreise gezählt wurde. Zu den sechsundfünfzig Ständen
des westfälischen Kreises gehörten auch die Bischöfe von Lttttich, deren Be¬
sitzungen in den Niederlanden liegen, die rheinischen Herzöge von Jülich-Cleve-
Berg, die rheinischen Reichsstädte Köln und Aachen, die folgenden Bestandteile
der jetzigen Provinz Hannover: Osnabrück, Werden, Lingen, Hoya, Diepholz.

Im ganzen Reiche gab es 296 Stände, welche auf den Reichstagen teils
Viril-, teils Anteil an Kuriatstimmen hatten. Dazu kamen dann nahezu
1500 reichsritterschaftliche und andre kleine Territorien, sodaß das Reich in
fast 1800 von einander ziemlich unabhängige Gebiete zerfiel, welche sich der


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[0317] Die Verfassung des deutschen Reiches im vorigen Jahrhundert. Ob das Land des deutschen Ordens, Preußen, und ob gar die Besitzungen der Schwertbrüder in den jetzt russischen Ostseeprovinzen dem deutschen Reiche zuzurechnen waren oder nicht, war stets streitig. Es würde viel zu weit führen, die Zusammensetzung jedes einzelnen dieser Kreise auch nur ganz kurz anzugeben. Aber das Bild, welches dem Leser vor¬ geführt werden soll, würde geradezu unvollständig sein, wenn nicht wenigstens ein oder der andre dieser Kreise einer genaueren Betrachtung unterzogen würde, um zu erkennen, wie bunt, mannichfaltig und willkürlich die Gebiete derselben zusammengewürfelt waren. Das großartigste Bild jener oben angeführten eoutuÄo eliviniws oräw-z.tA bildete der schwäbische Kreis, der darum auch förmlich sprichwörtlich war. Die Stunde dieses Kreises, der etwa sechshundert Geviertmeilen umfaßte, teilten sich auf ihren Kreistagen in fünf Bänke. Auf der ersten saßen vier geistliche Stifter und Fürsten; die zweite wurde beschickt vou dreizehn weltlichen Fürsten und Stiftern; auf der dritten waren vertreten siebzehn Prälaten und vier Äbtissinnen; auf der vierten hatten sechsundzwanzig Grafen und Herren ihren Sitz; dann folgten endlich auf der fünften Bank die Vertreter von 37, sage und schreibe siebenunddreißig freien Reichsstädten! Das waren in Summn fünfundneunzig Stände. Dazu kamen dann noch vier unmittelbare Reichslande, die aber nicht die Neichsstandschaft besaßen, also insgesamt neunundneunzig Territorien. Wenn man uun noch bedenkt, daß dazwischen in buntesten Gemisch die Gebiete von mehreren Hunderten von Reichsrittern eingestreut lagen, und endlich, daß der ganze Kreis durchzogen wurde von einer Kette der sogenannten vorderöster¬ reichischen Besitzungen des Hauses Habsburg, so braucht man sich nicht darüber zu wundern, daß das gesegnete Schwaben das berufene Paradies war für alle Bummler, Landstreicher lind Strolche. So leicht wie hier konnte man sich nirgends sonst der Verfolgung entziehen, so leicht wie hier nirgends sonst der Behörde ein Schnippchen schlagen. So zersplittert wie der schwäbische, war allerdings kein andrer Reichskreis. Wunderlich genug zusammengesetzt freilich waren alle. Beispielsweise sei noch erwähnt, daß zum niederrheinischen oder Kurkreise auch Erfurt und das Eichs¬ feld, Besitzungen des Kurfttrsteu von Mainz, gehörten, während Hesse«-Kassel zum oberrheinischen Kreise gezählt wurde. Zu den sechsundfünfzig Ständen des westfälischen Kreises gehörten auch die Bischöfe von Lttttich, deren Be¬ sitzungen in den Niederlanden liegen, die rheinischen Herzöge von Jülich-Cleve- Berg, die rheinischen Reichsstädte Köln und Aachen, die folgenden Bestandteile der jetzigen Provinz Hannover: Osnabrück, Werden, Lingen, Hoya, Diepholz. Im ganzen Reiche gab es 296 Stände, welche auf den Reichstagen teils Viril-, teils Anteil an Kuriatstimmen hatten. Dazu kamen dann nahezu 1500 reichsritterschaftliche und andre kleine Territorien, sodaß das Reich in fast 1800 von einander ziemlich unabhängige Gebiete zerfiel, welche sich der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/317>, abgerufen am 23.07.2024.