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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Vie Verfassung des deutschen Reiches im vorigen Jahrhundert.

und Einrichtungen schaffen oder aufrecht erhalten konnte, natürlich alles zu
Nutz und Frommen eines wvhledeln Bürgermeisters, eines ehrbaren und ein¬
sichtigen Nates und jener Klüngel- und Vetterngesellschaft, welche man in den
meisten Reichsstädten als die Geschlechter bezeichnete.

Freilich jener gewaltige Staatsmann, der damals Schweden lenkte, der
schlaue Axel Oxenstjerna, hatte für den im deutschen Reiche herrschenden Zu¬
stand eine weit weniger schmeichelhafte Bezeichnung, nämlich: vontuÄo cUvi-
vitus oräinÄtÄ, die von Gott geordnete Verwirrung. Und diese Verwirrung
aufrecht zu erhalten, war fast das Hauptstreben aller Mächte Enropas, namentlich
aber der beiden Bürgen des westfälischen Friedens, Schwedens und Frankreichs.
Daß besonders die Macht und das Übergewicht des letzteren Staates wesentlich
auf der Zersplitterung Deutschlands beruhte, ist allbekannt; daß seine Politik
dahin ging, diesen Zustand der Schwäche zu verewigen, ist also von französischem
Standpunkte aus nur ganz natürlich. Wußte doch sogar der berühmteste Geschichts-
schreiber und Staatsmann des neuern Frankreichs, Adolf Thiers, der Politik des
zweiten Kaiserreiches keinen schwereren Fehler vorzuwerfen, als den, daß der dritte
Napoleon die Einigung Italiens und Deutschlands nicht zu hindern verstanden habe.

Wollen wir den Zustand des deutschen Reiches etwa um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts etwas genauer kennen lernen, so müssen wir natürlich
zunächst das Reichsgebiet festzustellen versuchen, so weit dies eben möglich ist.
Denn selbst in dieser Beziehung tritt uns sofort die bemerkenswerteste Eigen¬
tümlichkeit alles dessen, was irgendwie mit dem alten Reiche zu thun hatte,
entgegen: der schroffe Widerspruch zwischen Namen und Wesen, zwischen Schein
und Wirklichkeit, zwischen Ansprüchen und wirklicher Macht. Wo eigentlich
die Grenzpfühle des heiligen Reiches standen, hat merkwürdigerweise kein Ge¬
lehrter genau feststellen können, trotz der Unzahl dickleibiger, gelehrter Werke,
die über diese Frage geschrieben worden sind. Daß zwar die Ansprüche, welche
zu den Zeiten Heinrichs III. berechtigt gewesen waren, daß z. B. die Könige von
Dänemark, von Polen, von Ungarn Vasallen des römischen Kaisers waren, nicht
mehr aufrecht erhalten werden konnten, war unzweifelhaft. Trotzdem bestanden
bis zuletzt die drei Erzkcmzlerämtcr: der Erzbischof von Mainz war des heiligen
römischen Reiches Erzkanzler durch Germanien, der von Trier durch Gallien
und Arelat, der von Köln durch Italien. Der Herzog von Savoyen, der aber
den Reichstag nicht beschickte, galt als Reichsvikar in Italien. Von den Be¬
sitzungen des Reiches in Gallien, von dem Königreiche Arelat oder Burgund,
von den Reichslehen in Italien, die sich ehemals von den Felsterrassen der
Riviera und den lombardischen Flächen fast bis Neapel hin erstreckt hatten, war
keine Spur mehr vorhanden. Die Unabhängigkeit der vereinigte!, Niederlande
und des Gebietes der Eidgenossen war im westfälischen Frieden anerkannt worden.
In ebendemselben Frieden waren Vorpommern, Wismar, die Herzogtümer
Bremen und Verden an Schweden abgetreten worden. Die staatsrechtliche


Vie Verfassung des deutschen Reiches im vorigen Jahrhundert.

und Einrichtungen schaffen oder aufrecht erhalten konnte, natürlich alles zu
Nutz und Frommen eines wvhledeln Bürgermeisters, eines ehrbaren und ein¬
sichtigen Nates und jener Klüngel- und Vetterngesellschaft, welche man in den
meisten Reichsstädten als die Geschlechter bezeichnete.

Freilich jener gewaltige Staatsmann, der damals Schweden lenkte, der
schlaue Axel Oxenstjerna, hatte für den im deutschen Reiche herrschenden Zu¬
stand eine weit weniger schmeichelhafte Bezeichnung, nämlich: vontuÄo cUvi-
vitus oräinÄtÄ, die von Gott geordnete Verwirrung. Und diese Verwirrung
aufrecht zu erhalten, war fast das Hauptstreben aller Mächte Enropas, namentlich
aber der beiden Bürgen des westfälischen Friedens, Schwedens und Frankreichs.
Daß besonders die Macht und das Übergewicht des letzteren Staates wesentlich
auf der Zersplitterung Deutschlands beruhte, ist allbekannt; daß seine Politik
dahin ging, diesen Zustand der Schwäche zu verewigen, ist also von französischem
Standpunkte aus nur ganz natürlich. Wußte doch sogar der berühmteste Geschichts-
schreiber und Staatsmann des neuern Frankreichs, Adolf Thiers, der Politik des
zweiten Kaiserreiches keinen schwereren Fehler vorzuwerfen, als den, daß der dritte
Napoleon die Einigung Italiens und Deutschlands nicht zu hindern verstanden habe.

Wollen wir den Zustand des deutschen Reiches etwa um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts etwas genauer kennen lernen, so müssen wir natürlich
zunächst das Reichsgebiet festzustellen versuchen, so weit dies eben möglich ist.
Denn selbst in dieser Beziehung tritt uns sofort die bemerkenswerteste Eigen¬
tümlichkeit alles dessen, was irgendwie mit dem alten Reiche zu thun hatte,
entgegen: der schroffe Widerspruch zwischen Namen und Wesen, zwischen Schein
und Wirklichkeit, zwischen Ansprüchen und wirklicher Macht. Wo eigentlich
die Grenzpfühle des heiligen Reiches standen, hat merkwürdigerweise kein Ge¬
lehrter genau feststellen können, trotz der Unzahl dickleibiger, gelehrter Werke,
die über diese Frage geschrieben worden sind. Daß zwar die Ansprüche, welche
zu den Zeiten Heinrichs III. berechtigt gewesen waren, daß z. B. die Könige von
Dänemark, von Polen, von Ungarn Vasallen des römischen Kaisers waren, nicht
mehr aufrecht erhalten werden konnten, war unzweifelhaft. Trotzdem bestanden
bis zuletzt die drei Erzkcmzlerämtcr: der Erzbischof von Mainz war des heiligen
römischen Reiches Erzkanzler durch Germanien, der von Trier durch Gallien
und Arelat, der von Köln durch Italien. Der Herzog von Savoyen, der aber
den Reichstag nicht beschickte, galt als Reichsvikar in Italien. Von den Be¬
sitzungen des Reiches in Gallien, von dem Königreiche Arelat oder Burgund,
von den Reichslehen in Italien, die sich ehemals von den Felsterrassen der
Riviera und den lombardischen Flächen fast bis Neapel hin erstreckt hatten, war
keine Spur mehr vorhanden. Die Unabhängigkeit der vereinigte!, Niederlande
und des Gebietes der Eidgenossen war im westfälischen Frieden anerkannt worden.
In ebendemselben Frieden waren Vorpommern, Wismar, die Herzogtümer
Bremen und Verden an Schweden abgetreten worden. Die staatsrechtliche


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[0315] Vie Verfassung des deutschen Reiches im vorigen Jahrhundert. und Einrichtungen schaffen oder aufrecht erhalten konnte, natürlich alles zu Nutz und Frommen eines wvhledeln Bürgermeisters, eines ehrbaren und ein¬ sichtigen Nates und jener Klüngel- und Vetterngesellschaft, welche man in den meisten Reichsstädten als die Geschlechter bezeichnete. Freilich jener gewaltige Staatsmann, der damals Schweden lenkte, der schlaue Axel Oxenstjerna, hatte für den im deutschen Reiche herrschenden Zu¬ stand eine weit weniger schmeichelhafte Bezeichnung, nämlich: vontuÄo cUvi- vitus oräinÄtÄ, die von Gott geordnete Verwirrung. Und diese Verwirrung aufrecht zu erhalten, war fast das Hauptstreben aller Mächte Enropas, namentlich aber der beiden Bürgen des westfälischen Friedens, Schwedens und Frankreichs. Daß besonders die Macht und das Übergewicht des letzteren Staates wesentlich auf der Zersplitterung Deutschlands beruhte, ist allbekannt; daß seine Politik dahin ging, diesen Zustand der Schwäche zu verewigen, ist also von französischem Standpunkte aus nur ganz natürlich. Wußte doch sogar der berühmteste Geschichts- schreiber und Staatsmann des neuern Frankreichs, Adolf Thiers, der Politik des zweiten Kaiserreiches keinen schwereren Fehler vorzuwerfen, als den, daß der dritte Napoleon die Einigung Italiens und Deutschlands nicht zu hindern verstanden habe. Wollen wir den Zustand des deutschen Reiches etwa um die Mitte des vorigen Jahrhunderts etwas genauer kennen lernen, so müssen wir natürlich zunächst das Reichsgebiet festzustellen versuchen, so weit dies eben möglich ist. Denn selbst in dieser Beziehung tritt uns sofort die bemerkenswerteste Eigen¬ tümlichkeit alles dessen, was irgendwie mit dem alten Reiche zu thun hatte, entgegen: der schroffe Widerspruch zwischen Namen und Wesen, zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen Ansprüchen und wirklicher Macht. Wo eigentlich die Grenzpfühle des heiligen Reiches standen, hat merkwürdigerweise kein Ge¬ lehrter genau feststellen können, trotz der Unzahl dickleibiger, gelehrter Werke, die über diese Frage geschrieben worden sind. Daß zwar die Ansprüche, welche zu den Zeiten Heinrichs III. berechtigt gewesen waren, daß z. B. die Könige von Dänemark, von Polen, von Ungarn Vasallen des römischen Kaisers waren, nicht mehr aufrecht erhalten werden konnten, war unzweifelhaft. Trotzdem bestanden bis zuletzt die drei Erzkcmzlerämtcr: der Erzbischof von Mainz war des heiligen römischen Reiches Erzkanzler durch Germanien, der von Trier durch Gallien und Arelat, der von Köln durch Italien. Der Herzog von Savoyen, der aber den Reichstag nicht beschickte, galt als Reichsvikar in Italien. Von den Be¬ sitzungen des Reiches in Gallien, von dem Königreiche Arelat oder Burgund, von den Reichslehen in Italien, die sich ehemals von den Felsterrassen der Riviera und den lombardischen Flächen fast bis Neapel hin erstreckt hatten, war keine Spur mehr vorhanden. Die Unabhängigkeit der vereinigte!, Niederlande und des Gebietes der Eidgenossen war im westfälischen Frieden anerkannt worden. In ebendemselben Frieden waren Vorpommern, Wismar, die Herzogtümer Bremen und Verden an Schweden abgetreten worden. Die staatsrechtliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/315>, abgerufen am 23.07.2024.