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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Gin süddeutscher Patriot vor hundert Iahrett.

die Aufmerksamkeit aller Völker Europas und der Deutschen insbesondre in
solchem Maße in Anspruch nehmen sollte, daß darüber lange Zeit ganz ver¬
gessen wurde, was die Deutschen bis dahin selbständig und von unmittelbaren
französischen Einflüssen unabhängig mit Bezug auf Staat und Gesellschaft
gedacht, erstrebt und geleistet hatten. Die Welt hat sich gewöhnt, mit dem
Vastillenftnrm vom 14. Juli 1789 den Anbruch einer neuen Zeit zu datiren und
die gesamte fortschrittliche Bewegung der Neuzeit von dem Anstoße herzuleiten,
den der tiers stg,t> durch sein Auftreten in der Nationalversammlung zunächst
dem französischen Volke gegeben hatte. Es gleicht beinahe der Wiederentdeckuug
eines verschollenen Landes, wenn die Geschichtsforschung heutiger Zeit das Ge¬
dächtnis der Männer, der Gedanken und Bestrebungen wieder auffrischt, welche
auf deutschem Boden vor 1789 jene "ruhige Bildung" herbeigeführt haben,
die durch das Franzium erst zurückgedrängt und dann gar in Vergessenheit
gebracht worden ist. Vergessenheit ist die härteste Strafe, welche die Gerechtig¬
keit der Geschichte zuerkennt. Ganz schuldlos wird sich keiner bekennen dürfen,
der dieser Strafe verfallen ist. Die Schuld des Geschlechtes, welchem Schubcirt
angehört, die Schuld, welche den schwäbischen Publizisten ganz insbesondre trifft,
lag in dem Mangel einer Vertiefung des nationalen Gedankens. Weil alle
diese Männer, so Vortreffliches sie im einzelnen gedacht und erstrebt haben
mochten, doch uicht die staatliche Einheit als notwendiges und höchstes Ziel
aller nationalen Bestrebungen erfaßt haben, deswegen konnte der Sturm aus
Westen, entfesselt von einem Volke, das im einheitlichen Nationalstaate sein
höchstes Gut erblickte, alles wegfegen, was an politischen Ideen und Bestre¬
bungen in Deutschland minder tief gewurzelt dastand. In welcher Weise von
Schubcirt und seinen Zeitgenossen das "Nationalinteresse" aufgefaßt wurde,
davon kann sich das heutige Geschlecht in Deutschland schwer eine Vorstellung
machen. Es verlohnt sich der Mühe, näher zu betrachten, was die "Chronik"
von 1787 (S. 181) in dieser Hinsicht äußert. Posselt hatte in Karlsruhe, bei
der ersten Wiederkehr des Todestages Friedrichs des Großen, eine Gedächtnis¬
rede auf den verewigten König gehalten. Schubart, mit Posselt eng befreundet,
rühmt diesen Vortrag in begeisterten Worten. Unter den "erhabenen, kühnen,
allen deutschen Patrioten ewig wichtigen Gegenständen, welche hier auf drei
Bogen zusammengedrängt sind," hebt er aber besonders die Art und Weise hervor,
in welcher Posselt des Fürstenbundes Erwähnung gethan hat, dessen Stifter
Friedrich war, welchem Europa überhaupt, und ganz vorzüglich Deutschland,
so großen Dank dafür schuldig ist. Und nun sagt Schubart wörtlich: "Diese
Rede hat ausnehmend viel Nationalinteresse; gegen Universalmonarchie und für
deutschen Bund ist gewiß noch niemals so zusammengedrängt vollständig ge¬
schrieben worden als hier. Besonders hat Posselt zwei Gesichtspunkte auf¬
gefaßt, die man bisher wie Klippen vermied -- die eine, was dieser Bund für
den Kaiser sein kann, die andre, was er für jeden einzelnen Mann in Deutsch-


Gin süddeutscher Patriot vor hundert Iahrett.

die Aufmerksamkeit aller Völker Europas und der Deutschen insbesondre in
solchem Maße in Anspruch nehmen sollte, daß darüber lange Zeit ganz ver¬
gessen wurde, was die Deutschen bis dahin selbständig und von unmittelbaren
französischen Einflüssen unabhängig mit Bezug auf Staat und Gesellschaft
gedacht, erstrebt und geleistet hatten. Die Welt hat sich gewöhnt, mit dem
Vastillenftnrm vom 14. Juli 1789 den Anbruch einer neuen Zeit zu datiren und
die gesamte fortschrittliche Bewegung der Neuzeit von dem Anstoße herzuleiten,
den der tiers stg,t> durch sein Auftreten in der Nationalversammlung zunächst
dem französischen Volke gegeben hatte. Es gleicht beinahe der Wiederentdeckuug
eines verschollenen Landes, wenn die Geschichtsforschung heutiger Zeit das Ge¬
dächtnis der Männer, der Gedanken und Bestrebungen wieder auffrischt, welche
auf deutschem Boden vor 1789 jene „ruhige Bildung" herbeigeführt haben,
die durch das Franzium erst zurückgedrängt und dann gar in Vergessenheit
gebracht worden ist. Vergessenheit ist die härteste Strafe, welche die Gerechtig¬
keit der Geschichte zuerkennt. Ganz schuldlos wird sich keiner bekennen dürfen,
der dieser Strafe verfallen ist. Die Schuld des Geschlechtes, welchem Schubcirt
angehört, die Schuld, welche den schwäbischen Publizisten ganz insbesondre trifft,
lag in dem Mangel einer Vertiefung des nationalen Gedankens. Weil alle
diese Männer, so Vortreffliches sie im einzelnen gedacht und erstrebt haben
mochten, doch uicht die staatliche Einheit als notwendiges und höchstes Ziel
aller nationalen Bestrebungen erfaßt haben, deswegen konnte der Sturm aus
Westen, entfesselt von einem Volke, das im einheitlichen Nationalstaate sein
höchstes Gut erblickte, alles wegfegen, was an politischen Ideen und Bestre¬
bungen in Deutschland minder tief gewurzelt dastand. In welcher Weise von
Schubcirt und seinen Zeitgenossen das „Nationalinteresse" aufgefaßt wurde,
davon kann sich das heutige Geschlecht in Deutschland schwer eine Vorstellung
machen. Es verlohnt sich der Mühe, näher zu betrachten, was die „Chronik"
von 1787 (S. 181) in dieser Hinsicht äußert. Posselt hatte in Karlsruhe, bei
der ersten Wiederkehr des Todestages Friedrichs des Großen, eine Gedächtnis¬
rede auf den verewigten König gehalten. Schubart, mit Posselt eng befreundet,
rühmt diesen Vortrag in begeisterten Worten. Unter den „erhabenen, kühnen,
allen deutschen Patrioten ewig wichtigen Gegenständen, welche hier auf drei
Bogen zusammengedrängt sind," hebt er aber besonders die Art und Weise hervor,
in welcher Posselt des Fürstenbundes Erwähnung gethan hat, dessen Stifter
Friedrich war, welchem Europa überhaupt, und ganz vorzüglich Deutschland,
so großen Dank dafür schuldig ist. Und nun sagt Schubart wörtlich: „Diese
Rede hat ausnehmend viel Nationalinteresse; gegen Universalmonarchie und für
deutschen Bund ist gewiß noch niemals so zusammengedrängt vollständig ge¬
schrieben worden als hier. Besonders hat Posselt zwei Gesichtspunkte auf¬
gefaßt, die man bisher wie Klippen vermied — die eine, was dieser Bund für
den Kaiser sein kann, die andre, was er für jeden einzelnen Mann in Deutsch-


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[0282] Gin süddeutscher Patriot vor hundert Iahrett. die Aufmerksamkeit aller Völker Europas und der Deutschen insbesondre in solchem Maße in Anspruch nehmen sollte, daß darüber lange Zeit ganz ver¬ gessen wurde, was die Deutschen bis dahin selbständig und von unmittelbaren französischen Einflüssen unabhängig mit Bezug auf Staat und Gesellschaft gedacht, erstrebt und geleistet hatten. Die Welt hat sich gewöhnt, mit dem Vastillenftnrm vom 14. Juli 1789 den Anbruch einer neuen Zeit zu datiren und die gesamte fortschrittliche Bewegung der Neuzeit von dem Anstoße herzuleiten, den der tiers stg,t> durch sein Auftreten in der Nationalversammlung zunächst dem französischen Volke gegeben hatte. Es gleicht beinahe der Wiederentdeckuug eines verschollenen Landes, wenn die Geschichtsforschung heutiger Zeit das Ge¬ dächtnis der Männer, der Gedanken und Bestrebungen wieder auffrischt, welche auf deutschem Boden vor 1789 jene „ruhige Bildung" herbeigeführt haben, die durch das Franzium erst zurückgedrängt und dann gar in Vergessenheit gebracht worden ist. Vergessenheit ist die härteste Strafe, welche die Gerechtig¬ keit der Geschichte zuerkennt. Ganz schuldlos wird sich keiner bekennen dürfen, der dieser Strafe verfallen ist. Die Schuld des Geschlechtes, welchem Schubcirt angehört, die Schuld, welche den schwäbischen Publizisten ganz insbesondre trifft, lag in dem Mangel einer Vertiefung des nationalen Gedankens. Weil alle diese Männer, so Vortreffliches sie im einzelnen gedacht und erstrebt haben mochten, doch uicht die staatliche Einheit als notwendiges und höchstes Ziel aller nationalen Bestrebungen erfaßt haben, deswegen konnte der Sturm aus Westen, entfesselt von einem Volke, das im einheitlichen Nationalstaate sein höchstes Gut erblickte, alles wegfegen, was an politischen Ideen und Bestre¬ bungen in Deutschland minder tief gewurzelt dastand. In welcher Weise von Schubcirt und seinen Zeitgenossen das „Nationalinteresse" aufgefaßt wurde, davon kann sich das heutige Geschlecht in Deutschland schwer eine Vorstellung machen. Es verlohnt sich der Mühe, näher zu betrachten, was die „Chronik" von 1787 (S. 181) in dieser Hinsicht äußert. Posselt hatte in Karlsruhe, bei der ersten Wiederkehr des Todestages Friedrichs des Großen, eine Gedächtnis¬ rede auf den verewigten König gehalten. Schubart, mit Posselt eng befreundet, rühmt diesen Vortrag in begeisterten Worten. Unter den „erhabenen, kühnen, allen deutschen Patrioten ewig wichtigen Gegenständen, welche hier auf drei Bogen zusammengedrängt sind," hebt er aber besonders die Art und Weise hervor, in welcher Posselt des Fürstenbundes Erwähnung gethan hat, dessen Stifter Friedrich war, welchem Europa überhaupt, und ganz vorzüglich Deutschland, so großen Dank dafür schuldig ist. Und nun sagt Schubart wörtlich: „Diese Rede hat ausnehmend viel Nationalinteresse; gegen Universalmonarchie und für deutschen Bund ist gewiß noch niemals so zusammengedrängt vollständig ge¬ schrieben worden als hier. Besonders hat Posselt zwei Gesichtspunkte auf¬ gefaßt, die man bisher wie Klippen vermied — die eine, was dieser Bund für den Kaiser sein kann, die andre, was er für jeden einzelnen Mann in Deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/282>, abgerufen am 23.07.2024.