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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Klagen eines Zeitungsschreibers.

Für den einsichtigen und verwöhnten Zeitungsleser, der eine eingehende,
von gediegenem Urteil und politischer Reife zeugende Besprechung der Tages¬
ereignisse von seiner Zeitung verlangt, würde es unbegreiflich sein, wie genügsam
in dieser Beziehung durchgängig ein ländliches oder kleinstädtisches Publikum
ist, unbegreiflich, welchen Reiz es für eine solche auf Neuigkeiten erpichte Leser¬
schaft haben kann, das, was man oft schon weiß und anderweitig erfahren hat,
schwarz auf weiß gedruckt, vou einigen passenden oder unpassenden Bemerkungen
eines Dorfkorrespondenten begleitet, vor sich zu sehen, sich berichten zu lassen,
daß des Nachbars Knecht sich in der Dreschmaschine den Arm gequetscht hat,
oder daß in Nummelshausen ein Hausbrand stattgefunden hat, oder zu ersehen,
daß der oder jener einen Knecht oder eine Magd sucht. Denn auch die An¬
zeigen haben ein über ihren praktischen Nutzen hinausgehendes Interesse, sie
sind Quellen der Unterhaltung. Es wird ferner dem großstädtischen Leser, der
täglich sein halbes Dutzend oder wie viele Zeitungen durchliest oder richtiger
durchfliegt, seltsam vorkommen, wenn er erfährt, daß eine Provinzialzeituug
vou mäßigem Umfang für eine gewisse Klasse von Lesern sich nicht eignet, weil
sie zu -- reichhaltig ist. Der Kleinbauer, der Handwerker oder der Arbeiter hat
sich an das "vertikale" Lesen noch nicht gewöhnt, er muß jede Zeile einzeln
vornehmen, liest gründlich und mit Bedacht, daher er denn in seinen Feier¬
stunden keinen sehr umfangreichen Stoff bewältigen kann.

So kommt es, daß das Lesebedürfnis dieses Publikums meistens durch
Lokalblätter befriedigt wird, welche, weit davon entfernt die Verbreitung jenes
oben erwähnten Blattes zu erreiche", über den Umkreis von wenigett Meilen
nicht Hinaufkommen und deren Abonnentenzahl einige hundert oder ein halbes
tausend manchmal nicht übersteigt. Diese Blätter vermögen die größeren
Blätter vollständig zu verdrängen, denn: "es steht in der größeren Zeitung
zu wenig aus unsrer Gegend, zu wenig, was uns interessirt." Die größere
Zeitung kann sich begreiflicherweise nicht in der gewünschten Breite und Aus¬
führlichkeit mit jedem in dieser Gegend vorfallenden Ereignis beschäftigen. Und
wo es einer Zeitung gelingt, sich einen größern Leserkreis zu verschaffen, oder
wo sie sich einen solchen von der Zeit her, als noch die Zahl der Zeitungen
viel geringer war, erhalten hat, mag dieses oftmals ebenso sehr den Anzeigen
als dem Inhalt des redaktionellen Teiles zU verdanken sein. Denn die weitere
Verbreitung von Anzeigen hat natürlich, abgesehen von dem, wie oben bemerkt,
an die Anzeigen sich knüpfenden Interesse, immer einen Wert, daher auch zU
diesem Zweck Zeitungen gehalten und benutzt werden.

Wenn es nun wahr ist, was immer von dem Einfluß der Presse behauptet
wird, daß Man das, was man täglich liest, schließlich auch glaubt, so ist von
solchen Winkelblättchcn kein besonders bildender und veredelnder Einfluß auf
ihren Leserkreis zu erwarten. Wenn schon bei der Tagespresse besseren Schlages
über Phrase und Wortschwall geklagt wird, so erscheinen diese Untugenden doch


Klagen eines Zeitungsschreibers.

Für den einsichtigen und verwöhnten Zeitungsleser, der eine eingehende,
von gediegenem Urteil und politischer Reife zeugende Besprechung der Tages¬
ereignisse von seiner Zeitung verlangt, würde es unbegreiflich sein, wie genügsam
in dieser Beziehung durchgängig ein ländliches oder kleinstädtisches Publikum
ist, unbegreiflich, welchen Reiz es für eine solche auf Neuigkeiten erpichte Leser¬
schaft haben kann, das, was man oft schon weiß und anderweitig erfahren hat,
schwarz auf weiß gedruckt, vou einigen passenden oder unpassenden Bemerkungen
eines Dorfkorrespondenten begleitet, vor sich zu sehen, sich berichten zu lassen,
daß des Nachbars Knecht sich in der Dreschmaschine den Arm gequetscht hat,
oder daß in Nummelshausen ein Hausbrand stattgefunden hat, oder zu ersehen,
daß der oder jener einen Knecht oder eine Magd sucht. Denn auch die An¬
zeigen haben ein über ihren praktischen Nutzen hinausgehendes Interesse, sie
sind Quellen der Unterhaltung. Es wird ferner dem großstädtischen Leser, der
täglich sein halbes Dutzend oder wie viele Zeitungen durchliest oder richtiger
durchfliegt, seltsam vorkommen, wenn er erfährt, daß eine Provinzialzeituug
vou mäßigem Umfang für eine gewisse Klasse von Lesern sich nicht eignet, weil
sie zu — reichhaltig ist. Der Kleinbauer, der Handwerker oder der Arbeiter hat
sich an das „vertikale" Lesen noch nicht gewöhnt, er muß jede Zeile einzeln
vornehmen, liest gründlich und mit Bedacht, daher er denn in seinen Feier¬
stunden keinen sehr umfangreichen Stoff bewältigen kann.

So kommt es, daß das Lesebedürfnis dieses Publikums meistens durch
Lokalblätter befriedigt wird, welche, weit davon entfernt die Verbreitung jenes
oben erwähnten Blattes zu erreiche», über den Umkreis von wenigett Meilen
nicht Hinaufkommen und deren Abonnentenzahl einige hundert oder ein halbes
tausend manchmal nicht übersteigt. Diese Blätter vermögen die größeren
Blätter vollständig zu verdrängen, denn: „es steht in der größeren Zeitung
zu wenig aus unsrer Gegend, zu wenig, was uns interessirt." Die größere
Zeitung kann sich begreiflicherweise nicht in der gewünschten Breite und Aus¬
führlichkeit mit jedem in dieser Gegend vorfallenden Ereignis beschäftigen. Und
wo es einer Zeitung gelingt, sich einen größern Leserkreis zu verschaffen, oder
wo sie sich einen solchen von der Zeit her, als noch die Zahl der Zeitungen
viel geringer war, erhalten hat, mag dieses oftmals ebenso sehr den Anzeigen
als dem Inhalt des redaktionellen Teiles zU verdanken sein. Denn die weitere
Verbreitung von Anzeigen hat natürlich, abgesehen von dem, wie oben bemerkt,
an die Anzeigen sich knüpfenden Interesse, immer einen Wert, daher auch zU
diesem Zweck Zeitungen gehalten und benutzt werden.

Wenn es nun wahr ist, was immer von dem Einfluß der Presse behauptet
wird, daß Man das, was man täglich liest, schließlich auch glaubt, so ist von
solchen Winkelblättchcn kein besonders bildender und veredelnder Einfluß auf
ihren Leserkreis zu erwarten. Wenn schon bei der Tagespresse besseren Schlages
über Phrase und Wortschwall geklagt wird, so erscheinen diese Untugenden doch


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[0240] Klagen eines Zeitungsschreibers. Für den einsichtigen und verwöhnten Zeitungsleser, der eine eingehende, von gediegenem Urteil und politischer Reife zeugende Besprechung der Tages¬ ereignisse von seiner Zeitung verlangt, würde es unbegreiflich sein, wie genügsam in dieser Beziehung durchgängig ein ländliches oder kleinstädtisches Publikum ist, unbegreiflich, welchen Reiz es für eine solche auf Neuigkeiten erpichte Leser¬ schaft haben kann, das, was man oft schon weiß und anderweitig erfahren hat, schwarz auf weiß gedruckt, vou einigen passenden oder unpassenden Bemerkungen eines Dorfkorrespondenten begleitet, vor sich zu sehen, sich berichten zu lassen, daß des Nachbars Knecht sich in der Dreschmaschine den Arm gequetscht hat, oder daß in Nummelshausen ein Hausbrand stattgefunden hat, oder zu ersehen, daß der oder jener einen Knecht oder eine Magd sucht. Denn auch die An¬ zeigen haben ein über ihren praktischen Nutzen hinausgehendes Interesse, sie sind Quellen der Unterhaltung. Es wird ferner dem großstädtischen Leser, der täglich sein halbes Dutzend oder wie viele Zeitungen durchliest oder richtiger durchfliegt, seltsam vorkommen, wenn er erfährt, daß eine Provinzialzeituug vou mäßigem Umfang für eine gewisse Klasse von Lesern sich nicht eignet, weil sie zu — reichhaltig ist. Der Kleinbauer, der Handwerker oder der Arbeiter hat sich an das „vertikale" Lesen noch nicht gewöhnt, er muß jede Zeile einzeln vornehmen, liest gründlich und mit Bedacht, daher er denn in seinen Feier¬ stunden keinen sehr umfangreichen Stoff bewältigen kann. So kommt es, daß das Lesebedürfnis dieses Publikums meistens durch Lokalblätter befriedigt wird, welche, weit davon entfernt die Verbreitung jenes oben erwähnten Blattes zu erreiche», über den Umkreis von wenigett Meilen nicht Hinaufkommen und deren Abonnentenzahl einige hundert oder ein halbes tausend manchmal nicht übersteigt. Diese Blätter vermögen die größeren Blätter vollständig zu verdrängen, denn: „es steht in der größeren Zeitung zu wenig aus unsrer Gegend, zu wenig, was uns interessirt." Die größere Zeitung kann sich begreiflicherweise nicht in der gewünschten Breite und Aus¬ führlichkeit mit jedem in dieser Gegend vorfallenden Ereignis beschäftigen. Und wo es einer Zeitung gelingt, sich einen größern Leserkreis zu verschaffen, oder wo sie sich einen solchen von der Zeit her, als noch die Zahl der Zeitungen viel geringer war, erhalten hat, mag dieses oftmals ebenso sehr den Anzeigen als dem Inhalt des redaktionellen Teiles zU verdanken sein. Denn die weitere Verbreitung von Anzeigen hat natürlich, abgesehen von dem, wie oben bemerkt, an die Anzeigen sich knüpfenden Interesse, immer einen Wert, daher auch zU diesem Zweck Zeitungen gehalten und benutzt werden. Wenn es nun wahr ist, was immer von dem Einfluß der Presse behauptet wird, daß Man das, was man täglich liest, schließlich auch glaubt, so ist von solchen Winkelblättchcn kein besonders bildender und veredelnder Einfluß auf ihren Leserkreis zu erwarten. Wenn schon bei der Tagespresse besseren Schlages über Phrase und Wortschwall geklagt wird, so erscheinen diese Untugenden doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/240>, abgerufen am 23.07.2024.