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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Unter fahrenden Leuten.

der Irrwisch, das Mädchen im Turm u. s. w., oder solche etwas neuern
Datums, wie die von Kotzebue, Raupach u. a. -- finden sich auch gewöhnliche
Repertoirestücke unsrer heutigen Bühnen, z. B. das Käthchen von Heilbronn,
der Freischütz und Preciosa (die letztern zwei als Schauspiel mit eingelegten
Gesängen) häufig vor. Außer diesen ist aber noch ein zahlreiches buntes
Gemisch von allem Möglichen vorhanden, das sich kaum klassisiziren läßt. Um
dies einigermaßen zu veranschaulichen, brauche ich nur Titel zu nennen wie Hamlet
oder die Komödie in der Komödie (in starker Anlehnung an Shakespeare,
nicht das alte deutsche Stück), Fridolin oder der Gang nach dem Eisenhammer
(nach der Holteischen Bearbeitung); Barbara Ubryk oder das Nonnengrab in
Krakau, Napoleon, Onkel Toms Hütte u. s. w. Ist es einem vergönnt, mit der
Zeit mehrere Handschriften desselben Stückes zu erlangen, so kann man leicht
sehen, wie es sich verändert; bisweilen liegen dem sonst von einer einzigen Hand
gleichmäßig geschriebenen Text einige besondre, von andrer Hand geschriebene
Blätter bei, die Einlagen zu dem Stücke bilden. Sie sind entweder frei aus
der dichtenden Phantasie des Prinzipals entsprungen, oder andern Stücken
-- und unter diesen am meisten wieder den bekannten ältesten -- oder auch
Anekdotensammlungen und ähnlichen Büchern entlehnt. Auch Streichungen sind
oft angebracht, längere ernste Szenen verkürzt, komischere durch eingestreute
Worte und Wendungen deutlicher herausgehoben. Ist auf diese Weise viel
geändert, so wird für eine neue Abschrift gesorgt, und in dieser ist dann äußerlich
von der umgestaltenden Arbeit nichts mehr zu merken. Solchen werdenden
Puppenkomödien kann man in großer Menge begegnen, ja ich glaube, sie bilden
bei weitem die größte Masse von den jetzt auf diesen Bühnen vorhandenen
Stücken.

Wenn Holtei in seinem schon erwähnten Roman den alten Puppenspieler
Dreher sagen läßt, daß seine Zunft im Aussterben begriffen sei und wohl nur noch
drei oder vier davon unter den Lebenden wären, so mag er Wohl Recht gehabt haben.
Mir ist wenigstens bisher kein einziger derartiger, einer Zunft entsprossener Komö¬
diant zu Gesicht gekommen. Natürlich sind damit auch die Zunftcigentümlichkeiten
geschwunden. Wie neue Prinzipale entstehen, ist sehr einfach. Jedes Theater
braucht einen Gehilfen; ist es nur klein, so genügt dazu schon eine einzige
Persönlichkeit, und dieser wird dann meist zugleich das nicht unwesentliche Amt
des Zettelträgers zugeschoben. Der Landbewohner weiß, wie freudig dieser
Zettelträger begrüßt wird. Er bringt die Programme der künftigen Vorstellung
zur Verteilung und holt zuletzt die sämtlichen, meist mit rührender Sorgfalt
vom Publikum aufbewahrten Zettel gegen Verabreichung eines kleinen, um ein
Geschenk bittenden gedruckten Verslcins wieder ab. Außerdem hat der Zettel¬
träger noch mannichfache andre Verrichtungen vor und hinter der Bühne zu
besorgen. Mit der Zeit lernt er natürlich die gespielten Stücke aufs genaueste
kennen, und ist er sonst kein ungeschickter Bursche, so wird es gar nicht viele


Unter fahrenden Leuten.

der Irrwisch, das Mädchen im Turm u. s. w., oder solche etwas neuern
Datums, wie die von Kotzebue, Raupach u. a. — finden sich auch gewöhnliche
Repertoirestücke unsrer heutigen Bühnen, z. B. das Käthchen von Heilbronn,
der Freischütz und Preciosa (die letztern zwei als Schauspiel mit eingelegten
Gesängen) häufig vor. Außer diesen ist aber noch ein zahlreiches buntes
Gemisch von allem Möglichen vorhanden, das sich kaum klassisiziren läßt. Um
dies einigermaßen zu veranschaulichen, brauche ich nur Titel zu nennen wie Hamlet
oder die Komödie in der Komödie (in starker Anlehnung an Shakespeare,
nicht das alte deutsche Stück), Fridolin oder der Gang nach dem Eisenhammer
(nach der Holteischen Bearbeitung); Barbara Ubryk oder das Nonnengrab in
Krakau, Napoleon, Onkel Toms Hütte u. s. w. Ist es einem vergönnt, mit der
Zeit mehrere Handschriften desselben Stückes zu erlangen, so kann man leicht
sehen, wie es sich verändert; bisweilen liegen dem sonst von einer einzigen Hand
gleichmäßig geschriebenen Text einige besondre, von andrer Hand geschriebene
Blätter bei, die Einlagen zu dem Stücke bilden. Sie sind entweder frei aus
der dichtenden Phantasie des Prinzipals entsprungen, oder andern Stücken
— und unter diesen am meisten wieder den bekannten ältesten — oder auch
Anekdotensammlungen und ähnlichen Büchern entlehnt. Auch Streichungen sind
oft angebracht, längere ernste Szenen verkürzt, komischere durch eingestreute
Worte und Wendungen deutlicher herausgehoben. Ist auf diese Weise viel
geändert, so wird für eine neue Abschrift gesorgt, und in dieser ist dann äußerlich
von der umgestaltenden Arbeit nichts mehr zu merken. Solchen werdenden
Puppenkomödien kann man in großer Menge begegnen, ja ich glaube, sie bilden
bei weitem die größte Masse von den jetzt auf diesen Bühnen vorhandenen
Stücken.

Wenn Holtei in seinem schon erwähnten Roman den alten Puppenspieler
Dreher sagen läßt, daß seine Zunft im Aussterben begriffen sei und wohl nur noch
drei oder vier davon unter den Lebenden wären, so mag er Wohl Recht gehabt haben.
Mir ist wenigstens bisher kein einziger derartiger, einer Zunft entsprossener Komö¬
diant zu Gesicht gekommen. Natürlich sind damit auch die Zunftcigentümlichkeiten
geschwunden. Wie neue Prinzipale entstehen, ist sehr einfach. Jedes Theater
braucht einen Gehilfen; ist es nur klein, so genügt dazu schon eine einzige
Persönlichkeit, und dieser wird dann meist zugleich das nicht unwesentliche Amt
des Zettelträgers zugeschoben. Der Landbewohner weiß, wie freudig dieser
Zettelträger begrüßt wird. Er bringt die Programme der künftigen Vorstellung
zur Verteilung und holt zuletzt die sämtlichen, meist mit rührender Sorgfalt
vom Publikum aufbewahrten Zettel gegen Verabreichung eines kleinen, um ein
Geschenk bittenden gedruckten Verslcins wieder ab. Außerdem hat der Zettel¬
träger noch mannichfache andre Verrichtungen vor und hinter der Bühne zu
besorgen. Mit der Zeit lernt er natürlich die gespielten Stücke aufs genaueste
kennen, und ist er sonst kein ungeschickter Bursche, so wird es gar nicht viele


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/198>, abgerufen am 23.07.2024.