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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Zuckungen der Selbsthilfe des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts sich in
ihren geschichtlichen Wirkungen aufdrängt. Fortan ward er zur nüssi-g. von-
trilmöns xlsds. Duldend und schweigend stand er den Anforderungen seiner
Gutsherren gegenüber; mißtrauisch gegen jeden Annäherungsversuch der oberen
Stände, besonders seitdem Beamte und Geistliche dnrch die gelehrte Erziehung
oder die unvolkstümlichen Formen der Regierung und Rechtspflege ihm inner¬
lich entfremdet waren. In engen Kreis der Thätigkeit und der Teilnahme ge¬
bannt, verfiel er der Gefahr der Verrohung und Verdumpfung; die Gewandtheit
in seiner Umgebung und seiner Arbeit, die schlaue Berechnung und Festhaltung
seines Vorteils verband sich mit Eigensinn, wo man ihm drein reden wollte;
dann nahm er die Maske des ablehnenden Stumpfsinns vor. So erschien er
dem wohlwollenden Beobachter zu Ende des vorigen Jahrhunderts; so auch
noch vielfach, nachdem staatsbürgerliche Freiheit und Selbständigkeit den Bann
von ihm genommen hatte, bis in die Gegenwart. Nur eine Eigenschaft unsers
Volkscharakters früherer Zeiten blieb durch die lange Zeit der Erniedrigung,
des Schlafes aller bessern Züge uuverkümmert; sie vor allem ermöglicht eine
Gesundung des Volkes: die Arbeitsamkeit und UnVerdrossenheit in der Pflicht¬
erfüllung des täglichen Lebens, dazu die Genügsamkeit in der Beschränkung, die
aus der allgemeinen Verarmung seit dem dreißigjährigen Kriege und der Aus-
saugung des achtzehnten Jahrhunderts sich ergeben mußte. Der Volkshumor
des Mittelalters war zu Grunde gegangen, mit ihm die Volks- und Schützen¬
feste und Narrenfeste, er ist uns auch nicht wieder zu Teil geworden. Aber die
Nüchternheit und Philiströsität des Bürgers und Bauern wappnete sie statt
seiner gegen die Mühsale des Lebens. Und wenn ihm in der Heimat das Leben
gar nicht mehr möglich schien, so wanderte der Bauer "aus dem Reich," aus
dem schwäbischen, fränkischen oder oberrheinischen Kreise, wo am meisten kleine
Fürsten und Herren an ihm zapften, schweigend ans, nach Amerika, nach Ungarn
oder Rußland, um von den Früchten seines Fleißes auch etwas zu genießen.

Das völlige Darniederliegen jedes öffentlichen Geistes kann einen Teil
seiner Ursachen in den staatsrechtlichen Verhältnissen des deutschen Reiches
finden, das dem Namen nach noch immer als die äußere Form des deutschen
Volkes, richtiger der deutschen Staaten galt, obgleich es in greisenhafter Ver¬
knöcherung nur eine tote Hülse frühern Lebens mehr war. Was von vorwärts¬
strebender Kraft vorhanden war, mußte es beiseite liegen lassen und sich andre
Bahnen suchen. So warf sich die geistige Thätigkeit völlig auf den Erwerb
und Ausbau individueller Bildung, ohne jeden Zusammenhang mit den Formen
des öffentlichen Lebens. Langsam wurde eine nationale Bildung erreicht, die
auf ihrer höchsten Stufe sich etwas darauf zu Gute that, daß sie mit der Zeit
und dem Lande fast nichts mehr gemein hatte als die Sprache.

Noch während des dreißigjährigen Krieges begannen die Bestrebungen
wenigstens ein Band der nationalen Zusammengehörigkeit in der deutschen


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Zuckungen der Selbsthilfe des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts sich in
ihren geschichtlichen Wirkungen aufdrängt. Fortan ward er zur nüssi-g. von-
trilmöns xlsds. Duldend und schweigend stand er den Anforderungen seiner
Gutsherren gegenüber; mißtrauisch gegen jeden Annäherungsversuch der oberen
Stände, besonders seitdem Beamte und Geistliche dnrch die gelehrte Erziehung
oder die unvolkstümlichen Formen der Regierung und Rechtspflege ihm inner¬
lich entfremdet waren. In engen Kreis der Thätigkeit und der Teilnahme ge¬
bannt, verfiel er der Gefahr der Verrohung und Verdumpfung; die Gewandtheit
in seiner Umgebung und seiner Arbeit, die schlaue Berechnung und Festhaltung
seines Vorteils verband sich mit Eigensinn, wo man ihm drein reden wollte;
dann nahm er die Maske des ablehnenden Stumpfsinns vor. So erschien er
dem wohlwollenden Beobachter zu Ende des vorigen Jahrhunderts; so auch
noch vielfach, nachdem staatsbürgerliche Freiheit und Selbständigkeit den Bann
von ihm genommen hatte, bis in die Gegenwart. Nur eine Eigenschaft unsers
Volkscharakters früherer Zeiten blieb durch die lange Zeit der Erniedrigung,
des Schlafes aller bessern Züge uuverkümmert; sie vor allem ermöglicht eine
Gesundung des Volkes: die Arbeitsamkeit und UnVerdrossenheit in der Pflicht¬
erfüllung des täglichen Lebens, dazu die Genügsamkeit in der Beschränkung, die
aus der allgemeinen Verarmung seit dem dreißigjährigen Kriege und der Aus-
saugung des achtzehnten Jahrhunderts sich ergeben mußte. Der Volkshumor
des Mittelalters war zu Grunde gegangen, mit ihm die Volks- und Schützen¬
feste und Narrenfeste, er ist uns auch nicht wieder zu Teil geworden. Aber die
Nüchternheit und Philiströsität des Bürgers und Bauern wappnete sie statt
seiner gegen die Mühsale des Lebens. Und wenn ihm in der Heimat das Leben
gar nicht mehr möglich schien, so wanderte der Bauer „aus dem Reich," aus
dem schwäbischen, fränkischen oder oberrheinischen Kreise, wo am meisten kleine
Fürsten und Herren an ihm zapften, schweigend ans, nach Amerika, nach Ungarn
oder Rußland, um von den Früchten seines Fleißes auch etwas zu genießen.

Das völlige Darniederliegen jedes öffentlichen Geistes kann einen Teil
seiner Ursachen in den staatsrechtlichen Verhältnissen des deutschen Reiches
finden, das dem Namen nach noch immer als die äußere Form des deutschen
Volkes, richtiger der deutschen Staaten galt, obgleich es in greisenhafter Ver¬
knöcherung nur eine tote Hülse frühern Lebens mehr war. Was von vorwärts¬
strebender Kraft vorhanden war, mußte es beiseite liegen lassen und sich andre
Bahnen suchen. So warf sich die geistige Thätigkeit völlig auf den Erwerb
und Ausbau individueller Bildung, ohne jeden Zusammenhang mit den Formen
des öffentlichen Lebens. Langsam wurde eine nationale Bildung erreicht, die
auf ihrer höchsten Stufe sich etwas darauf zu Gute that, daß sie mit der Zeit
und dem Lande fast nichts mehr gemein hatte als die Sprache.

Noch während des dreißigjährigen Krieges begannen die Bestrebungen
wenigstens ein Band der nationalen Zusammengehörigkeit in der deutschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/171>, abgerufen am 23.07.2024.