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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Unter fahrenden Leuten.

kleiner, freundlicher alter Mann schlüpft hervor und setzt sich an das Klavier,
und unter seiner Hand erklingt von den verstimmten, scharf tönenden Saiten
eine aus Großvaters Jugend stammende Polka. Nach mehrfachen eintönige"
Wiederholungen, in denen sich der Spieler mit sichtlichem Wohlbehagen ergeht,
hört er endlich auf, tritt vorn an die Bühne, nimmt seine kleine, graue Mütze
ab und verkündet mit weicher, aber lauter Stimme den Beginn der Vorstellung,
vergißt auch nicht, vorher noch die liebe Jugend zur Ruhe zu ernähren, damit
sie alle den Sinn des Stückes richtig verstehen. Die Klingel ertönt, und in
die Höhe schwebt die rote Wand, die uns von dem Wunderbaren trennte.

Ja, das mußten wir uns gestehen, als es aus war: das war etwas Wunder¬
bares; es war beinahe das Wunderbarste, was wir je gesehen hatten, und sicher das
Seltenste und Schönste von dem ganzen Tage. Keines von uns dachte da an
Puppen und Fäden und Drähte. Für uns waren das nur lebende Wesen wie
wir! Vor allem dieser kleine lustige Mensch, den sie Kaspar riefen! Der be¬
wegte sich doch gar zu behend und geschickt, ja er machte wirklich den Mund
auf, wenn er sprach, und lachte und verdrehte die Augen und hüpfte so lustig
in die Luft, wenn er sich freute! Der war uns aber auch von allen der liebste,
viel lieber als jener andre schwarze Mann, der sein Herr war und den er nur
immer Pflaumenmus, mein liebes Pflaumenmuselchen nannte. Der kam uns gar
zu dumm und albern vor. Aber auch der ernste, unheimliche Doktor selber, der
soviel sprach, was wir nicht verstanden (es mußte auch von einer fremden
Sprache darunter sein) und in dessen Rolle der unsichtbare Spieler hinter den
Kulissen immer am wohllautendsten und eindringlichsten deklamirte, auch dieser
gefiel uns nicht so wie jene lustige kleine Person, der Kaspar. Und wir freuten
uns darum auch von ganzem Herzen, wenn es ihm gut ging, und waren
betrübt, wenn es ihm schlecht ging. Ja wenn das Pferd oder der Drache kam
und ihn stieß oder gar beim Reiten abwarf, da hörte man wohl auch manchen
von den kleinen Zuschauern in ein ängstliches Weinen ausbrechen, das die er¬
wachsenen Nachbarn nnr mit Mühe dnrch allerhand Liebkosungen wieder zu stillen
vermochten. Und es hatte doch gewiß auch eine besondre Bewandtnis mit diesem
kleinen Menschen. Kam er denn nicht immer wieder in jedem Stück, das wir
dort sahen? Und wie er sich stets zu helfen wußte! Wie beherzt stand er gar
dem bösen roten Teufel gegenüber, vor dem selbst der mächtige Doktor zitterte!
Kurz, man mußte dem braven Burschen gut sein, und die kleine Schnur geizte
auch nicht, wenn der Vorhang herunter war, ihm mit ihren kleinen Händchen
ihre Liebe und Verehrung zu beweisen. Ja, das war eine fröhliche, selige,
gnadenbringendc Weihnachtszeit, wie das alte Lied sagt, und was das Schönste
war, der Schreiber dieser Zeilen hat sie auch mit erlebt, ist selbst mit in jenen
Räumen gewesen, hat selbst mit auf jenen alten Bänken vor dem roten Vor¬
hänge gesessen, hat selbst das schrille, klirrende Stimmchen des alten Klaviers
gehört und manches Jahr oben die Puppen auf der Bühne agiren sehen. Und


Unter fahrenden Leuten.

kleiner, freundlicher alter Mann schlüpft hervor und setzt sich an das Klavier,
und unter seiner Hand erklingt von den verstimmten, scharf tönenden Saiten
eine aus Großvaters Jugend stammende Polka. Nach mehrfachen eintönige»
Wiederholungen, in denen sich der Spieler mit sichtlichem Wohlbehagen ergeht,
hört er endlich auf, tritt vorn an die Bühne, nimmt seine kleine, graue Mütze
ab und verkündet mit weicher, aber lauter Stimme den Beginn der Vorstellung,
vergißt auch nicht, vorher noch die liebe Jugend zur Ruhe zu ernähren, damit
sie alle den Sinn des Stückes richtig verstehen. Die Klingel ertönt, und in
die Höhe schwebt die rote Wand, die uns von dem Wunderbaren trennte.

Ja, das mußten wir uns gestehen, als es aus war: das war etwas Wunder¬
bares; es war beinahe das Wunderbarste, was wir je gesehen hatten, und sicher das
Seltenste und Schönste von dem ganzen Tage. Keines von uns dachte da an
Puppen und Fäden und Drähte. Für uns waren das nur lebende Wesen wie
wir! Vor allem dieser kleine lustige Mensch, den sie Kaspar riefen! Der be¬
wegte sich doch gar zu behend und geschickt, ja er machte wirklich den Mund
auf, wenn er sprach, und lachte und verdrehte die Augen und hüpfte so lustig
in die Luft, wenn er sich freute! Der war uns aber auch von allen der liebste,
viel lieber als jener andre schwarze Mann, der sein Herr war und den er nur
immer Pflaumenmus, mein liebes Pflaumenmuselchen nannte. Der kam uns gar
zu dumm und albern vor. Aber auch der ernste, unheimliche Doktor selber, der
soviel sprach, was wir nicht verstanden (es mußte auch von einer fremden
Sprache darunter sein) und in dessen Rolle der unsichtbare Spieler hinter den
Kulissen immer am wohllautendsten und eindringlichsten deklamirte, auch dieser
gefiel uns nicht so wie jene lustige kleine Person, der Kaspar. Und wir freuten
uns darum auch von ganzem Herzen, wenn es ihm gut ging, und waren
betrübt, wenn es ihm schlecht ging. Ja wenn das Pferd oder der Drache kam
und ihn stieß oder gar beim Reiten abwarf, da hörte man wohl auch manchen
von den kleinen Zuschauern in ein ängstliches Weinen ausbrechen, das die er¬
wachsenen Nachbarn nnr mit Mühe dnrch allerhand Liebkosungen wieder zu stillen
vermochten. Und es hatte doch gewiß auch eine besondre Bewandtnis mit diesem
kleinen Menschen. Kam er denn nicht immer wieder in jedem Stück, das wir
dort sahen? Und wie er sich stets zu helfen wußte! Wie beherzt stand er gar
dem bösen roten Teufel gegenüber, vor dem selbst der mächtige Doktor zitterte!
Kurz, man mußte dem braven Burschen gut sein, und die kleine Schnur geizte
auch nicht, wenn der Vorhang herunter war, ihm mit ihren kleinen Händchen
ihre Liebe und Verehrung zu beweisen. Ja, das war eine fröhliche, selige,
gnadenbringendc Weihnachtszeit, wie das alte Lied sagt, und was das Schönste
war, der Schreiber dieser Zeilen hat sie auch mit erlebt, ist selbst mit in jenen
Räumen gewesen, hat selbst mit auf jenen alten Bänken vor dem roten Vor¬
hänge gesessen, hat selbst das schrille, klirrende Stimmchen des alten Klaviers
gehört und manches Jahr oben die Puppen auf der Bühne agiren sehen. Und


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[0150] Unter fahrenden Leuten. kleiner, freundlicher alter Mann schlüpft hervor und setzt sich an das Klavier, und unter seiner Hand erklingt von den verstimmten, scharf tönenden Saiten eine aus Großvaters Jugend stammende Polka. Nach mehrfachen eintönige» Wiederholungen, in denen sich der Spieler mit sichtlichem Wohlbehagen ergeht, hört er endlich auf, tritt vorn an die Bühne, nimmt seine kleine, graue Mütze ab und verkündet mit weicher, aber lauter Stimme den Beginn der Vorstellung, vergißt auch nicht, vorher noch die liebe Jugend zur Ruhe zu ernähren, damit sie alle den Sinn des Stückes richtig verstehen. Die Klingel ertönt, und in die Höhe schwebt die rote Wand, die uns von dem Wunderbaren trennte. Ja, das mußten wir uns gestehen, als es aus war: das war etwas Wunder¬ bares; es war beinahe das Wunderbarste, was wir je gesehen hatten, und sicher das Seltenste und Schönste von dem ganzen Tage. Keines von uns dachte da an Puppen und Fäden und Drähte. Für uns waren das nur lebende Wesen wie wir! Vor allem dieser kleine lustige Mensch, den sie Kaspar riefen! Der be¬ wegte sich doch gar zu behend und geschickt, ja er machte wirklich den Mund auf, wenn er sprach, und lachte und verdrehte die Augen und hüpfte so lustig in die Luft, wenn er sich freute! Der war uns aber auch von allen der liebste, viel lieber als jener andre schwarze Mann, der sein Herr war und den er nur immer Pflaumenmus, mein liebes Pflaumenmuselchen nannte. Der kam uns gar zu dumm und albern vor. Aber auch der ernste, unheimliche Doktor selber, der soviel sprach, was wir nicht verstanden (es mußte auch von einer fremden Sprache darunter sein) und in dessen Rolle der unsichtbare Spieler hinter den Kulissen immer am wohllautendsten und eindringlichsten deklamirte, auch dieser gefiel uns nicht so wie jene lustige kleine Person, der Kaspar. Und wir freuten uns darum auch von ganzem Herzen, wenn es ihm gut ging, und waren betrübt, wenn es ihm schlecht ging. Ja wenn das Pferd oder der Drache kam und ihn stieß oder gar beim Reiten abwarf, da hörte man wohl auch manchen von den kleinen Zuschauern in ein ängstliches Weinen ausbrechen, das die er¬ wachsenen Nachbarn nnr mit Mühe dnrch allerhand Liebkosungen wieder zu stillen vermochten. Und es hatte doch gewiß auch eine besondre Bewandtnis mit diesem kleinen Menschen. Kam er denn nicht immer wieder in jedem Stück, das wir dort sahen? Und wie er sich stets zu helfen wußte! Wie beherzt stand er gar dem bösen roten Teufel gegenüber, vor dem selbst der mächtige Doktor zitterte! Kurz, man mußte dem braven Burschen gut sein, und die kleine Schnur geizte auch nicht, wenn der Vorhang herunter war, ihm mit ihren kleinen Händchen ihre Liebe und Verehrung zu beweisen. Ja, das war eine fröhliche, selige, gnadenbringendc Weihnachtszeit, wie das alte Lied sagt, und was das Schönste war, der Schreiber dieser Zeilen hat sie auch mit erlebt, ist selbst mit in jenen Räumen gewesen, hat selbst mit auf jenen alten Bänken vor dem roten Vor¬ hänge gesessen, hat selbst das schrille, klirrende Stimmchen des alten Klaviers gehört und manches Jahr oben die Puppen auf der Bühne agiren sehen. Und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/150>, abgerufen am 25.08.2024.