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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Therese Raquin.

die Anforderung, daß die Kunst vor allem wahr sei, stellen doch nur die
Wenigsten. Besonders erstaunlich ist es, welches Maß von langweiligem
Bombast, von Übertreibung und Schwulst man einem deutschen Publikum nach
wie vor in Versen aufbinden kann. In "Therese Raquin" sind wir, obwohl das
Zusammenleben des schuldigen Paares die peinlichen Schrecken des "Macbeth"
mitunter noch überbot, mit Teilnahme und nicht ohne ästhetische Befriedigung
dem Gange des Stückes gefolgt, weil die Gestalten ihre eigne natürliche Sprache
redeten, weil vieles mit bewundernswerter Genauigkeit der Wirklichkeit abge¬
lauscht, weil die Begründung logisch und voll dramatischen Lebens, weil die
Charakteristik überaus reich und gelungen war. Nur der Schluß, wo die vom
Schlage gelähmte Frau im gegebenen Augenblick ihre Sprache und ihre Be¬
weglichkeit, soweit der Dichter es braucht, wiedererlangt, erschien uns als un¬
wahr, da wir das Glück oder das Unglück hatten, das medizinische Staats¬
examen gemacht zu haben. Dergleichen kommt nicht vor. Im übrigen mußte
die Handlung jedem, der dem Studium des menschlichen Herzens ernstlich nach¬
geht, von hoher Bedeutung sein, und die ablehnende Haltung unsers Publikums
dürfte lediglich den Beweis liefern, daß es noch immer durch die Vorgänge
allein, nicht durch ihre Begründung, durch ihre dramatische Notwendigkeit und
Wahrheit sich fesseln oder abstoßen läßt, daß in Bezug auf die Übereinstimmung
zwischen Form und Stoff sein Urteil noch immer haltlos umherschwankt. Wie
es Leute giebt, die bei vollkommen ungeschmälerter Empfänglichkeit das leicht¬
fertigste Buch lesen können, ohne etwas andres dabei zu empfinden, als die
Feinheit des Witzes und die Reinheit des Stils, mit der es geschrieben worden,
so werden Rohere in "Therese Raquin" nichts weiter sehen als eine Häufung von
Gemeinheit und Verbrechen, das künstlerische Problem an sich wird ihnen durch¬
aus gleichgiltig bleiben. Nur in einem Sinne ist diese Teilnahmlosigkeit er¬
freulich; Hütte das Stück heute einen großen Zulauf gehabt, so hätte das sicher
nicht auf eine plötzliche Steigerung künstlerischen Verständnisses, sondern jeden¬
falls nur aus die Unfähigkeit hingedeutet, sich an harmloseren Unterhaltungen
zu vergnügen. Man hätte "Therese Raquin" aufgesucht, wie ein Tertianer die
unsauberen Stellen in der Bibel nachliest, ohne von dem hohen Ernst dieses
unvergleichlichen Buches eine Ahnung zu haben.

Zum Schluß möchten wir noch einen Punkt erwähnen, nur um ihn er¬
wähnt zu haben, das ist der Widerspruch zwischen der augenscheinlichen Herzens¬
härte der Schuldigen und ihrer späteren Gewissensqual. Dies ist auch der
Punkt, wo der Vergleich mit Macbeth schief wird. Macbeth war ein Held,
ein Großer der Erde, und er erjagte sich eine Krone; sein Weib war das ehr¬
geizigste Geschöpf, das je einen Mann zu grausamer Energie gespornt hat; der¬
gleichen ist, wenn auch nicht verzeihlich, doch immerhin begründet. Wie kommt
aber ein Kleinbürger, der niemals seine Seele mit hohen Gedanken genährt hat,
wie kommt er dazu, einen andern zu Gunsten seiner eignen, persönlichen, jämmer-


Therese Raquin.

die Anforderung, daß die Kunst vor allem wahr sei, stellen doch nur die
Wenigsten. Besonders erstaunlich ist es, welches Maß von langweiligem
Bombast, von Übertreibung und Schwulst man einem deutschen Publikum nach
wie vor in Versen aufbinden kann. In „Therese Raquin" sind wir, obwohl das
Zusammenleben des schuldigen Paares die peinlichen Schrecken des „Macbeth"
mitunter noch überbot, mit Teilnahme und nicht ohne ästhetische Befriedigung
dem Gange des Stückes gefolgt, weil die Gestalten ihre eigne natürliche Sprache
redeten, weil vieles mit bewundernswerter Genauigkeit der Wirklichkeit abge¬
lauscht, weil die Begründung logisch und voll dramatischen Lebens, weil die
Charakteristik überaus reich und gelungen war. Nur der Schluß, wo die vom
Schlage gelähmte Frau im gegebenen Augenblick ihre Sprache und ihre Be¬
weglichkeit, soweit der Dichter es braucht, wiedererlangt, erschien uns als un¬
wahr, da wir das Glück oder das Unglück hatten, das medizinische Staats¬
examen gemacht zu haben. Dergleichen kommt nicht vor. Im übrigen mußte
die Handlung jedem, der dem Studium des menschlichen Herzens ernstlich nach¬
geht, von hoher Bedeutung sein, und die ablehnende Haltung unsers Publikums
dürfte lediglich den Beweis liefern, daß es noch immer durch die Vorgänge
allein, nicht durch ihre Begründung, durch ihre dramatische Notwendigkeit und
Wahrheit sich fesseln oder abstoßen läßt, daß in Bezug auf die Übereinstimmung
zwischen Form und Stoff sein Urteil noch immer haltlos umherschwankt. Wie
es Leute giebt, die bei vollkommen ungeschmälerter Empfänglichkeit das leicht¬
fertigste Buch lesen können, ohne etwas andres dabei zu empfinden, als die
Feinheit des Witzes und die Reinheit des Stils, mit der es geschrieben worden,
so werden Rohere in „Therese Raquin" nichts weiter sehen als eine Häufung von
Gemeinheit und Verbrechen, das künstlerische Problem an sich wird ihnen durch¬
aus gleichgiltig bleiben. Nur in einem Sinne ist diese Teilnahmlosigkeit er¬
freulich; Hütte das Stück heute einen großen Zulauf gehabt, so hätte das sicher
nicht auf eine plötzliche Steigerung künstlerischen Verständnisses, sondern jeden¬
falls nur aus die Unfähigkeit hingedeutet, sich an harmloseren Unterhaltungen
zu vergnügen. Man hätte „Therese Raquin" aufgesucht, wie ein Tertianer die
unsauberen Stellen in der Bibel nachliest, ohne von dem hohen Ernst dieses
unvergleichlichen Buches eine Ahnung zu haben.

Zum Schluß möchten wir noch einen Punkt erwähnen, nur um ihn er¬
wähnt zu haben, das ist der Widerspruch zwischen der augenscheinlichen Herzens¬
härte der Schuldigen und ihrer späteren Gewissensqual. Dies ist auch der
Punkt, wo der Vergleich mit Macbeth schief wird. Macbeth war ein Held,
ein Großer der Erde, und er erjagte sich eine Krone; sein Weib war das ehr¬
geizigste Geschöpf, das je einen Mann zu grausamer Energie gespornt hat; der¬
gleichen ist, wenn auch nicht verzeihlich, doch immerhin begründet. Wie kommt
aber ein Kleinbürger, der niemals seine Seele mit hohen Gedanken genährt hat,
wie kommt er dazu, einen andern zu Gunsten seiner eignen, persönlichen, jämmer-


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[0147] Therese Raquin. die Anforderung, daß die Kunst vor allem wahr sei, stellen doch nur die Wenigsten. Besonders erstaunlich ist es, welches Maß von langweiligem Bombast, von Übertreibung und Schwulst man einem deutschen Publikum nach wie vor in Versen aufbinden kann. In „Therese Raquin" sind wir, obwohl das Zusammenleben des schuldigen Paares die peinlichen Schrecken des „Macbeth" mitunter noch überbot, mit Teilnahme und nicht ohne ästhetische Befriedigung dem Gange des Stückes gefolgt, weil die Gestalten ihre eigne natürliche Sprache redeten, weil vieles mit bewundernswerter Genauigkeit der Wirklichkeit abge¬ lauscht, weil die Begründung logisch und voll dramatischen Lebens, weil die Charakteristik überaus reich und gelungen war. Nur der Schluß, wo die vom Schlage gelähmte Frau im gegebenen Augenblick ihre Sprache und ihre Be¬ weglichkeit, soweit der Dichter es braucht, wiedererlangt, erschien uns als un¬ wahr, da wir das Glück oder das Unglück hatten, das medizinische Staats¬ examen gemacht zu haben. Dergleichen kommt nicht vor. Im übrigen mußte die Handlung jedem, der dem Studium des menschlichen Herzens ernstlich nach¬ geht, von hoher Bedeutung sein, und die ablehnende Haltung unsers Publikums dürfte lediglich den Beweis liefern, daß es noch immer durch die Vorgänge allein, nicht durch ihre Begründung, durch ihre dramatische Notwendigkeit und Wahrheit sich fesseln oder abstoßen läßt, daß in Bezug auf die Übereinstimmung zwischen Form und Stoff sein Urteil noch immer haltlos umherschwankt. Wie es Leute giebt, die bei vollkommen ungeschmälerter Empfänglichkeit das leicht¬ fertigste Buch lesen können, ohne etwas andres dabei zu empfinden, als die Feinheit des Witzes und die Reinheit des Stils, mit der es geschrieben worden, so werden Rohere in „Therese Raquin" nichts weiter sehen als eine Häufung von Gemeinheit und Verbrechen, das künstlerische Problem an sich wird ihnen durch¬ aus gleichgiltig bleiben. Nur in einem Sinne ist diese Teilnahmlosigkeit er¬ freulich; Hütte das Stück heute einen großen Zulauf gehabt, so hätte das sicher nicht auf eine plötzliche Steigerung künstlerischen Verständnisses, sondern jeden¬ falls nur aus die Unfähigkeit hingedeutet, sich an harmloseren Unterhaltungen zu vergnügen. Man hätte „Therese Raquin" aufgesucht, wie ein Tertianer die unsauberen Stellen in der Bibel nachliest, ohne von dem hohen Ernst dieses unvergleichlichen Buches eine Ahnung zu haben. Zum Schluß möchten wir noch einen Punkt erwähnen, nur um ihn er¬ wähnt zu haben, das ist der Widerspruch zwischen der augenscheinlichen Herzens¬ härte der Schuldigen und ihrer späteren Gewissensqual. Dies ist auch der Punkt, wo der Vergleich mit Macbeth schief wird. Macbeth war ein Held, ein Großer der Erde, und er erjagte sich eine Krone; sein Weib war das ehr¬ geizigste Geschöpf, das je einen Mann zu grausamer Energie gespornt hat; der¬ gleichen ist, wenn auch nicht verzeihlich, doch immerhin begründet. Wie kommt aber ein Kleinbürger, der niemals seine Seele mit hohen Gedanken genährt hat, wie kommt er dazu, einen andern zu Gunsten seiner eignen, persönlichen, jämmer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/147>, abgerufen am 23.07.2024.