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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Trotz, fast als innere Wildheit. Auch der Zug der Verschlagenheit, der absicht¬
lichen Täuschung fehlt nicht, den die Römer Treulosigkeit nannten, wenn sie
ihm bei andern Völkern begegneten: wie Armiuius durch List und Täuschung
den Varus ins Verderben lockte, so Kriemhild die Burgunder, oder ähnlich die
Kudrun die böse Gerlinde. Bei Hagen steht der Treue gegen seine Könige die
Treulosigkeit gegen Siegfried oder Kriemhilde gegenüber.

In der Wirklichkeit freilich ist die Treue gegen den Lehnsherrn oder den
selbstgewählten König nicht so unbedingt herrschend wie in der geschlossenen
Dichtung; eine vermeintliche Kränkung, die Empfindlichkeit über Zurücksetzung,
ein leidenschaftliches Begehren nach einem Vorteile oder die Anfstnchelung
andrer genügt, um den Vasallen gegen den Lehnsherrn, den Bruder gegen den
Bruder, ja den Sohn und Nachfolger gegen den Vater zu offner Empörung
zu treiben, selbst bei geringster Aussicht auf Erfolg. So sehr wiegt der
nationale Charakterzug des Individualismus, der eigenwilligen Leidenschaft vor
der Idee der Pflicht, des dynastischen Interesses, wie noch vielmehr vor der
des Vaterlands oder der Nachwelt oder vor verständiger Erwägung. Das
giebt der innern Geschichte der Kaiserzeit den rein persönlichen Gehalt, etwa
verglichen mit der Konsegnenz der päpstlichen Politik.

Die innere Sonderung des Kriegerstandes von der Masse des erwerbenden
Volkes erreichte ihre Höhe in der Ausbildung des Rittertums, eigentlich der
Ritterschaft. Dieses selbst, wenn es auch eine allgemeine westenrvpäische Er¬
scheinung ist, geht doch in seinen Hauptzügen, in seinen psychologischen Voraus¬
setzungen auf germanische Eigentümlichkeiten zurück, deren Aufkommen nnter
romanischen Mischbevölkcruugcn ans Eindringen germanischer Volkstcile zu setzen
ist. stammte doch der Adel in Gallien, Italien und Spanien fast ausschließlich
von normännischen, fränkischem, gotischen, langvbardischcn Eindringlingen ab.
Die Frende am Kampf um seiner selbst willen, der Zweikampf, die Wertschätzung
persönlicher Tapferkeit unter Verschmähung taktischer Vorteile hat nichts mit
dem römischen Wesen zu thun, nur mit keltisch-gallischen Sitten kann man eine
Ähnlichkeit ausfindig mache" wollen.

Das Rittertum, dort, wo der nationale Gegensatz gegen die untern Stände
zu seiner schroffen Ausbildung noch beitrug, ausgebildet, das auch in seineu
Lebensansichten, seiner Bildung und seinen Stcindesidealeu nach Deutschland
als ausländische Mode eindrang, konnte demnach nationalen Besonderheiten nicht
freundlich und begüttstigeud gegenüberstehen; dies zeigt sich schon vor allem
darin, daß die Dichter, welche auf seinein Boden standen, den einheimischen,
volkstümlichen, epische" Sagenstoffen keinen Geschmack mehr abzugewinnen
wußten, vielmehr den ausländischen, weit tiefer stehende" Feen- und Wunder¬
märchen sich Hingaben.

Indem um das Rittertum auf das ganze Leben den Bann der Konvention,
des standesgemäßen legte, war es unstreitig doch auch geeignet, auf die hei-


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Trotz, fast als innere Wildheit. Auch der Zug der Verschlagenheit, der absicht¬
lichen Täuschung fehlt nicht, den die Römer Treulosigkeit nannten, wenn sie
ihm bei andern Völkern begegneten: wie Armiuius durch List und Täuschung
den Varus ins Verderben lockte, so Kriemhild die Burgunder, oder ähnlich die
Kudrun die böse Gerlinde. Bei Hagen steht der Treue gegen seine Könige die
Treulosigkeit gegen Siegfried oder Kriemhilde gegenüber.

In der Wirklichkeit freilich ist die Treue gegen den Lehnsherrn oder den
selbstgewählten König nicht so unbedingt herrschend wie in der geschlossenen
Dichtung; eine vermeintliche Kränkung, die Empfindlichkeit über Zurücksetzung,
ein leidenschaftliches Begehren nach einem Vorteile oder die Anfstnchelung
andrer genügt, um den Vasallen gegen den Lehnsherrn, den Bruder gegen den
Bruder, ja den Sohn und Nachfolger gegen den Vater zu offner Empörung
zu treiben, selbst bei geringster Aussicht auf Erfolg. So sehr wiegt der
nationale Charakterzug des Individualismus, der eigenwilligen Leidenschaft vor
der Idee der Pflicht, des dynastischen Interesses, wie noch vielmehr vor der
des Vaterlands oder der Nachwelt oder vor verständiger Erwägung. Das
giebt der innern Geschichte der Kaiserzeit den rein persönlichen Gehalt, etwa
verglichen mit der Konsegnenz der päpstlichen Politik.

Die innere Sonderung des Kriegerstandes von der Masse des erwerbenden
Volkes erreichte ihre Höhe in der Ausbildung des Rittertums, eigentlich der
Ritterschaft. Dieses selbst, wenn es auch eine allgemeine westenrvpäische Er¬
scheinung ist, geht doch in seinen Hauptzügen, in seinen psychologischen Voraus¬
setzungen auf germanische Eigentümlichkeiten zurück, deren Aufkommen nnter
romanischen Mischbevölkcruugcn ans Eindringen germanischer Volkstcile zu setzen
ist. stammte doch der Adel in Gallien, Italien und Spanien fast ausschließlich
von normännischen, fränkischem, gotischen, langvbardischcn Eindringlingen ab.
Die Frende am Kampf um seiner selbst willen, der Zweikampf, die Wertschätzung
persönlicher Tapferkeit unter Verschmähung taktischer Vorteile hat nichts mit
dem römischen Wesen zu thun, nur mit keltisch-gallischen Sitten kann man eine
Ähnlichkeit ausfindig mache» wollen.

Das Rittertum, dort, wo der nationale Gegensatz gegen die untern Stände
zu seiner schroffen Ausbildung noch beitrug, ausgebildet, das auch in seineu
Lebensansichten, seiner Bildung und seinen Stcindesidealeu nach Deutschland
als ausländische Mode eindrang, konnte demnach nationalen Besonderheiten nicht
freundlich und begüttstigeud gegenüberstehen; dies zeigt sich schon vor allem
darin, daß die Dichter, welche auf seinein Boden standen, den einheimischen,
volkstümlichen, epische» Sagenstoffen keinen Geschmack mehr abzugewinnen
wußten, vielmehr den ausländischen, weit tiefer stehende» Feen- und Wunder¬
märchen sich Hingaben.

Indem um das Rittertum auf das ganze Leben den Bann der Konvention,
des standesgemäßen legte, war es unstreitig doch auch geeignet, auf die hei-


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[0125] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. Trotz, fast als innere Wildheit. Auch der Zug der Verschlagenheit, der absicht¬ lichen Täuschung fehlt nicht, den die Römer Treulosigkeit nannten, wenn sie ihm bei andern Völkern begegneten: wie Armiuius durch List und Täuschung den Varus ins Verderben lockte, so Kriemhild die Burgunder, oder ähnlich die Kudrun die böse Gerlinde. Bei Hagen steht der Treue gegen seine Könige die Treulosigkeit gegen Siegfried oder Kriemhilde gegenüber. In der Wirklichkeit freilich ist die Treue gegen den Lehnsherrn oder den selbstgewählten König nicht so unbedingt herrschend wie in der geschlossenen Dichtung; eine vermeintliche Kränkung, die Empfindlichkeit über Zurücksetzung, ein leidenschaftliches Begehren nach einem Vorteile oder die Anfstnchelung andrer genügt, um den Vasallen gegen den Lehnsherrn, den Bruder gegen den Bruder, ja den Sohn und Nachfolger gegen den Vater zu offner Empörung zu treiben, selbst bei geringster Aussicht auf Erfolg. So sehr wiegt der nationale Charakterzug des Individualismus, der eigenwilligen Leidenschaft vor der Idee der Pflicht, des dynastischen Interesses, wie noch vielmehr vor der des Vaterlands oder der Nachwelt oder vor verständiger Erwägung. Das giebt der innern Geschichte der Kaiserzeit den rein persönlichen Gehalt, etwa verglichen mit der Konsegnenz der päpstlichen Politik. Die innere Sonderung des Kriegerstandes von der Masse des erwerbenden Volkes erreichte ihre Höhe in der Ausbildung des Rittertums, eigentlich der Ritterschaft. Dieses selbst, wenn es auch eine allgemeine westenrvpäische Er¬ scheinung ist, geht doch in seinen Hauptzügen, in seinen psychologischen Voraus¬ setzungen auf germanische Eigentümlichkeiten zurück, deren Aufkommen nnter romanischen Mischbevölkcruugcn ans Eindringen germanischer Volkstcile zu setzen ist. stammte doch der Adel in Gallien, Italien und Spanien fast ausschließlich von normännischen, fränkischem, gotischen, langvbardischcn Eindringlingen ab. Die Frende am Kampf um seiner selbst willen, der Zweikampf, die Wertschätzung persönlicher Tapferkeit unter Verschmähung taktischer Vorteile hat nichts mit dem römischen Wesen zu thun, nur mit keltisch-gallischen Sitten kann man eine Ähnlichkeit ausfindig mache» wollen. Das Rittertum, dort, wo der nationale Gegensatz gegen die untern Stände zu seiner schroffen Ausbildung noch beitrug, ausgebildet, das auch in seineu Lebensansichten, seiner Bildung und seinen Stcindesidealeu nach Deutschland als ausländische Mode eindrang, konnte demnach nationalen Besonderheiten nicht freundlich und begüttstigeud gegenüberstehen; dies zeigt sich schon vor allem darin, daß die Dichter, welche auf seinein Boden standen, den einheimischen, volkstümlichen, epische» Sagenstoffen keinen Geschmack mehr abzugewinnen wußten, vielmehr den ausländischen, weit tiefer stehende» Feen- und Wunder¬ märchen sich Hingaben. Indem um das Rittertum auf das ganze Leben den Bann der Konvention, des standesgemäßen legte, war es unstreitig doch auch geeignet, auf die hei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/125>, abgerufen am 23.07.2024.