Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr."Line christliche Ästhetik. er neue Verhältnisse, neue Verfassungen! Und doch ist er im Reiche der Wir zählen zu unsrer zweiten Kategorie alles dasjenige, was eigentlich Thatsächlich muß nach unsrer Voraussetzung alles, also auch das gewöhn¬ «Line christliche Ästhetik. er neue Verhältnisse, neue Verfassungen! Und doch ist er im Reiche der Wir zählen zu unsrer zweiten Kategorie alles dasjenige, was eigentlich Thatsächlich muß nach unsrer Voraussetzung alles, also auch das gewöhn¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0091" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200196"/> <fw type="header" place="top"> «Line christliche Ästhetik.</fw><lb/> <p xml:id="ID_258" prev="#ID_257"> er neue Verhältnisse, neue Verfassungen! Und doch ist er im Reiche der<lb/> Schönheit. Ist dies Reich etwa nur ein Schcinreich, und ist es etwa nur jene<lb/> eine Provinz, die sich ohne jede Berechtigung anmaßt, dem Ganzen den Titel<lb/> zu geben? Oder giebt es hier gar keine wirkliche einheitliche Regierung, die<lb/> dafür sorgt, daß man ihr Wappen nicht bloß äußerlich überall an den Thoren<lb/> angeschlagen finde? Freilich, die Führer sind so ungeheuer sicher; sie stolpern<lb/> nie, mit einem tüchtigen Sprunge und einem neuen Kapitel sind sie sofort auf<lb/> anderm Gebiete und fangen sofort wieder an zu definiren, mitunter sehr geist¬<lb/> reich und treffend, aber ohne das allermindeste Bedenken, daß sie damit ihrer<lb/> frühern Wegweisung und somit sich selbst ins Gesicht schlagen. Der Neuling<lb/> aber will seinen Weg kennen; stolpern kann er allein. Und so mag es kommen,<lb/> daß er meist lieber auf eigne Hand im Reiche der Schönheit herumspringt und<lb/> seine eignen Bockssprünge als Cicerone ausgeben zu können glaubt. Wenigstens<lb/> zum großen Teile mag es daher kommen. Sicherlich beruht auf der geringen<lb/> Einheitlichkeit und Geschlossenheit, auf der oft leider so hervorstechenden Zer-<lb/> flossenheit und Vielfarbigkeit ihrer Methode der geringe Kredit der ästhetischen<lb/> Führer.</p><lb/> <p xml:id="ID_259"> Wir zählen zu unsrer zweiten Kategorie alles dasjenige, was eigentlich<lb/> mißfallen sollte und doch gefällt, oder genauer: was als Erscheinung mißfällt,<lb/> durch die Art des „in Erscheinung tretcns" aber gefällt. Das schlechthin<lb/> Wohlgefällige der ersten Kategorie konnten wir leicht als „schön" bezeichnen.<lb/> Die wohlgefällige Gestalt (im weitesten Sinne, ob in Natur oder Abbild, be¬<lb/> deutet hierfür gleichviel) ist schön; eine wohlgefällige, durch keinen, auch nicht<lb/> den geringsten unbefriedigender Fortschritt unterbrochene Reihe von Tönen, oder<lb/> eine solche von lauter reinen Harmonien ist schön; eine befriedigende Folge ge¬<lb/> fälliger Bilder und Empfindungen in wohllautender Sprache ist schön. Aber<lb/> die Mißgestalt, die Schreckensgcstalt, ist sie schön? Ein jäher Sprung von Ton<lb/> zu Ton, eine Dissonanz, sind sie schön? Unangenehme Bilder und Empfin¬<lb/> dungen, in abgebrochenen, stammelnden Lauten ausgedrückt, wirken sie schön?<lb/> Hier haben wir sie, unsre urgründliche Verlegenheit. Das ists, was uns stets<lb/> aus dem Gleichgewicht brachte, wenn wir in den Kompendien der Schönheit<lb/> vom Kapitel des Schönen zu denen des Tragischen, Erhabenen, Anmutigen,<lb/> Komischen, Grotesken n. s. w. hüpfen mußten. Ist das alles nun schön oder<lb/> ist es nicht schön? Ist es nicht schön, sondern eben „erhaben," „tragisch,"<lb/> „komisch" n. s. f., wie kommt es zur Schönheit? Warum fassen wir es, wenn<lb/> wir nicht Ästhetiker sind, schlicht zusammen unter dem Gemeinbcgriff „schön"?<lb/> Und wenn es wieder schön ist, was ist dann das Schöne daran, was hat es<lb/> gemein mit der Schönheit?</p><lb/> <p xml:id="ID_260"> Thatsächlich muß nach unsrer Voraussetzung alles, also auch das gewöhn¬<lb/> lich Nichtgefallende, schön genannt werden, sobald und solange es gefällt. Die<lb/> Möglichkeit hiervon wollen wir uns zunächst an Beispielen klar machen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0091]
«Line christliche Ästhetik.
er neue Verhältnisse, neue Verfassungen! Und doch ist er im Reiche der
Schönheit. Ist dies Reich etwa nur ein Schcinreich, und ist es etwa nur jene
eine Provinz, die sich ohne jede Berechtigung anmaßt, dem Ganzen den Titel
zu geben? Oder giebt es hier gar keine wirkliche einheitliche Regierung, die
dafür sorgt, daß man ihr Wappen nicht bloß äußerlich überall an den Thoren
angeschlagen finde? Freilich, die Führer sind so ungeheuer sicher; sie stolpern
nie, mit einem tüchtigen Sprunge und einem neuen Kapitel sind sie sofort auf
anderm Gebiete und fangen sofort wieder an zu definiren, mitunter sehr geist¬
reich und treffend, aber ohne das allermindeste Bedenken, daß sie damit ihrer
frühern Wegweisung und somit sich selbst ins Gesicht schlagen. Der Neuling
aber will seinen Weg kennen; stolpern kann er allein. Und so mag es kommen,
daß er meist lieber auf eigne Hand im Reiche der Schönheit herumspringt und
seine eignen Bockssprünge als Cicerone ausgeben zu können glaubt. Wenigstens
zum großen Teile mag es daher kommen. Sicherlich beruht auf der geringen
Einheitlichkeit und Geschlossenheit, auf der oft leider so hervorstechenden Zer-
flossenheit und Vielfarbigkeit ihrer Methode der geringe Kredit der ästhetischen
Führer.
Wir zählen zu unsrer zweiten Kategorie alles dasjenige, was eigentlich
mißfallen sollte und doch gefällt, oder genauer: was als Erscheinung mißfällt,
durch die Art des „in Erscheinung tretcns" aber gefällt. Das schlechthin
Wohlgefällige der ersten Kategorie konnten wir leicht als „schön" bezeichnen.
Die wohlgefällige Gestalt (im weitesten Sinne, ob in Natur oder Abbild, be¬
deutet hierfür gleichviel) ist schön; eine wohlgefällige, durch keinen, auch nicht
den geringsten unbefriedigender Fortschritt unterbrochene Reihe von Tönen, oder
eine solche von lauter reinen Harmonien ist schön; eine befriedigende Folge ge¬
fälliger Bilder und Empfindungen in wohllautender Sprache ist schön. Aber
die Mißgestalt, die Schreckensgcstalt, ist sie schön? Ein jäher Sprung von Ton
zu Ton, eine Dissonanz, sind sie schön? Unangenehme Bilder und Empfin¬
dungen, in abgebrochenen, stammelnden Lauten ausgedrückt, wirken sie schön?
Hier haben wir sie, unsre urgründliche Verlegenheit. Das ists, was uns stets
aus dem Gleichgewicht brachte, wenn wir in den Kompendien der Schönheit
vom Kapitel des Schönen zu denen des Tragischen, Erhabenen, Anmutigen,
Komischen, Grotesken n. s. w. hüpfen mußten. Ist das alles nun schön oder
ist es nicht schön? Ist es nicht schön, sondern eben „erhaben," „tragisch,"
„komisch" n. s. f., wie kommt es zur Schönheit? Warum fassen wir es, wenn
wir nicht Ästhetiker sind, schlicht zusammen unter dem Gemeinbcgriff „schön"?
Und wenn es wieder schön ist, was ist dann das Schöne daran, was hat es
gemein mit der Schönheit?
Thatsächlich muß nach unsrer Voraussetzung alles, also auch das gewöhn¬
lich Nichtgefallende, schön genannt werden, sobald und solange es gefällt. Die
Möglichkeit hiervon wollen wir uns zunächst an Beispielen klar machen.
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