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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymnasialunterricht und Fachbildung,

schränken, welches in der Schule auf das altsprachliche Studium verwendet
werden soll.

Die radikale, die eigentlich realistische Gruppe ist weit bestimmter in ihren
Forderungen, die sie aus den wirtschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart ab¬
leitet. Sie folgert so: Mit der Entwicklung der Industrie und der Technik,
mit den ungeahnten Erleichterungen des Verkehrswesens und des Waarenaus¬
tausches ist in allen Ländern der Nationalwohlstand gewachsen. Dies hat die
Verteuerung der Lebensmittel und eine ungewöhnliche Steigerung des Luxus
in allen Ständen bewirkt. Der se-roÄarÄ ol' Ule ist höher als vor siebzig
Jahren. Daher das Ringen nach höhern Einkünften, die allgemeine Jagd nach
Gewinn, die Bevorzugung einträglicher Berufszweige. Das ausschließliche Be¬
treiben einer Wissenschaft erheischt viel Ausdauer und den Verzicht auf Ehrgeiz
oder materielle Vorteile. Daher ist der Andrang dazu jetzt weniger stürmisch.
Außerdem ist ein solches berufsmäßiges Studium kostspielig und verlangt fast
vollständige Unabhängigkeit. Dadurch sind viele davon ausgeschlossen. In
Deutschland endlich erwartet mau vou jedem Staatsangehörigen aus den höhern
Ständen, daß er etwas sei oder gewesen sei. Die Bcrufslosigkeit gilt nicht als
Empfehlung, mag auch ernste, stille Arbeit dahinter verborgen sein. Bei uns
soll jedermann, wenn auch nicht ein Amt, so doch ein Fach bekleiden. Aus
allen diesen Gründen macht sich anch in den höhern Ständen ein Drängen zu
gewinnbringenden Berufszweigen geltend. Das Nützlichkeitsprinzip überwiegt
in den meisten Fragen des Staats- und Gesellschaftslebens. Mit dieser That¬
sache muß gerechnet werden. Die Erziehung der Jugend sollte diesen Anforde-
rungen angepaßt werden, und nicht bloß auf die Anhäufung weitausgreifender
und für das spätere Leben größtenteils nutzloser Kenntnisse Bedacht nehmen,
sondern neben der zweckmäßigen Auswahl vorbereitender Übungen auch die
Bildung des Charakters ins Auge fassen.

Aus diesen Bestrebungen erwuchs das Bedürfnis nach besondern Lehr¬
anstalten. Da die Gymnasien zu keinerlei Zugeständnissen bereit waren, ent¬
wickelte" sich aus den Bürgerschulen der größern Städte allmählich die Real¬
schulen, welche die oberste Schulverwaltung ursprünglich nicht als zum höhern
Schulwesen gehörig betrachtete. Erst allmählich und unter schweren Kämpfen
vermochten sich diese Anstalten eine gewisse Stellung zu erringen. Dieselbe ent¬
spricht aber noch keineswegs dem, was die Anhänger der realistischen Richtung
von der zukünftigen Einheitsschule erwarten. Erst im Jahre 1832 wurde den
Abiturienten der preußischen Realschule die Berechtigung zum einjährigen Frei¬
willigendienste zuerkannt und der Eintritt in das Post-, Forst- und Baufach
und in die Bureaus der Provinzialbehörden gewährt. Das Latein spielte in
diesem Reifezeugnisse noch eine untergeordnete Rolle. Später, nnter dem Mi¬
nisterium Eichhorn, wurde es als Zwcmgsfach eingeführt und das Maß der
Ansprüche für die Zulassung zur Bauakademie gesteigert; 18Ü5 wurde die letztere


Gymnasialunterricht und Fachbildung,

schränken, welches in der Schule auf das altsprachliche Studium verwendet
werden soll.

Die radikale, die eigentlich realistische Gruppe ist weit bestimmter in ihren
Forderungen, die sie aus den wirtschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart ab¬
leitet. Sie folgert so: Mit der Entwicklung der Industrie und der Technik,
mit den ungeahnten Erleichterungen des Verkehrswesens und des Waarenaus¬
tausches ist in allen Ländern der Nationalwohlstand gewachsen. Dies hat die
Verteuerung der Lebensmittel und eine ungewöhnliche Steigerung des Luxus
in allen Ständen bewirkt. Der se-roÄarÄ ol' Ule ist höher als vor siebzig
Jahren. Daher das Ringen nach höhern Einkünften, die allgemeine Jagd nach
Gewinn, die Bevorzugung einträglicher Berufszweige. Das ausschließliche Be¬
treiben einer Wissenschaft erheischt viel Ausdauer und den Verzicht auf Ehrgeiz
oder materielle Vorteile. Daher ist der Andrang dazu jetzt weniger stürmisch.
Außerdem ist ein solches berufsmäßiges Studium kostspielig und verlangt fast
vollständige Unabhängigkeit. Dadurch sind viele davon ausgeschlossen. In
Deutschland endlich erwartet mau vou jedem Staatsangehörigen aus den höhern
Ständen, daß er etwas sei oder gewesen sei. Die Bcrufslosigkeit gilt nicht als
Empfehlung, mag auch ernste, stille Arbeit dahinter verborgen sein. Bei uns
soll jedermann, wenn auch nicht ein Amt, so doch ein Fach bekleiden. Aus
allen diesen Gründen macht sich anch in den höhern Ständen ein Drängen zu
gewinnbringenden Berufszweigen geltend. Das Nützlichkeitsprinzip überwiegt
in den meisten Fragen des Staats- und Gesellschaftslebens. Mit dieser That¬
sache muß gerechnet werden. Die Erziehung der Jugend sollte diesen Anforde-
rungen angepaßt werden, und nicht bloß auf die Anhäufung weitausgreifender
und für das spätere Leben größtenteils nutzloser Kenntnisse Bedacht nehmen,
sondern neben der zweckmäßigen Auswahl vorbereitender Übungen auch die
Bildung des Charakters ins Auge fassen.

Aus diesen Bestrebungen erwuchs das Bedürfnis nach besondern Lehr¬
anstalten. Da die Gymnasien zu keinerlei Zugeständnissen bereit waren, ent¬
wickelte» sich aus den Bürgerschulen der größern Städte allmählich die Real¬
schulen, welche die oberste Schulverwaltung ursprünglich nicht als zum höhern
Schulwesen gehörig betrachtete. Erst allmählich und unter schweren Kämpfen
vermochten sich diese Anstalten eine gewisse Stellung zu erringen. Dieselbe ent¬
spricht aber noch keineswegs dem, was die Anhänger der realistischen Richtung
von der zukünftigen Einheitsschule erwarten. Erst im Jahre 1832 wurde den
Abiturienten der preußischen Realschule die Berechtigung zum einjährigen Frei¬
willigendienste zuerkannt und der Eintritt in das Post-, Forst- und Baufach
und in die Bureaus der Provinzialbehörden gewährt. Das Latein spielte in
diesem Reifezeugnisse noch eine untergeordnete Rolle. Später, nnter dem Mi¬
nisterium Eichhorn, wurde es als Zwcmgsfach eingeführt und das Maß der
Ansprüche für die Zulassung zur Bauakademie gesteigert; 18Ü5 wurde die letztere


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[0083] Gymnasialunterricht und Fachbildung, schränken, welches in der Schule auf das altsprachliche Studium verwendet werden soll. Die radikale, die eigentlich realistische Gruppe ist weit bestimmter in ihren Forderungen, die sie aus den wirtschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart ab¬ leitet. Sie folgert so: Mit der Entwicklung der Industrie und der Technik, mit den ungeahnten Erleichterungen des Verkehrswesens und des Waarenaus¬ tausches ist in allen Ländern der Nationalwohlstand gewachsen. Dies hat die Verteuerung der Lebensmittel und eine ungewöhnliche Steigerung des Luxus in allen Ständen bewirkt. Der se-roÄarÄ ol' Ule ist höher als vor siebzig Jahren. Daher das Ringen nach höhern Einkünften, die allgemeine Jagd nach Gewinn, die Bevorzugung einträglicher Berufszweige. Das ausschließliche Be¬ treiben einer Wissenschaft erheischt viel Ausdauer und den Verzicht auf Ehrgeiz oder materielle Vorteile. Daher ist der Andrang dazu jetzt weniger stürmisch. Außerdem ist ein solches berufsmäßiges Studium kostspielig und verlangt fast vollständige Unabhängigkeit. Dadurch sind viele davon ausgeschlossen. In Deutschland endlich erwartet mau vou jedem Staatsangehörigen aus den höhern Ständen, daß er etwas sei oder gewesen sei. Die Bcrufslosigkeit gilt nicht als Empfehlung, mag auch ernste, stille Arbeit dahinter verborgen sein. Bei uns soll jedermann, wenn auch nicht ein Amt, so doch ein Fach bekleiden. Aus allen diesen Gründen macht sich anch in den höhern Ständen ein Drängen zu gewinnbringenden Berufszweigen geltend. Das Nützlichkeitsprinzip überwiegt in den meisten Fragen des Staats- und Gesellschaftslebens. Mit dieser That¬ sache muß gerechnet werden. Die Erziehung der Jugend sollte diesen Anforde- rungen angepaßt werden, und nicht bloß auf die Anhäufung weitausgreifender und für das spätere Leben größtenteils nutzloser Kenntnisse Bedacht nehmen, sondern neben der zweckmäßigen Auswahl vorbereitender Übungen auch die Bildung des Charakters ins Auge fassen. Aus diesen Bestrebungen erwuchs das Bedürfnis nach besondern Lehr¬ anstalten. Da die Gymnasien zu keinerlei Zugeständnissen bereit waren, ent¬ wickelte» sich aus den Bürgerschulen der größern Städte allmählich die Real¬ schulen, welche die oberste Schulverwaltung ursprünglich nicht als zum höhern Schulwesen gehörig betrachtete. Erst allmählich und unter schweren Kämpfen vermochten sich diese Anstalten eine gewisse Stellung zu erringen. Dieselbe ent¬ spricht aber noch keineswegs dem, was die Anhänger der realistischen Richtung von der zukünftigen Einheitsschule erwarten. Erst im Jahre 1832 wurde den Abiturienten der preußischen Realschule die Berechtigung zum einjährigen Frei¬ willigendienste zuerkannt und der Eintritt in das Post-, Forst- und Baufach und in die Bureaus der Provinzialbehörden gewährt. Das Latein spielte in diesem Reifezeugnisse noch eine untergeordnete Rolle. Später, nnter dem Mi¬ nisterium Eichhorn, wurde es als Zwcmgsfach eingeführt und das Maß der Ansprüche für die Zulassung zur Bauakademie gesteigert; 18Ü5 wurde die letztere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/83>, abgerufen am 01.10.2024.