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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Eine Erläuteruugsschrift zu Schillers Jungfrau von Orleans

ist
kürzlich :in Verlage von Carl Meyer (Gustav Prior) in Hannover erschienen:
Schillers Jungfrau von Orleans, neu erklärt von Dr. Georg Friedrich
Eysell. Der Verfasser bietet uus eine "neue" Erklärung des Schillerschen Dramas.
Die Jungfrau von Orleans ist ihm offenbar die liebste von Schillers Dichtungen.
Nirgends scheint sich ihm ein kritischer Zweifel zu regen, alles ist so planmäßig
und vollendet, daß es sich überall nur darum handeln kaun, den Dichter zu ver¬
stehen nud die Großartigkeit seiner Schöpfung zu bewundern. Einem 'solchen
Standpunkte gegenüber ist die Frage berechtigt: Ist es wirklich die rein ästhetische
Wirkung der Tragödie, die den Verfasser zu dieser unbedingten Bewunderung ge¬
führt hat? Wir glauben ihm nicht Unrecht zu thun, wenn wir diese Frage ver¬
neinen. Er vernachlässigt zwar die künstlerische Rechtfertigung des Stückes keineswegs,
aber bestimmend für seine Schätzung war in erster Linie die gewaltige Wirkung,
welche es auf sein religiöses Gefühl ausübte. Ihm erscheint "die Geschichte der
Jungfrau als die heilige Geschichte der Menschheit selbst auf Erden, und die Einzel¬
thatsache, welche die Dichtung dramatisch versinnlicht, wird zum universellen Symbol
der christlichen Glaubens- und Heilsidee" (S. 39). Wir wollen mit dem Ver¬
sasser über diese Auffassung nicht rechten, aber das ist wohl klar, daß bei einer
solchen Betrachtungsweise die Gefahr mindestens nahe liegt, über die Absichten des
Dichters selbst Hinanszugehen und in die Dichtung Dinge hineinzulegen, an die er
selbst bei seiner Arbeit garnicht gedacht hat.

Eysell verfolgt die Handlung von Auftritt zu Auftritt, ja von Vers zu Vers
mit eiuer Genauigkeit, wie man sie sonst in einer Erläuterungsschrift kaum finden
wird. Er spürt den feinsten und kleinsten Zügen nach, die wir allmählich vou
den handelnden Personen gewinnen, er erforscht die geheimsten Falten ihrer Seele,
die leisesten Abstufungen im Wechsel ihrer Stimmung. Noch mehr! Auf jeder
Stufe (zumal um Anfang) möchte er sich Rechenschaft geben über die Eindrücke,
Vermutungen, Ahnungen, welche sich dem unbefangenen Zuschauer aufdrängen, der
noch nicht weiß, was da kommen wird, und nicht minder beschäftigt ihn die Auf¬
fassung und Überlegung des "Eingeweihten" bei jedem Fortschritt der Handlung.
So versenkt er sich überall in das Dichterwort, und eine Reihe ungeahnter Ge¬
sichtspunkte, neuer Beziehungen, die mich dem aufmerksamen Leser bis dahin ent¬
gangen sein werden, ist das Ergebnis dieser eingehenden Betrachtung. Freilich
ist manchen Ausführungen der Vorwurf gar zu großer Breite nicht zu ersparen,
und wir wissen nicht, ob die zahlreichen Wiederholungen durch den Hinweis auf
das Bedürfnis der äoeoncli hinreichend gerechtfertigt erscheinen.

Die größte Schwierigkeit für eine Erklärung des Stückes wird stets der
eigentliche Wendepunkt bleiben. Bis zum Bruche ihres Gelübdes steht das Em¬
pfinden, Denken und Handeln der Heldin in höherm Dienste, und erst vom Augen¬
blicke ihres Falles an gewinnt sie die volle menschliche Teilnahme des Zuschauers.
Der Dichter hat versucht, diesen Umschwung vorzubereiten, ist aber über eine äußer¬
liche Vorbereitung uicht hinausgekommen. Es ist ein vergebliches Bemühen der
Erklärer, aus dem Vorhergehenden Beweise für das allmähliche Erwachen der
Sinnlichkeit im Innern der Heldin zu suchen; bis zu dem Augenblicke, wo sie
Lionel ins Ange sieht, ist sie ihrer Sendung durchaus treu geblieben. Ob diese
plötzliche Wendung ein dramatischer Fehler ist, lassen wir dahingestellt. Unsre Er-
länterungsschrift bringt einen ganz neuen Erklärungsversuch, dessen Ausführung und
Begründung den breitesten Raum in dem 364 Seiten zählenden Buche einnimmt.
Wir beschränken uns ans eine kurze Wiedergabe der Hauptpunkte.


Grenzboten I. 1S37. SS

Eine Erläuteruugsschrift zu Schillers Jungfrau von Orleans

ist
kürzlich :in Verlage von Carl Meyer (Gustav Prior) in Hannover erschienen:
Schillers Jungfrau von Orleans, neu erklärt von Dr. Georg Friedrich
Eysell. Der Verfasser bietet uus eine „neue" Erklärung des Schillerschen Dramas.
Die Jungfrau von Orleans ist ihm offenbar die liebste von Schillers Dichtungen.
Nirgends scheint sich ihm ein kritischer Zweifel zu regen, alles ist so planmäßig
und vollendet, daß es sich überall nur darum handeln kaun, den Dichter zu ver¬
stehen nud die Großartigkeit seiner Schöpfung zu bewundern. Einem 'solchen
Standpunkte gegenüber ist die Frage berechtigt: Ist es wirklich die rein ästhetische
Wirkung der Tragödie, die den Verfasser zu dieser unbedingten Bewunderung ge¬
führt hat? Wir glauben ihm nicht Unrecht zu thun, wenn wir diese Frage ver¬
neinen. Er vernachlässigt zwar die künstlerische Rechtfertigung des Stückes keineswegs,
aber bestimmend für seine Schätzung war in erster Linie die gewaltige Wirkung,
welche es auf sein religiöses Gefühl ausübte. Ihm erscheint „die Geschichte der
Jungfrau als die heilige Geschichte der Menschheit selbst auf Erden, und die Einzel¬
thatsache, welche die Dichtung dramatisch versinnlicht, wird zum universellen Symbol
der christlichen Glaubens- und Heilsidee" (S. 39). Wir wollen mit dem Ver¬
sasser über diese Auffassung nicht rechten, aber das ist wohl klar, daß bei einer
solchen Betrachtungsweise die Gefahr mindestens nahe liegt, über die Absichten des
Dichters selbst Hinanszugehen und in die Dichtung Dinge hineinzulegen, an die er
selbst bei seiner Arbeit garnicht gedacht hat.

Eysell verfolgt die Handlung von Auftritt zu Auftritt, ja von Vers zu Vers
mit eiuer Genauigkeit, wie man sie sonst in einer Erläuterungsschrift kaum finden
wird. Er spürt den feinsten und kleinsten Zügen nach, die wir allmählich vou
den handelnden Personen gewinnen, er erforscht die geheimsten Falten ihrer Seele,
die leisesten Abstufungen im Wechsel ihrer Stimmung. Noch mehr! Auf jeder
Stufe (zumal um Anfang) möchte er sich Rechenschaft geben über die Eindrücke,
Vermutungen, Ahnungen, welche sich dem unbefangenen Zuschauer aufdrängen, der
noch nicht weiß, was da kommen wird, und nicht minder beschäftigt ihn die Auf¬
fassung und Überlegung des „Eingeweihten" bei jedem Fortschritt der Handlung.
So versenkt er sich überall in das Dichterwort, und eine Reihe ungeahnter Ge¬
sichtspunkte, neuer Beziehungen, die mich dem aufmerksamen Leser bis dahin ent¬
gangen sein werden, ist das Ergebnis dieser eingehenden Betrachtung. Freilich
ist manchen Ausführungen der Vorwurf gar zu großer Breite nicht zu ersparen,
und wir wissen nicht, ob die zahlreichen Wiederholungen durch den Hinweis auf
das Bedürfnis der äoeoncli hinreichend gerechtfertigt erscheinen.

Die größte Schwierigkeit für eine Erklärung des Stückes wird stets der
eigentliche Wendepunkt bleiben. Bis zum Bruche ihres Gelübdes steht das Em¬
pfinden, Denken und Handeln der Heldin in höherm Dienste, und erst vom Augen¬
blicke ihres Falles an gewinnt sie die volle menschliche Teilnahme des Zuschauers.
Der Dichter hat versucht, diesen Umschwung vorzubereiten, ist aber über eine äußer¬
liche Vorbereitung uicht hinausgekommen. Es ist ein vergebliches Bemühen der
Erklärer, aus dem Vorhergehenden Beweise für das allmähliche Erwachen der
Sinnlichkeit im Innern der Heldin zu suchen; bis zu dem Augenblicke, wo sie
Lionel ins Ange sieht, ist sie ihrer Sendung durchaus treu geblieben. Ob diese
plötzliche Wendung ein dramatischer Fehler ist, lassen wir dahingestellt. Unsre Er-
länterungsschrift bringt einen ganz neuen Erklärungsversuch, dessen Ausführung und
Begründung den breitesten Raum in dem 364 Seiten zählenden Buche einnimmt.
Wir beschränken uns ans eine kurze Wiedergabe der Hauptpunkte.


Grenzboten I. 1S37. SS
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[0665] Eine Erläuteruugsschrift zu Schillers Jungfrau von Orleans ist kürzlich :in Verlage von Carl Meyer (Gustav Prior) in Hannover erschienen: Schillers Jungfrau von Orleans, neu erklärt von Dr. Georg Friedrich Eysell. Der Verfasser bietet uus eine „neue" Erklärung des Schillerschen Dramas. Die Jungfrau von Orleans ist ihm offenbar die liebste von Schillers Dichtungen. Nirgends scheint sich ihm ein kritischer Zweifel zu regen, alles ist so planmäßig und vollendet, daß es sich überall nur darum handeln kaun, den Dichter zu ver¬ stehen nud die Großartigkeit seiner Schöpfung zu bewundern. Einem 'solchen Standpunkte gegenüber ist die Frage berechtigt: Ist es wirklich die rein ästhetische Wirkung der Tragödie, die den Verfasser zu dieser unbedingten Bewunderung ge¬ führt hat? Wir glauben ihm nicht Unrecht zu thun, wenn wir diese Frage ver¬ neinen. Er vernachlässigt zwar die künstlerische Rechtfertigung des Stückes keineswegs, aber bestimmend für seine Schätzung war in erster Linie die gewaltige Wirkung, welche es auf sein religiöses Gefühl ausübte. Ihm erscheint „die Geschichte der Jungfrau als die heilige Geschichte der Menschheit selbst auf Erden, und die Einzel¬ thatsache, welche die Dichtung dramatisch versinnlicht, wird zum universellen Symbol der christlichen Glaubens- und Heilsidee" (S. 39). Wir wollen mit dem Ver¬ sasser über diese Auffassung nicht rechten, aber das ist wohl klar, daß bei einer solchen Betrachtungsweise die Gefahr mindestens nahe liegt, über die Absichten des Dichters selbst Hinanszugehen und in die Dichtung Dinge hineinzulegen, an die er selbst bei seiner Arbeit garnicht gedacht hat. Eysell verfolgt die Handlung von Auftritt zu Auftritt, ja von Vers zu Vers mit eiuer Genauigkeit, wie man sie sonst in einer Erläuterungsschrift kaum finden wird. Er spürt den feinsten und kleinsten Zügen nach, die wir allmählich vou den handelnden Personen gewinnen, er erforscht die geheimsten Falten ihrer Seele, die leisesten Abstufungen im Wechsel ihrer Stimmung. Noch mehr! Auf jeder Stufe (zumal um Anfang) möchte er sich Rechenschaft geben über die Eindrücke, Vermutungen, Ahnungen, welche sich dem unbefangenen Zuschauer aufdrängen, der noch nicht weiß, was da kommen wird, und nicht minder beschäftigt ihn die Auf¬ fassung und Überlegung des „Eingeweihten" bei jedem Fortschritt der Handlung. So versenkt er sich überall in das Dichterwort, und eine Reihe ungeahnter Ge¬ sichtspunkte, neuer Beziehungen, die mich dem aufmerksamen Leser bis dahin ent¬ gangen sein werden, ist das Ergebnis dieser eingehenden Betrachtung. Freilich ist manchen Ausführungen der Vorwurf gar zu großer Breite nicht zu ersparen, und wir wissen nicht, ob die zahlreichen Wiederholungen durch den Hinweis auf das Bedürfnis der äoeoncli hinreichend gerechtfertigt erscheinen. Die größte Schwierigkeit für eine Erklärung des Stückes wird stets der eigentliche Wendepunkt bleiben. Bis zum Bruche ihres Gelübdes steht das Em¬ pfinden, Denken und Handeln der Heldin in höherm Dienste, und erst vom Augen¬ blicke ihres Falles an gewinnt sie die volle menschliche Teilnahme des Zuschauers. Der Dichter hat versucht, diesen Umschwung vorzubereiten, ist aber über eine äußer¬ liche Vorbereitung uicht hinausgekommen. Es ist ein vergebliches Bemühen der Erklärer, aus dem Vorhergehenden Beweise für das allmähliche Erwachen der Sinnlichkeit im Innern der Heldin zu suchen; bis zu dem Augenblicke, wo sie Lionel ins Ange sieht, ist sie ihrer Sendung durchaus treu geblieben. Ob diese plötzliche Wendung ein dramatischer Fehler ist, lassen wir dahingestellt. Unsre Er- länterungsschrift bringt einen ganz neuen Erklärungsversuch, dessen Ausführung und Begründung den breitesten Raum in dem 364 Seiten zählenden Buche einnimmt. Wir beschränken uns ans eine kurze Wiedergabe der Hauptpunkte. Grenzboten I. 1S37. SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/665>, abgerufen am 22.12.2024.