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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

Gott Lob, da seid ihr ja doch! rief er uns herzlich begrüßend zu. Das
nenn' ich Ausdauer! Aber marsch, marsch, Jungen, hinauf in meine Kammer,
damit ihr trockenes Zeug ans den Leib bekommt!

Nach kurzer Zeit versammelte" wir uns in wunderlichem Kostüme um den
Abendtisch, da es in dem Juuggesellenhaushaltc des Onkels an entsprechender
Garderobe gebrach. Der Vater behalf sich allerdings mit einem Rocke seines
Bruders, der ihm aber so eng war, daß er sich kaum darin bewegen konnte.
Uns beiden Brüdern mußten Kellner und Lausbursche mit abgelegten Kleidungs¬
stücken aushelfen. Uns machte diese notgedrungen" Mummerei viel Spaß; wir
freuten uns, nach deu überstandenen Strapazen endlich unter Dach und Fach
zu sein, mehr aber noch über des heiter gelaunten und gesprächigen Onkels auf¬
richtige Herzlichkeit, der fortwährend trockne Späße machte, allerhand drollige
Einfälle hatte und uns mit herzgewinnender Freundlichkeit behandelte.

Wir ließen uns das schmackhafte Abendbrot, das man uns alsbald vor¬
setzte, nach der anstrengenden Wanderung trefflich schmecken und fühlten keinerlei
Beschwerde. Erst als wir uns zur Ruhe begeben wollten, meldeten sich bei mir
die Folgen zu großer Überanstrengung. Ohne Schmerzen zu empfinden, war
es mir doch unmöglich, die Füße zu gebrauchen. Sie waren während des
Sitzens am gemütlichen Abendtisch stark angeschwollen, hingen wie Klumpen an
den Beinen, und wenn ich auftrat, so hatte ich das Gefühl, als wäre" mir
Schwämme unter die Fußsohlen gebunden. Die Zumutung, in fortwährend
strömendem Regen, fast ohne auszuruhen, einen Weg von drei deutschen Meilen
zurückzulegen, war für den neunjährigen Knaben doch zu stark gewesen. Man
mußte mich die Treppe hinauftragen, wusch mir, um doch etwas zu thun, die
fast gefühllos gewordenen Füße mit Branntwein und packte mich zu Bett. Er¬
müdet, wie ich war, befiel mich der Schlaf sofort, und ich schlief ungestört bis
zum hellen Morgen. ^ Da war ich denn hocherfreut, wieder Leben in den Füßen
zu spüren; die Geschwulst hatte sich fast ganz verloren, anch konnte ich ohne
Schmerzen wieder gehen, doch war ich genötigt, in bequemen Schuhen zu Hause
zu bleiben, da das durchweichte und vom Trocknen am heißen Ofen naß ge¬
wordene Schuhwerk an diesem Tage nicht benutzt werden konnte.

Die Lage Laubans im breiten Queisthale ist sehr anmutig, obwohl die
Stadt selbst ihrer Kleinheit und des geringen Verkehrs wegen einen verkümmerten
Eindruck machte. In meiner Jugend verliehen ihr die vielen sie umgebenden Leiu-
wandbleichen noch eine gewisse Frische, und der Handel mit Leinwand, der nicht
unbedeutend war, gab auch der Bevölkerung die Physiognomie rührigen Schaffens.
Später verfiel die Leinwandiudnstrie mehr und mehr, ohne daß andre Erwerbs¬
zweige an deren Stelle traten, sodaß ich ein Jahrzehnt später bei einem aber¬
maligen Besuche eigentliches Verkehrsleben kaum noch entdecken konnte.

Seltsamerweise hatte der Onkel sich in diese kleinbürgerlichen Verhältnisse
so hineingelebt und war so ganz mit ihnen verwachsen, daß ein Wechsel des


Jugenderinnerungen.

Gott Lob, da seid ihr ja doch! rief er uns herzlich begrüßend zu. Das
nenn' ich Ausdauer! Aber marsch, marsch, Jungen, hinauf in meine Kammer,
damit ihr trockenes Zeug ans den Leib bekommt!

Nach kurzer Zeit versammelte» wir uns in wunderlichem Kostüme um den
Abendtisch, da es in dem Juuggesellenhaushaltc des Onkels an entsprechender
Garderobe gebrach. Der Vater behalf sich allerdings mit einem Rocke seines
Bruders, der ihm aber so eng war, daß er sich kaum darin bewegen konnte.
Uns beiden Brüdern mußten Kellner und Lausbursche mit abgelegten Kleidungs¬
stücken aushelfen. Uns machte diese notgedrungen« Mummerei viel Spaß; wir
freuten uns, nach deu überstandenen Strapazen endlich unter Dach und Fach
zu sein, mehr aber noch über des heiter gelaunten und gesprächigen Onkels auf¬
richtige Herzlichkeit, der fortwährend trockne Späße machte, allerhand drollige
Einfälle hatte und uns mit herzgewinnender Freundlichkeit behandelte.

Wir ließen uns das schmackhafte Abendbrot, das man uns alsbald vor¬
setzte, nach der anstrengenden Wanderung trefflich schmecken und fühlten keinerlei
Beschwerde. Erst als wir uns zur Ruhe begeben wollten, meldeten sich bei mir
die Folgen zu großer Überanstrengung. Ohne Schmerzen zu empfinden, war
es mir doch unmöglich, die Füße zu gebrauchen. Sie waren während des
Sitzens am gemütlichen Abendtisch stark angeschwollen, hingen wie Klumpen an
den Beinen, und wenn ich auftrat, so hatte ich das Gefühl, als wäre» mir
Schwämme unter die Fußsohlen gebunden. Die Zumutung, in fortwährend
strömendem Regen, fast ohne auszuruhen, einen Weg von drei deutschen Meilen
zurückzulegen, war für den neunjährigen Knaben doch zu stark gewesen. Man
mußte mich die Treppe hinauftragen, wusch mir, um doch etwas zu thun, die
fast gefühllos gewordenen Füße mit Branntwein und packte mich zu Bett. Er¬
müdet, wie ich war, befiel mich der Schlaf sofort, und ich schlief ungestört bis
zum hellen Morgen. ^ Da war ich denn hocherfreut, wieder Leben in den Füßen
zu spüren; die Geschwulst hatte sich fast ganz verloren, anch konnte ich ohne
Schmerzen wieder gehen, doch war ich genötigt, in bequemen Schuhen zu Hause
zu bleiben, da das durchweichte und vom Trocknen am heißen Ofen naß ge¬
wordene Schuhwerk an diesem Tage nicht benutzt werden konnte.

Die Lage Laubans im breiten Queisthale ist sehr anmutig, obwohl die
Stadt selbst ihrer Kleinheit und des geringen Verkehrs wegen einen verkümmerten
Eindruck machte. In meiner Jugend verliehen ihr die vielen sie umgebenden Leiu-
wandbleichen noch eine gewisse Frische, und der Handel mit Leinwand, der nicht
unbedeutend war, gab auch der Bevölkerung die Physiognomie rührigen Schaffens.
Später verfiel die Leinwandiudnstrie mehr und mehr, ohne daß andre Erwerbs¬
zweige an deren Stelle traten, sodaß ich ein Jahrzehnt später bei einem aber¬
maligen Besuche eigentliches Verkehrsleben kaum noch entdecken konnte.

Seltsamerweise hatte der Onkel sich in diese kleinbürgerlichen Verhältnisse
so hineingelebt und war so ganz mit ihnen verwachsen, daß ein Wechsel des


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[0659] Jugenderinnerungen. Gott Lob, da seid ihr ja doch! rief er uns herzlich begrüßend zu. Das nenn' ich Ausdauer! Aber marsch, marsch, Jungen, hinauf in meine Kammer, damit ihr trockenes Zeug ans den Leib bekommt! Nach kurzer Zeit versammelte» wir uns in wunderlichem Kostüme um den Abendtisch, da es in dem Juuggesellenhaushaltc des Onkels an entsprechender Garderobe gebrach. Der Vater behalf sich allerdings mit einem Rocke seines Bruders, der ihm aber so eng war, daß er sich kaum darin bewegen konnte. Uns beiden Brüdern mußten Kellner und Lausbursche mit abgelegten Kleidungs¬ stücken aushelfen. Uns machte diese notgedrungen« Mummerei viel Spaß; wir freuten uns, nach deu überstandenen Strapazen endlich unter Dach und Fach zu sein, mehr aber noch über des heiter gelaunten und gesprächigen Onkels auf¬ richtige Herzlichkeit, der fortwährend trockne Späße machte, allerhand drollige Einfälle hatte und uns mit herzgewinnender Freundlichkeit behandelte. Wir ließen uns das schmackhafte Abendbrot, das man uns alsbald vor¬ setzte, nach der anstrengenden Wanderung trefflich schmecken und fühlten keinerlei Beschwerde. Erst als wir uns zur Ruhe begeben wollten, meldeten sich bei mir die Folgen zu großer Überanstrengung. Ohne Schmerzen zu empfinden, war es mir doch unmöglich, die Füße zu gebrauchen. Sie waren während des Sitzens am gemütlichen Abendtisch stark angeschwollen, hingen wie Klumpen an den Beinen, und wenn ich auftrat, so hatte ich das Gefühl, als wäre» mir Schwämme unter die Fußsohlen gebunden. Die Zumutung, in fortwährend strömendem Regen, fast ohne auszuruhen, einen Weg von drei deutschen Meilen zurückzulegen, war für den neunjährigen Knaben doch zu stark gewesen. Man mußte mich die Treppe hinauftragen, wusch mir, um doch etwas zu thun, die fast gefühllos gewordenen Füße mit Branntwein und packte mich zu Bett. Er¬ müdet, wie ich war, befiel mich der Schlaf sofort, und ich schlief ungestört bis zum hellen Morgen. ^ Da war ich denn hocherfreut, wieder Leben in den Füßen zu spüren; die Geschwulst hatte sich fast ganz verloren, anch konnte ich ohne Schmerzen wieder gehen, doch war ich genötigt, in bequemen Schuhen zu Hause zu bleiben, da das durchweichte und vom Trocknen am heißen Ofen naß ge¬ wordene Schuhwerk an diesem Tage nicht benutzt werden konnte. Die Lage Laubans im breiten Queisthale ist sehr anmutig, obwohl die Stadt selbst ihrer Kleinheit und des geringen Verkehrs wegen einen verkümmerten Eindruck machte. In meiner Jugend verliehen ihr die vielen sie umgebenden Leiu- wandbleichen noch eine gewisse Frische, und der Handel mit Leinwand, der nicht unbedeutend war, gab auch der Bevölkerung die Physiognomie rührigen Schaffens. Später verfiel die Leinwandiudnstrie mehr und mehr, ohne daß andre Erwerbs¬ zweige an deren Stelle traten, sodaß ich ein Jahrzehnt später bei einem aber¬ maligen Besuche eigentliches Verkehrsleben kaum noch entdecken konnte. Seltsamerweise hatte der Onkel sich in diese kleinbürgerlichen Verhältnisse so hineingelebt und war so ganz mit ihnen verwachsen, daß ein Wechsel des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/659>, abgerufen am 03.07.2024.