Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Graf von Noer.

von Marseille hatte sich das Schiff einer mehrtägigen Quarantäne zu unter¬
ziehen. Ein heftiger Mistral peitschte die Wellen zu Staub, da tauchte ein
Boot auf, das dein Schiffe zulenkte, die Insassen wurden mit Mühe auf Deck
gebracht. "Ich stürzte vorwärts in die Arme meiner über alles geliebten
Schwester. Sie war es, die mir durch ganz Frankreich entgegengereist war,
um mich in? wilden Sturm mit Todesgefahr zu begrüßen, ehe ich den Fuß
auf europäischen Boden gesetzt.... Niemals werde ich diesen Augenblick ver¬
gessen, noch den großen Blick tiefsten Vertrauens und enthusiastischer Liebe, mit
dem sie zu mir sagte: Nun du mir wiedergegeben bist, fürchte ich nichts mehr.
Nun wird alles gut."

Nachdem er der Hochzeit der Schwester beigewohnt hatte, ging er zur
Ordnung der Erbschaftsnugelcgeliheiteu nach Noer, das nun in seinen Besitz
übergehen sollte. "Vier Uhr morgens, am 4. Februar 1866, zog ich in Noer
ein, das ich seit Oktober 1349 nicht wieder gesehen hatte. Es war einer der
Momente, wie sie wohl keinem Sterblichen völlig erspart bleiben, wo die volle
Tragik des Lebens mit ihrer ganze" erschütterndem Gewalt mich erfaßte. Sturm¬
und Mceresbrauseu, kahle, gespenstische Baumgruppen, weite, weißschimmernde
Felder, einige Dienerschaft mit Lichtern auf der Schwelle und ich, der einsame
Mann, der letzte meiner Familie!"

Nach kurzer Rast ging der Prinz wieder nach London, um unter Gold-
stückers Leitung seine Sanskritstudien wieder aufzunehmen. Da schied auch das
letzte Glied aus dem engern Familienkreise, seine Schwester. "Der Tod meiner
Schwester -- schreibt er seiner Tante, der Königin Karoline Amalie von Däne¬
mark -- hat mich furchtbar erschüttert, und der nagende Kummer darüber, sowie
der Verdruß über die unselige Verwirrung, welche ich in den Angelegenheiten
meines Vaters vorgefunden, haben meine Gesundheit sehr mitgenommen, dies
umsomehr, da für mich in dieser Hinsicht nicht viel zuzusetzen ist." Dann teilt
er mit, daß er abermals in die Fremde hinausziehen wolle, um Nordindien
kennen zu lernen. Ihren Einwurf, daß sie nicht begreife, warum er nicht ruhig
in Noer bliebe, beantwortete er damit: "Du kennst die Verhältnisse, wie sie
durch den Tod meines Vaters herbeigeführt wurden, und du weißt, daß die
Existenz auf Noer immerhin eine ziemlich verwickelte Frage geworden ist. Ich
kann nicht daran denken, mich zu verheiraten und als Gutsherr in gedeihlicher
Thätigkeit zu leben; einsam aber auf Noer zu bleiben, nur um zu sparen und
das Versäumte wieder einzubringen, dazu bin ich doch noch zu jung, und es
ist gegen meine Natur, ich würde es auf die Dauer nicht aushalten... Zu
diesem allen kommt aber noch hinzu, daß ich in letzter Zeit zu viel Trauriges
erfahren habe, um nicht das Bedürfnis zu empfinden, mich für eine Zeit lang
loszureißen und in fremder Umgebung meine Verluste nicht vergessen, aber er¬
tragen zu lernen. Es giebt für solche Zustände ein einziges Heilmittel: ernstes
Streben nach irgend einer Seite hin, das die Gedanken erfüllt und beschäftigt."


Der Graf von Noer.

von Marseille hatte sich das Schiff einer mehrtägigen Quarantäne zu unter¬
ziehen. Ein heftiger Mistral peitschte die Wellen zu Staub, da tauchte ein
Boot auf, das dein Schiffe zulenkte, die Insassen wurden mit Mühe auf Deck
gebracht. „Ich stürzte vorwärts in die Arme meiner über alles geliebten
Schwester. Sie war es, die mir durch ganz Frankreich entgegengereist war,
um mich in? wilden Sturm mit Todesgefahr zu begrüßen, ehe ich den Fuß
auf europäischen Boden gesetzt.... Niemals werde ich diesen Augenblick ver¬
gessen, noch den großen Blick tiefsten Vertrauens und enthusiastischer Liebe, mit
dem sie zu mir sagte: Nun du mir wiedergegeben bist, fürchte ich nichts mehr.
Nun wird alles gut."

Nachdem er der Hochzeit der Schwester beigewohnt hatte, ging er zur
Ordnung der Erbschaftsnugelcgeliheiteu nach Noer, das nun in seinen Besitz
übergehen sollte. „Vier Uhr morgens, am 4. Februar 1866, zog ich in Noer
ein, das ich seit Oktober 1349 nicht wieder gesehen hatte. Es war einer der
Momente, wie sie wohl keinem Sterblichen völlig erspart bleiben, wo die volle
Tragik des Lebens mit ihrer ganze» erschütterndem Gewalt mich erfaßte. Sturm¬
und Mceresbrauseu, kahle, gespenstische Baumgruppen, weite, weißschimmernde
Felder, einige Dienerschaft mit Lichtern auf der Schwelle und ich, der einsame
Mann, der letzte meiner Familie!"

Nach kurzer Rast ging der Prinz wieder nach London, um unter Gold-
stückers Leitung seine Sanskritstudien wieder aufzunehmen. Da schied auch das
letzte Glied aus dem engern Familienkreise, seine Schwester. „Der Tod meiner
Schwester — schreibt er seiner Tante, der Königin Karoline Amalie von Däne¬
mark — hat mich furchtbar erschüttert, und der nagende Kummer darüber, sowie
der Verdruß über die unselige Verwirrung, welche ich in den Angelegenheiten
meines Vaters vorgefunden, haben meine Gesundheit sehr mitgenommen, dies
umsomehr, da für mich in dieser Hinsicht nicht viel zuzusetzen ist." Dann teilt
er mit, daß er abermals in die Fremde hinausziehen wolle, um Nordindien
kennen zu lernen. Ihren Einwurf, daß sie nicht begreife, warum er nicht ruhig
in Noer bliebe, beantwortete er damit: „Du kennst die Verhältnisse, wie sie
durch den Tod meines Vaters herbeigeführt wurden, und du weißt, daß die
Existenz auf Noer immerhin eine ziemlich verwickelte Frage geworden ist. Ich
kann nicht daran denken, mich zu verheiraten und als Gutsherr in gedeihlicher
Thätigkeit zu leben; einsam aber auf Noer zu bleiben, nur um zu sparen und
das Versäumte wieder einzubringen, dazu bin ich doch noch zu jung, und es
ist gegen meine Natur, ich würde es auf die Dauer nicht aushalten... Zu
diesem allen kommt aber noch hinzu, daß ich in letzter Zeit zu viel Trauriges
erfahren habe, um nicht das Bedürfnis zu empfinden, mich für eine Zeit lang
loszureißen und in fremder Umgebung meine Verluste nicht vergessen, aber er¬
tragen zu lernen. Es giebt für solche Zustände ein einziges Heilmittel: ernstes
Streben nach irgend einer Seite hin, das die Gedanken erfüllt und beschäftigt."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0650" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200755"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Graf von Noer.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2042" prev="#ID_2041"> von Marseille hatte sich das Schiff einer mehrtägigen Quarantäne zu unter¬<lb/>
ziehen. Ein heftiger Mistral peitschte die Wellen zu Staub, da tauchte ein<lb/>
Boot auf, das dein Schiffe zulenkte, die Insassen wurden mit Mühe auf Deck<lb/>
gebracht. &#x201E;Ich stürzte vorwärts in die Arme meiner über alles geliebten<lb/>
Schwester. Sie war es, die mir durch ganz Frankreich entgegengereist war,<lb/>
um mich in? wilden Sturm mit Todesgefahr zu begrüßen, ehe ich den Fuß<lb/>
auf europäischen Boden gesetzt.... Niemals werde ich diesen Augenblick ver¬<lb/>
gessen, noch den großen Blick tiefsten Vertrauens und enthusiastischer Liebe, mit<lb/>
dem sie zu mir sagte: Nun du mir wiedergegeben bist, fürchte ich nichts mehr.<lb/>
Nun wird alles gut."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2043"> Nachdem er der Hochzeit der Schwester beigewohnt hatte, ging er zur<lb/>
Ordnung der Erbschaftsnugelcgeliheiteu nach Noer, das nun in seinen Besitz<lb/>
übergehen sollte. &#x201E;Vier Uhr morgens, am 4. Februar 1866, zog ich in Noer<lb/>
ein, das ich seit Oktober 1349 nicht wieder gesehen hatte. Es war einer der<lb/>
Momente, wie sie wohl keinem Sterblichen völlig erspart bleiben, wo die volle<lb/>
Tragik des Lebens mit ihrer ganze» erschütterndem Gewalt mich erfaßte. Sturm¬<lb/>
und Mceresbrauseu, kahle, gespenstische Baumgruppen, weite, weißschimmernde<lb/>
Felder, einige Dienerschaft mit Lichtern auf der Schwelle und ich, der einsame<lb/>
Mann, der letzte meiner Familie!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2044" next="#ID_2045"> Nach kurzer Rast ging der Prinz wieder nach London, um unter Gold-<lb/>
stückers Leitung seine Sanskritstudien wieder aufzunehmen. Da schied auch das<lb/>
letzte Glied aus dem engern Familienkreise, seine Schwester. &#x201E;Der Tod meiner<lb/>
Schwester &#x2014; schreibt er seiner Tante, der Königin Karoline Amalie von Däne¬<lb/>
mark &#x2014; hat mich furchtbar erschüttert, und der nagende Kummer darüber, sowie<lb/>
der Verdruß über die unselige Verwirrung, welche ich in den Angelegenheiten<lb/>
meines Vaters vorgefunden, haben meine Gesundheit sehr mitgenommen, dies<lb/>
umsomehr, da für mich in dieser Hinsicht nicht viel zuzusetzen ist." Dann teilt<lb/>
er mit, daß er abermals in die Fremde hinausziehen wolle, um Nordindien<lb/>
kennen zu lernen. Ihren Einwurf, daß sie nicht begreife, warum er nicht ruhig<lb/>
in Noer bliebe, beantwortete er damit: &#x201E;Du kennst die Verhältnisse, wie sie<lb/>
durch den Tod meines Vaters herbeigeführt wurden, und du weißt, daß die<lb/>
Existenz auf Noer immerhin eine ziemlich verwickelte Frage geworden ist. Ich<lb/>
kann nicht daran denken, mich zu verheiraten und als Gutsherr in gedeihlicher<lb/>
Thätigkeit zu leben; einsam aber auf Noer zu bleiben, nur um zu sparen und<lb/>
das Versäumte wieder einzubringen, dazu bin ich doch noch zu jung, und es<lb/>
ist gegen meine Natur, ich würde es auf die Dauer nicht aushalten... Zu<lb/>
diesem allen kommt aber noch hinzu, daß ich in letzter Zeit zu viel Trauriges<lb/>
erfahren habe, um nicht das Bedürfnis zu empfinden, mich für eine Zeit lang<lb/>
loszureißen und in fremder Umgebung meine Verluste nicht vergessen, aber er¬<lb/>
tragen zu lernen. Es giebt für solche Zustände ein einziges Heilmittel: ernstes<lb/>
Streben nach irgend einer Seite hin, das die Gedanken erfüllt und beschäftigt."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0650] Der Graf von Noer. von Marseille hatte sich das Schiff einer mehrtägigen Quarantäne zu unter¬ ziehen. Ein heftiger Mistral peitschte die Wellen zu Staub, da tauchte ein Boot auf, das dein Schiffe zulenkte, die Insassen wurden mit Mühe auf Deck gebracht. „Ich stürzte vorwärts in die Arme meiner über alles geliebten Schwester. Sie war es, die mir durch ganz Frankreich entgegengereist war, um mich in? wilden Sturm mit Todesgefahr zu begrüßen, ehe ich den Fuß auf europäischen Boden gesetzt.... Niemals werde ich diesen Augenblick ver¬ gessen, noch den großen Blick tiefsten Vertrauens und enthusiastischer Liebe, mit dem sie zu mir sagte: Nun du mir wiedergegeben bist, fürchte ich nichts mehr. Nun wird alles gut." Nachdem er der Hochzeit der Schwester beigewohnt hatte, ging er zur Ordnung der Erbschaftsnugelcgeliheiteu nach Noer, das nun in seinen Besitz übergehen sollte. „Vier Uhr morgens, am 4. Februar 1866, zog ich in Noer ein, das ich seit Oktober 1349 nicht wieder gesehen hatte. Es war einer der Momente, wie sie wohl keinem Sterblichen völlig erspart bleiben, wo die volle Tragik des Lebens mit ihrer ganze» erschütterndem Gewalt mich erfaßte. Sturm¬ und Mceresbrauseu, kahle, gespenstische Baumgruppen, weite, weißschimmernde Felder, einige Dienerschaft mit Lichtern auf der Schwelle und ich, der einsame Mann, der letzte meiner Familie!" Nach kurzer Rast ging der Prinz wieder nach London, um unter Gold- stückers Leitung seine Sanskritstudien wieder aufzunehmen. Da schied auch das letzte Glied aus dem engern Familienkreise, seine Schwester. „Der Tod meiner Schwester — schreibt er seiner Tante, der Königin Karoline Amalie von Däne¬ mark — hat mich furchtbar erschüttert, und der nagende Kummer darüber, sowie der Verdruß über die unselige Verwirrung, welche ich in den Angelegenheiten meines Vaters vorgefunden, haben meine Gesundheit sehr mitgenommen, dies umsomehr, da für mich in dieser Hinsicht nicht viel zuzusetzen ist." Dann teilt er mit, daß er abermals in die Fremde hinausziehen wolle, um Nordindien kennen zu lernen. Ihren Einwurf, daß sie nicht begreife, warum er nicht ruhig in Noer bliebe, beantwortete er damit: „Du kennst die Verhältnisse, wie sie durch den Tod meines Vaters herbeigeführt wurden, und du weißt, daß die Existenz auf Noer immerhin eine ziemlich verwickelte Frage geworden ist. Ich kann nicht daran denken, mich zu verheiraten und als Gutsherr in gedeihlicher Thätigkeit zu leben; einsam aber auf Noer zu bleiben, nur um zu sparen und das Versäumte wieder einzubringen, dazu bin ich doch noch zu jung, und es ist gegen meine Natur, ich würde es auf die Dauer nicht aushalten... Zu diesem allen kommt aber noch hinzu, daß ich in letzter Zeit zu viel Trauriges erfahren habe, um nicht das Bedürfnis zu empfinden, mich für eine Zeit lang loszureißen und in fremder Umgebung meine Verluste nicht vergessen, aber er¬ tragen zu lernen. Es giebt für solche Zustände ein einziges Heilmittel: ernstes Streben nach irgend einer Seite hin, das die Gedanken erfüllt und beschäftigt."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/650
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/650>, abgerufen am 23.12.2024.