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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

waren mir die kleinen Schauspiele, die alle einen moralischen Hintergrund haben
und weil sie etwas Geschehenes darstellen, wohl geeignet sind, das kindliche
Gemüt in lebhafte Mitleidenschaft zu ziehen. Über alle Maßen aber entzückte
mich "Robinson Crusoe," den ich in der Bibliothek des Vaters entdeckte und
mit seiner Genehmigung zu lesen begann. Es war die Übersetzung des echten
Defveschcn Buches, nur daß der Anfang der Erzählung von England nach
Deutschland, nämlich nach Hamburg, verlegt war. Das mit Bildern versehene
Buch ergriff mich in nicht zu beschreibender Weise, sodaß ich mich garnicht
davon loszureißen vermochte. Ich vergaß darüber Essen und Trinken, ja selbst
das Lernen der sehr mäßigen grammatikalischen Aufgaben, die mir der Vater
stellte, und hatte am nächsten Tage wohlverdienten Verdruß davon. Eine selbst¬
verständliche Folge dieser Nachlässigkeit war, daß mir der Vater mit Entziehung
des anziehenden Buches drohte, jedenfalls das beste Mittel, mich zur Erfüllung
einer Pflicht moralisch anzuhalten. Ich hätte zweifellos das verrückteste Zeug
gelernt, um nur wieder in den Besitz des geliebten "Robinson" zu kommen. Nie
wieder habe ich ein Buch mit so unbeschreiblich hohem Genuß nicht gelesen,
nein verschlungen und wieder verschlungen. Ich konnte nicht satt werden, mich
in das Leben, die Leiden und Freude" des armen Schiffbrüchigen zu vertiefe",
an die ich mit ganzer Seele glaubte. Nebenbei aber erschien mir auch die ferne
Seestadt, in der sich solche unerhörte Dinge zutragen konnten, in einer zauber¬
haften Atmosphäre, und der Wunsch, Hamburg einmal im Leben zu betreten,
gehörte zu den heißesten meiner Kindheit.

Wie oft ich "Robinson Crusoe" gelesen habe, weiß ich nicht mehr, wahr
aber ist es, daß ich das Buch, sobald ich es beendigt hatte, sofort wieder von
vorn anfing, was meinen Vater veranlaßte, die mir Gefahr drohende Lektüre
schließlich alles Ernstes zu verbieten. Mit solchem Verbote ließ sich aber der
einmal erwachte Trieb nach Belehrung nicht unterdrücken. Mich lockte das
Ferne, das Fremde, das Wunderbare, und wäre die Versuchung an mich heran-
getreten wie an Robinson, so würde ich ihr schwerlich widerstanden haben.

Der Vater besaß eine bändereiche Bibliothek, die meistenteils theologische,
asketische und pädagogische Bücher ältern Stils enthielt. Eine Anzahl latei¬
nischer Klassiker, ebenfalls alte und von Druckfehlern wimmelnde Ausgaben,
fehlten auch nicht darin; dagegen war die Zahl der Bücher mit allgemein be¬
lehrendem Inhalt nicht eben stark. Indes fand sich doch Einzelnes darunter,
das Knaben ohne Bedenken zur Anregung in die Hand gegeben werden konnte.
Zunächst bemächtigte ich mich einer Übersetzung von Cooks "Reise um die Welt,"
die ich mit gleichem Heißhunger wie "Robinson Crusoe" verschlang. Andre
Schriften geographisch beschreibende" Inhalts folgten, befriedigten mich aber
wenig, weil sie vermutlich zu trocken abgefaßt waren oder das abenteuerliche
Element in ihnen garnicht vertreten war. Zu diesen Schriften gehörte eine
bedeutende Anzahl Hefte, welche Missionsberichte enthielten. Mit diesen wurde


Jugenderinnerungen.

waren mir die kleinen Schauspiele, die alle einen moralischen Hintergrund haben
und weil sie etwas Geschehenes darstellen, wohl geeignet sind, das kindliche
Gemüt in lebhafte Mitleidenschaft zu ziehen. Über alle Maßen aber entzückte
mich „Robinson Crusoe," den ich in der Bibliothek des Vaters entdeckte und
mit seiner Genehmigung zu lesen begann. Es war die Übersetzung des echten
Defveschcn Buches, nur daß der Anfang der Erzählung von England nach
Deutschland, nämlich nach Hamburg, verlegt war. Das mit Bildern versehene
Buch ergriff mich in nicht zu beschreibender Weise, sodaß ich mich garnicht
davon loszureißen vermochte. Ich vergaß darüber Essen und Trinken, ja selbst
das Lernen der sehr mäßigen grammatikalischen Aufgaben, die mir der Vater
stellte, und hatte am nächsten Tage wohlverdienten Verdruß davon. Eine selbst¬
verständliche Folge dieser Nachlässigkeit war, daß mir der Vater mit Entziehung
des anziehenden Buches drohte, jedenfalls das beste Mittel, mich zur Erfüllung
einer Pflicht moralisch anzuhalten. Ich hätte zweifellos das verrückteste Zeug
gelernt, um nur wieder in den Besitz des geliebten „Robinson" zu kommen. Nie
wieder habe ich ein Buch mit so unbeschreiblich hohem Genuß nicht gelesen,
nein verschlungen und wieder verschlungen. Ich konnte nicht satt werden, mich
in das Leben, die Leiden und Freude» des armen Schiffbrüchigen zu vertiefe»,
an die ich mit ganzer Seele glaubte. Nebenbei aber erschien mir auch die ferne
Seestadt, in der sich solche unerhörte Dinge zutragen konnten, in einer zauber¬
haften Atmosphäre, und der Wunsch, Hamburg einmal im Leben zu betreten,
gehörte zu den heißesten meiner Kindheit.

Wie oft ich „Robinson Crusoe" gelesen habe, weiß ich nicht mehr, wahr
aber ist es, daß ich das Buch, sobald ich es beendigt hatte, sofort wieder von
vorn anfing, was meinen Vater veranlaßte, die mir Gefahr drohende Lektüre
schließlich alles Ernstes zu verbieten. Mit solchem Verbote ließ sich aber der
einmal erwachte Trieb nach Belehrung nicht unterdrücken. Mich lockte das
Ferne, das Fremde, das Wunderbare, und wäre die Versuchung an mich heran-
getreten wie an Robinson, so würde ich ihr schwerlich widerstanden haben.

Der Vater besaß eine bändereiche Bibliothek, die meistenteils theologische,
asketische und pädagogische Bücher ältern Stils enthielt. Eine Anzahl latei¬
nischer Klassiker, ebenfalls alte und von Druckfehlern wimmelnde Ausgaben,
fehlten auch nicht darin; dagegen war die Zahl der Bücher mit allgemein be¬
lehrendem Inhalt nicht eben stark. Indes fand sich doch Einzelnes darunter,
das Knaben ohne Bedenken zur Anregung in die Hand gegeben werden konnte.
Zunächst bemächtigte ich mich einer Übersetzung von Cooks „Reise um die Welt,"
die ich mit gleichem Heißhunger wie „Robinson Crusoe" verschlang. Andre
Schriften geographisch beschreibende» Inhalts folgten, befriedigten mich aber
wenig, weil sie vermutlich zu trocken abgefaßt waren oder das abenteuerliche
Element in ihnen garnicht vertreten war. Zu diesen Schriften gehörte eine
bedeutende Anzahl Hefte, welche Missionsberichte enthielten. Mit diesen wurde


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[0616] Jugenderinnerungen. waren mir die kleinen Schauspiele, die alle einen moralischen Hintergrund haben und weil sie etwas Geschehenes darstellen, wohl geeignet sind, das kindliche Gemüt in lebhafte Mitleidenschaft zu ziehen. Über alle Maßen aber entzückte mich „Robinson Crusoe," den ich in der Bibliothek des Vaters entdeckte und mit seiner Genehmigung zu lesen begann. Es war die Übersetzung des echten Defveschcn Buches, nur daß der Anfang der Erzählung von England nach Deutschland, nämlich nach Hamburg, verlegt war. Das mit Bildern versehene Buch ergriff mich in nicht zu beschreibender Weise, sodaß ich mich garnicht davon loszureißen vermochte. Ich vergaß darüber Essen und Trinken, ja selbst das Lernen der sehr mäßigen grammatikalischen Aufgaben, die mir der Vater stellte, und hatte am nächsten Tage wohlverdienten Verdruß davon. Eine selbst¬ verständliche Folge dieser Nachlässigkeit war, daß mir der Vater mit Entziehung des anziehenden Buches drohte, jedenfalls das beste Mittel, mich zur Erfüllung einer Pflicht moralisch anzuhalten. Ich hätte zweifellos das verrückteste Zeug gelernt, um nur wieder in den Besitz des geliebten „Robinson" zu kommen. Nie wieder habe ich ein Buch mit so unbeschreiblich hohem Genuß nicht gelesen, nein verschlungen und wieder verschlungen. Ich konnte nicht satt werden, mich in das Leben, die Leiden und Freude» des armen Schiffbrüchigen zu vertiefe», an die ich mit ganzer Seele glaubte. Nebenbei aber erschien mir auch die ferne Seestadt, in der sich solche unerhörte Dinge zutragen konnten, in einer zauber¬ haften Atmosphäre, und der Wunsch, Hamburg einmal im Leben zu betreten, gehörte zu den heißesten meiner Kindheit. Wie oft ich „Robinson Crusoe" gelesen habe, weiß ich nicht mehr, wahr aber ist es, daß ich das Buch, sobald ich es beendigt hatte, sofort wieder von vorn anfing, was meinen Vater veranlaßte, die mir Gefahr drohende Lektüre schließlich alles Ernstes zu verbieten. Mit solchem Verbote ließ sich aber der einmal erwachte Trieb nach Belehrung nicht unterdrücken. Mich lockte das Ferne, das Fremde, das Wunderbare, und wäre die Versuchung an mich heran- getreten wie an Robinson, so würde ich ihr schwerlich widerstanden haben. Der Vater besaß eine bändereiche Bibliothek, die meistenteils theologische, asketische und pädagogische Bücher ältern Stils enthielt. Eine Anzahl latei¬ nischer Klassiker, ebenfalls alte und von Druckfehlern wimmelnde Ausgaben, fehlten auch nicht darin; dagegen war die Zahl der Bücher mit allgemein be¬ lehrendem Inhalt nicht eben stark. Indes fand sich doch Einzelnes darunter, das Knaben ohne Bedenken zur Anregung in die Hand gegeben werden konnte. Zunächst bemächtigte ich mich einer Übersetzung von Cooks „Reise um die Welt," die ich mit gleichem Heißhunger wie „Robinson Crusoe" verschlang. Andre Schriften geographisch beschreibende» Inhalts folgten, befriedigten mich aber wenig, weil sie vermutlich zu trocken abgefaßt waren oder das abenteuerliche Element in ihnen garnicht vertreten war. Zu diesen Schriften gehörte eine bedeutende Anzahl Hefte, welche Missionsberichte enthielten. Mit diesen wurde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/616>, abgerufen am 01.07.2024.