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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.
von Ernst Willkomm. (Fortsetzung.)

o verstrich über ein halbes Jahr; da gelangte aus einem weit
entlegenen unbekannten Dorfe Böhmens mit unaussprechbarem
tschechischen Namen ein Schreiben an meinen Vater, in welchem
diesem angezeigt wurde, es sei vor mehreren Monaten ein un¬
bekannter Knabe in halbverhungertem Zustande auf der Gemar¬
kung des genannten Dorfes aufgehoben worden, dessen Aussehen mit der
Beschreibung des Vermißten in der "Prager Zeitung" genau übereinstimme.
Das Kind könne nur mit Mühe sprechen und sei schwer zu verstehen (mit
diesem Naturfehler war der Vermißte behaftet), befinde sich aber sonst wohl und
werde seit der Auffindung auf Kosten der Gemeinde verpflegt und mit andern
gleichaltrigen Kindern fleißig zur Schule angehalten.

Diese Zuschrift aus dem entlegenen Dorfe Stvckböhmens machte begreif¬
licherweise ungeheures Aufsehen, und die Kunde davon lief schnell von Ort zu
Ort. Hoffnung und Furcht bemächtigten sich der Eltern des Knaben, und von
neuem begann die kaum vernarbte Wunde wieder zu bluten. Man wagte kaum
zu hoffen, der so tief in Böhmen aufgefundene Knabe könne der tot geglaubte
sein, weil es ganz unbegreiflich blieb, daß ein hilfloses Kind ohne jegliche Be¬
gleitung so weit in die Welt habe hineinlaufen können.

Inzwischen machte sich der Vater des Vermißten in Begleitung seines
ältesten Sohnes mit eignem Gespann auf den Weg, um die Reise nach Böhmen
anzutreten. Nach anderthalb Wochen kehrten sie, von der ganzen Gemeinde
freudig begrüßt, mit dem Gefundenen glücklich zurück. Der verlaufene Knabe
hatte Vater und Bruder sofort wieder erkannt; er war größer geworden, sprach
aber mit schwerer Zunge fast ebenso viel Böhmisch wie Deutsch.




Jugenderinnerungen.
von Ernst Willkomm. (Fortsetzung.)

o verstrich über ein halbes Jahr; da gelangte aus einem weit
entlegenen unbekannten Dorfe Böhmens mit unaussprechbarem
tschechischen Namen ein Schreiben an meinen Vater, in welchem
diesem angezeigt wurde, es sei vor mehreren Monaten ein un¬
bekannter Knabe in halbverhungertem Zustande auf der Gemar¬
kung des genannten Dorfes aufgehoben worden, dessen Aussehen mit der
Beschreibung des Vermißten in der „Prager Zeitung" genau übereinstimme.
Das Kind könne nur mit Mühe sprechen und sei schwer zu verstehen (mit
diesem Naturfehler war der Vermißte behaftet), befinde sich aber sonst wohl und
werde seit der Auffindung auf Kosten der Gemeinde verpflegt und mit andern
gleichaltrigen Kindern fleißig zur Schule angehalten.

Diese Zuschrift aus dem entlegenen Dorfe Stvckböhmens machte begreif¬
licherweise ungeheures Aufsehen, und die Kunde davon lief schnell von Ort zu
Ort. Hoffnung und Furcht bemächtigten sich der Eltern des Knaben, und von
neuem begann die kaum vernarbte Wunde wieder zu bluten. Man wagte kaum
zu hoffen, der so tief in Böhmen aufgefundene Knabe könne der tot geglaubte
sein, weil es ganz unbegreiflich blieb, daß ein hilfloses Kind ohne jegliche Be¬
gleitung so weit in die Welt habe hineinlaufen können.

Inzwischen machte sich der Vater des Vermißten in Begleitung seines
ältesten Sohnes mit eignem Gespann auf den Weg, um die Reise nach Böhmen
anzutreten. Nach anderthalb Wochen kehrten sie, von der ganzen Gemeinde
freudig begrüßt, mit dem Gefundenen glücklich zurück. Der verlaufene Knabe
hatte Vater und Bruder sofort wieder erkannt; er war größer geworden, sprach
aber mit schwerer Zunge fast ebenso viel Böhmisch wie Deutsch.


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[0614] [Abbildung] Jugenderinnerungen. von Ernst Willkomm. (Fortsetzung.) o verstrich über ein halbes Jahr; da gelangte aus einem weit entlegenen unbekannten Dorfe Böhmens mit unaussprechbarem tschechischen Namen ein Schreiben an meinen Vater, in welchem diesem angezeigt wurde, es sei vor mehreren Monaten ein un¬ bekannter Knabe in halbverhungertem Zustande auf der Gemar¬ kung des genannten Dorfes aufgehoben worden, dessen Aussehen mit der Beschreibung des Vermißten in der „Prager Zeitung" genau übereinstimme. Das Kind könne nur mit Mühe sprechen und sei schwer zu verstehen (mit diesem Naturfehler war der Vermißte behaftet), befinde sich aber sonst wohl und werde seit der Auffindung auf Kosten der Gemeinde verpflegt und mit andern gleichaltrigen Kindern fleißig zur Schule angehalten. Diese Zuschrift aus dem entlegenen Dorfe Stvckböhmens machte begreif¬ licherweise ungeheures Aufsehen, und die Kunde davon lief schnell von Ort zu Ort. Hoffnung und Furcht bemächtigten sich der Eltern des Knaben, und von neuem begann die kaum vernarbte Wunde wieder zu bluten. Man wagte kaum zu hoffen, der so tief in Böhmen aufgefundene Knabe könne der tot geglaubte sein, weil es ganz unbegreiflich blieb, daß ein hilfloses Kind ohne jegliche Be¬ gleitung so weit in die Welt habe hineinlaufen können. Inzwischen machte sich der Vater des Vermißten in Begleitung seines ältesten Sohnes mit eignem Gespann auf den Weg, um die Reise nach Böhmen anzutreten. Nach anderthalb Wochen kehrten sie, von der ganzen Gemeinde freudig begrüßt, mit dem Gefundenen glücklich zurück. Der verlaufene Knabe hatte Vater und Bruder sofort wieder erkannt; er war größer geworden, sprach aber mit schwerer Zunge fast ebenso viel Böhmisch wie Deutsch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/614>, abgerufen am 01.07.2024.