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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

unentgeltlich beschafft hatte. Auch andre Gaben, darunter ein schön gearbeiteter
Kelch, flössen dem Gotteshause von wohlhabenden Gliedern der Gemeinde zu.

Am meisten Interesse für mich, meinen dörflichen Gefährten und Wohl
überhaupt für alle Knaben hatte das schwindelnde Gerüst, mit welchem der ge¬
schickteste Zimmermeister des Orts die Turmspitze umgürtete, um Knopf und
Fahne abzunehmen, die beide einer neuen Vergoldung sehr bedürftig waren.
Zu genauer Betrachtung dieser Turmzieraten hatte ich Muße genug, da sie
tagelang in strahlender Herrlichkeit im Pastorat aufgestellt blieben, ehe sie unter
entsprechenden Feierlichkeiten durch den wagehalsigen Meister Scholz wieder an
Ort lind Stelle befestigt wurden. Auf die Festfeier selbst freute ich mich sehr,
denn ich sollte im Verein mit meinem ältern Bruder dabei eine Rolle spielen,
die mir wichtig vorkam. Es war nämlich wie auch anderwärts ein öffentlicher
Umzug der gesamten Schuljugend dnrch einen Teil des Dorfes unter Musik und
Chorgesang, und unter Führung des Vaters und der Lehrer in Aussicht ge¬
nommen. Bei diesem Umzüge trugen wir beiden Brüder abwechselnd ans blau-
seidenen Kissen die Bibel an der Spitze des Zuges, um sie später in der Kirche
auf den blumengeschmückten Altar niederzulegen. Eine noch bedeutendere Auf¬
gabe fiel dem Bruder und mir in der Kirche selbst zu. Hier mußten wir
nämlich vor versammelter Gemeinde an dem bekränzten Taufsteine niederknieen
und jeder einen auf das bedeutungsvolle Fest bezüglichen Licdervers hersagen.

Die Kirche war brechend voll; Kopf an Kopf gedrängt standen die vielen
Menschen, die keinen Platz in den Bänken und auf den breiten Emporen fanden,
in den Gängen und bis hinaus auf den Kirchhof. Unter diesen gab es eine
nicht geringe Anzahl Fremder, welche zum Teil stundenweit hergekommen
waren, um die Reformationsprcdigt des Vaters zu hören, der sich als Kanzel-
redner eines wohlverdienten Rufes in weitem Umkreise erfreute.

Mein erster Versuch, vor vielen Hunderten, ohne zu stottern, einen kleine"
Vortrag zu halten, verlief zufriedenstellend und trug mir ein Lob des Vaters
ein, das mich sehr stolz machte, denn ich wußte, das; der Vater, der an sich
selbst große Ansprüche machte und sich selten genügte, nicht leicht zu befriedigen
war. Lauge noch klang in meiner Seele ein Echo dieser Neformntionsfeier
nach, obwohl mir von dem weiteren Verlaufe der Festlichkeit nichts mehr er¬
innerlich ist.

Ungefähr in diese Zeit -- des Jahres kann ich mich nicht mehr entsinnen --
versetzte ein betrübendes Ereignis die ganze Gemeinde in allgemeine Bestürzung.
Es war im Frühsommer, wo die Walderdbeeren zu reifen beginnen. Diese
würzige Frucht wuchs auf den wcildigcu Höhen der nächsten Umgegend in
Menge und wurde massenhaft von den Kindern armer Leute gesammelt und
dann in Zittau verkauft. Da jedermann im freien Walde zum Beercusuchcu be¬
rechtigt war, so machte natürlich die gesamte Jugend sich dieses Recht zu Nutze,
und erlabte sich nach Lust und Laune an der köstliche" Frucht. Eine Anzahl


Grenzboten I. 1W7. 7V
Jugenderinnerungen.

unentgeltlich beschafft hatte. Auch andre Gaben, darunter ein schön gearbeiteter
Kelch, flössen dem Gotteshause von wohlhabenden Gliedern der Gemeinde zu.

Am meisten Interesse für mich, meinen dörflichen Gefährten und Wohl
überhaupt für alle Knaben hatte das schwindelnde Gerüst, mit welchem der ge¬
schickteste Zimmermeister des Orts die Turmspitze umgürtete, um Knopf und
Fahne abzunehmen, die beide einer neuen Vergoldung sehr bedürftig waren.
Zu genauer Betrachtung dieser Turmzieraten hatte ich Muße genug, da sie
tagelang in strahlender Herrlichkeit im Pastorat aufgestellt blieben, ehe sie unter
entsprechenden Feierlichkeiten durch den wagehalsigen Meister Scholz wieder an
Ort lind Stelle befestigt wurden. Auf die Festfeier selbst freute ich mich sehr,
denn ich sollte im Verein mit meinem ältern Bruder dabei eine Rolle spielen,
die mir wichtig vorkam. Es war nämlich wie auch anderwärts ein öffentlicher
Umzug der gesamten Schuljugend dnrch einen Teil des Dorfes unter Musik und
Chorgesang, und unter Führung des Vaters und der Lehrer in Aussicht ge¬
nommen. Bei diesem Umzüge trugen wir beiden Brüder abwechselnd ans blau-
seidenen Kissen die Bibel an der Spitze des Zuges, um sie später in der Kirche
auf den blumengeschmückten Altar niederzulegen. Eine noch bedeutendere Auf¬
gabe fiel dem Bruder und mir in der Kirche selbst zu. Hier mußten wir
nämlich vor versammelter Gemeinde an dem bekränzten Taufsteine niederknieen
und jeder einen auf das bedeutungsvolle Fest bezüglichen Licdervers hersagen.

Die Kirche war brechend voll; Kopf an Kopf gedrängt standen die vielen
Menschen, die keinen Platz in den Bänken und auf den breiten Emporen fanden,
in den Gängen und bis hinaus auf den Kirchhof. Unter diesen gab es eine
nicht geringe Anzahl Fremder, welche zum Teil stundenweit hergekommen
waren, um die Reformationsprcdigt des Vaters zu hören, der sich als Kanzel-
redner eines wohlverdienten Rufes in weitem Umkreise erfreute.

Mein erster Versuch, vor vielen Hunderten, ohne zu stottern, einen kleine»
Vortrag zu halten, verlief zufriedenstellend und trug mir ein Lob des Vaters
ein, das mich sehr stolz machte, denn ich wußte, das; der Vater, der an sich
selbst große Ansprüche machte und sich selten genügte, nicht leicht zu befriedigen
war. Lauge noch klang in meiner Seele ein Echo dieser Neformntionsfeier
nach, obwohl mir von dem weiteren Verlaufe der Festlichkeit nichts mehr er¬
innerlich ist.

Ungefähr in diese Zeit — des Jahres kann ich mich nicht mehr entsinnen —
versetzte ein betrübendes Ereignis die ganze Gemeinde in allgemeine Bestürzung.
Es war im Frühsommer, wo die Walderdbeeren zu reifen beginnen. Diese
würzige Frucht wuchs auf den wcildigcu Höhen der nächsten Umgegend in
Menge und wurde massenhaft von den Kindern armer Leute gesammelt und
dann in Zittau verkauft. Da jedermann im freien Walde zum Beercusuchcu be¬
rechtigt war, so machte natürlich die gesamte Jugend sich dieses Recht zu Nutze,
und erlabte sich nach Lust und Laune an der köstliche» Frucht. Eine Anzahl


Grenzboten I. 1W7. 7V
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[0561] Jugenderinnerungen. unentgeltlich beschafft hatte. Auch andre Gaben, darunter ein schön gearbeiteter Kelch, flössen dem Gotteshause von wohlhabenden Gliedern der Gemeinde zu. Am meisten Interesse für mich, meinen dörflichen Gefährten und Wohl überhaupt für alle Knaben hatte das schwindelnde Gerüst, mit welchem der ge¬ schickteste Zimmermeister des Orts die Turmspitze umgürtete, um Knopf und Fahne abzunehmen, die beide einer neuen Vergoldung sehr bedürftig waren. Zu genauer Betrachtung dieser Turmzieraten hatte ich Muße genug, da sie tagelang in strahlender Herrlichkeit im Pastorat aufgestellt blieben, ehe sie unter entsprechenden Feierlichkeiten durch den wagehalsigen Meister Scholz wieder an Ort lind Stelle befestigt wurden. Auf die Festfeier selbst freute ich mich sehr, denn ich sollte im Verein mit meinem ältern Bruder dabei eine Rolle spielen, die mir wichtig vorkam. Es war nämlich wie auch anderwärts ein öffentlicher Umzug der gesamten Schuljugend dnrch einen Teil des Dorfes unter Musik und Chorgesang, und unter Führung des Vaters und der Lehrer in Aussicht ge¬ nommen. Bei diesem Umzüge trugen wir beiden Brüder abwechselnd ans blau- seidenen Kissen die Bibel an der Spitze des Zuges, um sie später in der Kirche auf den blumengeschmückten Altar niederzulegen. Eine noch bedeutendere Auf¬ gabe fiel dem Bruder und mir in der Kirche selbst zu. Hier mußten wir nämlich vor versammelter Gemeinde an dem bekränzten Taufsteine niederknieen und jeder einen auf das bedeutungsvolle Fest bezüglichen Licdervers hersagen. Die Kirche war brechend voll; Kopf an Kopf gedrängt standen die vielen Menschen, die keinen Platz in den Bänken und auf den breiten Emporen fanden, in den Gängen und bis hinaus auf den Kirchhof. Unter diesen gab es eine nicht geringe Anzahl Fremder, welche zum Teil stundenweit hergekommen waren, um die Reformationsprcdigt des Vaters zu hören, der sich als Kanzel- redner eines wohlverdienten Rufes in weitem Umkreise erfreute. Mein erster Versuch, vor vielen Hunderten, ohne zu stottern, einen kleine» Vortrag zu halten, verlief zufriedenstellend und trug mir ein Lob des Vaters ein, das mich sehr stolz machte, denn ich wußte, das; der Vater, der an sich selbst große Ansprüche machte und sich selten genügte, nicht leicht zu befriedigen war. Lauge noch klang in meiner Seele ein Echo dieser Neformntionsfeier nach, obwohl mir von dem weiteren Verlaufe der Festlichkeit nichts mehr er¬ innerlich ist. Ungefähr in diese Zeit — des Jahres kann ich mich nicht mehr entsinnen — versetzte ein betrübendes Ereignis die ganze Gemeinde in allgemeine Bestürzung. Es war im Frühsommer, wo die Walderdbeeren zu reifen beginnen. Diese würzige Frucht wuchs auf den wcildigcu Höhen der nächsten Umgegend in Menge und wurde massenhaft von den Kindern armer Leute gesammelt und dann in Zittau verkauft. Da jedermann im freien Walde zum Beercusuchcu be¬ rechtigt war, so machte natürlich die gesamte Jugend sich dieses Recht zu Nutze, und erlabte sich nach Lust und Laune an der köstliche» Frucht. Eine Anzahl Grenzboten I. 1W7. 7V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/561>, abgerufen am 23.07.2024.