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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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falls von der Art, daß man sich wohl fragen darf, ob es wirklich erstrebens¬
wert sei. Die Fragen, die heute an uns herantreten, haben in der Regel mit
der Frage, ob liberal oder konservativ, nichts zu thun. Sie liegen auf ganz
andern Gebieten der Staatsweisheit. Und nichts ist beklagenswerter, als wenn
Parteien, weil sie "liberal" sein wollen, solche Fragen nach einer vermeintlich
liberalen Schablone behandeln. Als im Jahre 1878 zuerst das Sozialiften-
gesetz auftrat, wurde es von liberaler Seite mit dem Satze bekämpft, "es dürfe
nur auf dem Wege gemeinen Rechtes gegen die Sozialdemokratie vorgeschritten
werden." Dieser Satz (den, wenn wir nicht irren, zuerst Laster aufgestellt hatte)
gründete sich ans die Schlußfolgerung: "Ausnahmegesetze sind im liberalen
Staate unzulässig. Das Sozialistcugesctz ist ein Ausnahmegesetz. Folglich!"
Wer möchte Wohl heute noch jenen Satz aufrecht erhalten? Sieht man nicht
ein, daß gerade durch die Beschränkung jenes Gesetzes ans die gemeingefährlichen
Bestrebungen der Sozialdemokratie die bürgerliche Freiheit im allgemeinen weit
mehr gewahrt worden ist, als wenn man mit "gemeinrechtlichen" Gesetzen vor¬
geschritten wäre? Als im Jahre 1879 die Frage wegen Erweiterung der
Schutzzölle an den Reichstag herantrat, glaubten viele Liberale, den Freihandel
als ein unantastbares Kleinod ihres Liberalismus verteidigen zu müssen. Was
aber hat, verständig betrachtet, Freihandel oder Schutzzoll mit Liberalismus
oder Nicht-Liberalismus zu thun? Als die Frage der Unfallversicherung auf¬
trat, fanden viele Liberale vom Standpunkt ihres liberalen Prinzips aus es
unerträglich, daß der Staat hier in die Freiheit des wirtschaftlichen Verkehrs
eingreifen wolle. Nur durch Ausdehnung des Haftpslichtgesetzes, also auf dem
Wege unendlicher Prozesse, und mit Erhaltung der Privatversicherungen dürfe
deu Arbeitern geholfen werden. War das wirklich liberal? Und ist es illiberal,
wenn der Staat sich der bedrängten Klassen unsrer Bevölkerung annimmt und
ihnen durch unmittelbares Eingreifen zu helfen sucht? Öfters freilich sind diese
"liberalen Grundsätze" nichts andres, als geheime Begünstigungen gewisser
Gesellschaftsklassen, welche die liberalen Parteien vorzugsweise als die ihrigen
betrachten.

Wir wünschen aufrichtig, daß die nationalliberale Partei den liberalen Ge¬
danken seiner wahren Bedeutung nach im Reichstage vertrete und hochhalte;
gerade so, wie wir es anderseits auch für nützlich halten, daß der konservative
Gedanke von andern Parteien im Reichstage vertreten sei. Nur aus einer ver¬
ständigen Vermittlung zwischen beiden kann das Wohl des Staates hervor¬
gehen. Lebhaft aber wünschen wir auch, daß die nationalliberale Partei, un¬
beirrt durch die Schmähungen, die ihr vielleicht deshalb zu Teil werdeu, den
Fehler eines Schablonenhaften Liberalismus, von welchem ihre Vergangenheit
nicht ganz freizusprechen ist, bei ihrer Wiedererstehung vermeide.




falls von der Art, daß man sich wohl fragen darf, ob es wirklich erstrebens¬
wert sei. Die Fragen, die heute an uns herantreten, haben in der Regel mit
der Frage, ob liberal oder konservativ, nichts zu thun. Sie liegen auf ganz
andern Gebieten der Staatsweisheit. Und nichts ist beklagenswerter, als wenn
Parteien, weil sie „liberal" sein wollen, solche Fragen nach einer vermeintlich
liberalen Schablone behandeln. Als im Jahre 1878 zuerst das Sozialiften-
gesetz auftrat, wurde es von liberaler Seite mit dem Satze bekämpft, „es dürfe
nur auf dem Wege gemeinen Rechtes gegen die Sozialdemokratie vorgeschritten
werden." Dieser Satz (den, wenn wir nicht irren, zuerst Laster aufgestellt hatte)
gründete sich ans die Schlußfolgerung: „Ausnahmegesetze sind im liberalen
Staate unzulässig. Das Sozialistcugesctz ist ein Ausnahmegesetz. Folglich!"
Wer möchte Wohl heute noch jenen Satz aufrecht erhalten? Sieht man nicht
ein, daß gerade durch die Beschränkung jenes Gesetzes ans die gemeingefährlichen
Bestrebungen der Sozialdemokratie die bürgerliche Freiheit im allgemeinen weit
mehr gewahrt worden ist, als wenn man mit „gemeinrechtlichen" Gesetzen vor¬
geschritten wäre? Als im Jahre 1879 die Frage wegen Erweiterung der
Schutzzölle an den Reichstag herantrat, glaubten viele Liberale, den Freihandel
als ein unantastbares Kleinod ihres Liberalismus verteidigen zu müssen. Was
aber hat, verständig betrachtet, Freihandel oder Schutzzoll mit Liberalismus
oder Nicht-Liberalismus zu thun? Als die Frage der Unfallversicherung auf¬
trat, fanden viele Liberale vom Standpunkt ihres liberalen Prinzips aus es
unerträglich, daß der Staat hier in die Freiheit des wirtschaftlichen Verkehrs
eingreifen wolle. Nur durch Ausdehnung des Haftpslichtgesetzes, also auf dem
Wege unendlicher Prozesse, und mit Erhaltung der Privatversicherungen dürfe
deu Arbeitern geholfen werden. War das wirklich liberal? Und ist es illiberal,
wenn der Staat sich der bedrängten Klassen unsrer Bevölkerung annimmt und
ihnen durch unmittelbares Eingreifen zu helfen sucht? Öfters freilich sind diese
„liberalen Grundsätze" nichts andres, als geheime Begünstigungen gewisser
Gesellschaftsklassen, welche die liberalen Parteien vorzugsweise als die ihrigen
betrachten.

Wir wünschen aufrichtig, daß die nationalliberale Partei den liberalen Ge¬
danken seiner wahren Bedeutung nach im Reichstage vertrete und hochhalte;
gerade so, wie wir es anderseits auch für nützlich halten, daß der konservative
Gedanke von andern Parteien im Reichstage vertreten sei. Nur aus einer ver¬
ständigen Vermittlung zwischen beiden kann das Wohl des Staates hervor¬
gehen. Lebhaft aber wünschen wir auch, daß die nationalliberale Partei, un¬
beirrt durch die Schmähungen, die ihr vielleicht deshalb zu Teil werdeu, den
Fehler eines Schablonenhaften Liberalismus, von welchem ihre Vergangenheit
nicht ganz freizusprechen ist, bei ihrer Wiedererstehung vermeide.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/515>, abgerufen am 01.07.2024.