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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

Von Vater und Mutter hörten wir Kinder ja so oft, daß Gott ein liebevoller
Vater sei, der die Bitten seiner Kinder gern und gnädig erhöre. Und weil ich
mir in der entsetzlichen Angst meines Herzens nicht mehr zu helfen wußte, so
sagte ich alle die kleinen Gebete und Sprüche her, die ich von der Mutter ge¬
lernt hatte, hielt die Hände über der heißklopfenden Brust so fest gefaltet, daß
sie mich schmerzten, und flehte unter strömenden Thränen um Schlaf. Aber
wie lange und inbrünstig ich auch bat, Gott erbarmte sich des betenden Knaben
nicht, und mir wurde in dem unfreundlichen, kalten Schlafzimmer, an dessen
weißgekalktc Wände die unruhig flackernde Nachtlampe gespenstische Schatten
malte, die sich in meiner Phantasie zu grinsenden Kobolden verwandelten, so
unaussprechlich bange, daß ich mir in jenen qualvollen Nächten sehr oft den
Tod gewünscht habe.

Leider war die Lage unsers Hauses ganz dazu geeignet, von Furcht er¬
griffene Gemüter in immer größere Angst zu versetzen. Das Pastorat, ein
altes, sehr geräumiges, aber auch sehr unwohnliches Gebäude, lag hart am
Kirchhofe; es wurde von diesem nnr durch zwei schmale Gärtchen getrennt, die
ein hölzerner Vorbau, welcher von uns "die Halle" genannt wurde, durch Thüren
unter einander verband. In dem größeren dieser Gärtchen, die beide sich durch
eiuen großen Reichtum der prächtigsten Zentifolien auszeichneten, befand sich
ein hölzernes Lusthaus, in welchem nur im Sommer oft die Mittagsmahlzeiten
einnahmen.

Gingen wir zur Kirche, so mußten wir die Halle durchschreiten. Dann
führte ein gepflasterter Weg zwischen zwei Reihen vou Gräbern nach dem Haupt¬
eingange der Kirche. Sehr viele, namentlich ältere Gräber waren mit Kreuzen
verziert, deren Querbalken durch schräge Leisten mit dem Hnuptpfahl des Kreuzes
so verbunden werden, daß sie ein geschlossenes Dreieck bildeten. Das Innere
desselben enthielt gewöhnlich eine Blechtafel, worauf das Jahr der Geburt ?c.
des Verstorbenen eingegraben war. Um diese Inschriften möglichst gegen die
Einwirkung des Wetters zu schützen, war davor eine Thür von Eisenblech an¬
gebracht, die sich leicht öffnen ließ. Meine Geschwister und ich unterhielten uns
oft damit, diese zahlreichen Kreuzinschriften zu lesen, was uns umso weniger
Mühe machte, als die Thüren der meisten locker in ihren Angeln hingen und
sich selten fest zudrücken ließen.

Außer diesen schwarz oder doch dunkel angestrichenen morschen Kreuzen
gab es auch noch eine große Menge sehr ansehnlicher, aber zum Teil ge¬
schmacklos verschnörkelter Leichensteine, die an der Außenseite der Kirche wie
an der Kirchhofsmauer aufrecht standen und mit einem breiten blechernen Schutz¬
dache versehen waren. An den ältern Denkmälern dieser Art, um deren Er¬
haltung sich niemand mehr kümmerte, war die Blechbcdachung sehr schadhaft
geworden und schlug im Winde bald gegen die Grabsteine, bald gegen die Kirchen¬
wand. Ebenso gerieten in unaufhörliche Bewegung die erwähnten Blechthüren


Jugenderinnerungen.

Von Vater und Mutter hörten wir Kinder ja so oft, daß Gott ein liebevoller
Vater sei, der die Bitten seiner Kinder gern und gnädig erhöre. Und weil ich
mir in der entsetzlichen Angst meines Herzens nicht mehr zu helfen wußte, so
sagte ich alle die kleinen Gebete und Sprüche her, die ich von der Mutter ge¬
lernt hatte, hielt die Hände über der heißklopfenden Brust so fest gefaltet, daß
sie mich schmerzten, und flehte unter strömenden Thränen um Schlaf. Aber
wie lange und inbrünstig ich auch bat, Gott erbarmte sich des betenden Knaben
nicht, und mir wurde in dem unfreundlichen, kalten Schlafzimmer, an dessen
weißgekalktc Wände die unruhig flackernde Nachtlampe gespenstische Schatten
malte, die sich in meiner Phantasie zu grinsenden Kobolden verwandelten, so
unaussprechlich bange, daß ich mir in jenen qualvollen Nächten sehr oft den
Tod gewünscht habe.

Leider war die Lage unsers Hauses ganz dazu geeignet, von Furcht er¬
griffene Gemüter in immer größere Angst zu versetzen. Das Pastorat, ein
altes, sehr geräumiges, aber auch sehr unwohnliches Gebäude, lag hart am
Kirchhofe; es wurde von diesem nnr durch zwei schmale Gärtchen getrennt, die
ein hölzerner Vorbau, welcher von uns „die Halle" genannt wurde, durch Thüren
unter einander verband. In dem größeren dieser Gärtchen, die beide sich durch
eiuen großen Reichtum der prächtigsten Zentifolien auszeichneten, befand sich
ein hölzernes Lusthaus, in welchem nur im Sommer oft die Mittagsmahlzeiten
einnahmen.

Gingen wir zur Kirche, so mußten wir die Halle durchschreiten. Dann
führte ein gepflasterter Weg zwischen zwei Reihen vou Gräbern nach dem Haupt¬
eingange der Kirche. Sehr viele, namentlich ältere Gräber waren mit Kreuzen
verziert, deren Querbalken durch schräge Leisten mit dem Hnuptpfahl des Kreuzes
so verbunden werden, daß sie ein geschlossenes Dreieck bildeten. Das Innere
desselben enthielt gewöhnlich eine Blechtafel, worauf das Jahr der Geburt ?c.
des Verstorbenen eingegraben war. Um diese Inschriften möglichst gegen die
Einwirkung des Wetters zu schützen, war davor eine Thür von Eisenblech an¬
gebracht, die sich leicht öffnen ließ. Meine Geschwister und ich unterhielten uns
oft damit, diese zahlreichen Kreuzinschriften zu lesen, was uns umso weniger
Mühe machte, als die Thüren der meisten locker in ihren Angeln hingen und
sich selten fest zudrücken ließen.

Außer diesen schwarz oder doch dunkel angestrichenen morschen Kreuzen
gab es auch noch eine große Menge sehr ansehnlicher, aber zum Teil ge¬
schmacklos verschnörkelter Leichensteine, die an der Außenseite der Kirche wie
an der Kirchhofsmauer aufrecht standen und mit einem breiten blechernen Schutz¬
dache versehen waren. An den ältern Denkmälern dieser Art, um deren Er¬
haltung sich niemand mehr kümmerte, war die Blechbcdachung sehr schadhaft
geworden und schlug im Winde bald gegen die Grabsteine, bald gegen die Kirchen¬
wand. Ebenso gerieten in unaufhörliche Bewegung die erwähnten Blechthüren


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[0499] Jugenderinnerungen. Von Vater und Mutter hörten wir Kinder ja so oft, daß Gott ein liebevoller Vater sei, der die Bitten seiner Kinder gern und gnädig erhöre. Und weil ich mir in der entsetzlichen Angst meines Herzens nicht mehr zu helfen wußte, so sagte ich alle die kleinen Gebete und Sprüche her, die ich von der Mutter ge¬ lernt hatte, hielt die Hände über der heißklopfenden Brust so fest gefaltet, daß sie mich schmerzten, und flehte unter strömenden Thränen um Schlaf. Aber wie lange und inbrünstig ich auch bat, Gott erbarmte sich des betenden Knaben nicht, und mir wurde in dem unfreundlichen, kalten Schlafzimmer, an dessen weißgekalktc Wände die unruhig flackernde Nachtlampe gespenstische Schatten malte, die sich in meiner Phantasie zu grinsenden Kobolden verwandelten, so unaussprechlich bange, daß ich mir in jenen qualvollen Nächten sehr oft den Tod gewünscht habe. Leider war die Lage unsers Hauses ganz dazu geeignet, von Furcht er¬ griffene Gemüter in immer größere Angst zu versetzen. Das Pastorat, ein altes, sehr geräumiges, aber auch sehr unwohnliches Gebäude, lag hart am Kirchhofe; es wurde von diesem nnr durch zwei schmale Gärtchen getrennt, die ein hölzerner Vorbau, welcher von uns „die Halle" genannt wurde, durch Thüren unter einander verband. In dem größeren dieser Gärtchen, die beide sich durch eiuen großen Reichtum der prächtigsten Zentifolien auszeichneten, befand sich ein hölzernes Lusthaus, in welchem nur im Sommer oft die Mittagsmahlzeiten einnahmen. Gingen wir zur Kirche, so mußten wir die Halle durchschreiten. Dann führte ein gepflasterter Weg zwischen zwei Reihen vou Gräbern nach dem Haupt¬ eingange der Kirche. Sehr viele, namentlich ältere Gräber waren mit Kreuzen verziert, deren Querbalken durch schräge Leisten mit dem Hnuptpfahl des Kreuzes so verbunden werden, daß sie ein geschlossenes Dreieck bildeten. Das Innere desselben enthielt gewöhnlich eine Blechtafel, worauf das Jahr der Geburt ?c. des Verstorbenen eingegraben war. Um diese Inschriften möglichst gegen die Einwirkung des Wetters zu schützen, war davor eine Thür von Eisenblech an¬ gebracht, die sich leicht öffnen ließ. Meine Geschwister und ich unterhielten uns oft damit, diese zahlreichen Kreuzinschriften zu lesen, was uns umso weniger Mühe machte, als die Thüren der meisten locker in ihren Angeln hingen und sich selten fest zudrücken ließen. Außer diesen schwarz oder doch dunkel angestrichenen morschen Kreuzen gab es auch noch eine große Menge sehr ansehnlicher, aber zum Teil ge¬ schmacklos verschnörkelter Leichensteine, die an der Außenseite der Kirche wie an der Kirchhofsmauer aufrecht standen und mit einem breiten blechernen Schutz¬ dache versehen waren. An den ältern Denkmälern dieser Art, um deren Er¬ haltung sich niemand mehr kümmerte, war die Blechbcdachung sehr schadhaft geworden und schlug im Winde bald gegen die Grabsteine, bald gegen die Kirchen¬ wand. Ebenso gerieten in unaufhörliche Bewegung die erwähnten Blechthüren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/499>, abgerufen am 01.07.2024.