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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

mehr als einjähriger Dauer gegen 1,60 Prozent. Dagegen wurde in 58,66
Prozent Fällen Gefängnisstrafe unter drei Monaten verhängt, und auf Geld¬
strafen in 19,21 Prozent Fällen erkannt, während 18,22 Prozent Verurteilte
eine Gefängnisstrafe erhielten, die sich zwischen drei Monaten und einem Jahre
bewegte. Auf die Verurteilungen zu kurzer Gefängnisstrafe und zu Geld¬
strafe fielen somit nicht weniger als 96,09 Prozent aller Verurteilungen. Man
nimmt ein,*) daß bei mehr als 50 Prozent aller Verurteilungen die erkannte
Strafe nicht den Betrag von zwei Monaten erreichte, und angesichts der vor¬
stehenden Zahlen muß diese Vermutung als eine höchst wahrscheinliche gelten,
namentlich, wenn man sich daran erinnert, daß mit der Zubilligung mildernder
Umstände vielleicht bei keinem Vergehen ein solch unverständiger Mißbrauch ge¬
trieben wird, wie gerade bei den Körperverletzungen. Eine solche Strafjustiz,
geübt gegenüber einem Verbrechen, dessen Häufigkeit sich im Verlaufe von vier
Jahren um mehr als 27 Prozent vermehrt hat, muß unbedingt für die Zu¬
nahme mit verantwortlich gemacht werden. Es ist eine recht schöne Sache um
die Milde, aber sie verwandelt sich in Grausamkeit gegen die Gesellschaft, wenn
sie am unrichtigen Orte angewendet wird. Und wer möchte im Zweifel sein,
daß die Körperverletzungen nicht der richtige Ort für milde Strafen sind! Sind
die Messerhelden Deutschlands vielleicht sanfte Lämmer, daß man sie mit wenigen
Monaten für genügend bestraft hält, oder sind die von ihnen verübten Straf¬
thaten so unschuldiger Natur, daß man eine Strafe ausspricht, die nicht nur
keine abschreckende Wirkung ausübt, sondern fast wie eine Belohnung wirkt, die
der Staat auf das Verbrechen setzt? Wahrlich, die Milde und die Weichherzig¬
keit war niemals weniger am Platze als gegenüber den Personen, welche regel¬
mäßig wegen einer gefährlichen Körperverletzung vor den Schranken der Gerichte
erscheinen. Man muß die tierische Rohheit, welche in den Thaten dieses Ge¬
züchts sich verkörpert, aus der Nähe kennen gelernt haben, um die ganze Ent¬
rüstung zu begreifen, welche jeden bei der Kunde von diesen Strafsätzen ergreifen
muß, der nicht will, daß der staatliche Rechtsschutz mit Füßen getreten werde
und zu einem Spott des Pöbels herabsinke, um es zu verstehen, daß das ge¬
bildete Publikum mit unverholenem Ärger dieser Handhabung der staatlichen
Strafgewalt gegenübersteht. In einer der ersten Nummern des Jahrgangs 1887
führte die "Kölnische Zeitung" bittere Klage über die Milde der Justiz und den
Umfang der Anwendung von Geldstrafen bei Körperverletzungen. Sie warf der
Rechtspflege vor, gewohnheitsmäßig an der geringsten Strafe festzuhalten und
nur dann darüber hinauszugehen, wenn außergewöhnliche Umstände vorlagen,
sie verlangte schließlich mit Entschiedenheit eine Erhöhung der Strafmaße und eine
strengere Bestrafung mit dem Hinweis darauf, daß die Regierung sich dem Rufe der
Gesellschaft um bessern Rechtsschutz auf die Dauer nicht werde entziehen können.



*) Bernacle in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. VII, S. 204.
Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

mehr als einjähriger Dauer gegen 1,60 Prozent. Dagegen wurde in 58,66
Prozent Fällen Gefängnisstrafe unter drei Monaten verhängt, und auf Geld¬
strafen in 19,21 Prozent Fällen erkannt, während 18,22 Prozent Verurteilte
eine Gefängnisstrafe erhielten, die sich zwischen drei Monaten und einem Jahre
bewegte. Auf die Verurteilungen zu kurzer Gefängnisstrafe und zu Geld¬
strafe fielen somit nicht weniger als 96,09 Prozent aller Verurteilungen. Man
nimmt ein,*) daß bei mehr als 50 Prozent aller Verurteilungen die erkannte
Strafe nicht den Betrag von zwei Monaten erreichte, und angesichts der vor¬
stehenden Zahlen muß diese Vermutung als eine höchst wahrscheinliche gelten,
namentlich, wenn man sich daran erinnert, daß mit der Zubilligung mildernder
Umstände vielleicht bei keinem Vergehen ein solch unverständiger Mißbrauch ge¬
trieben wird, wie gerade bei den Körperverletzungen. Eine solche Strafjustiz,
geübt gegenüber einem Verbrechen, dessen Häufigkeit sich im Verlaufe von vier
Jahren um mehr als 27 Prozent vermehrt hat, muß unbedingt für die Zu¬
nahme mit verantwortlich gemacht werden. Es ist eine recht schöne Sache um
die Milde, aber sie verwandelt sich in Grausamkeit gegen die Gesellschaft, wenn
sie am unrichtigen Orte angewendet wird. Und wer möchte im Zweifel sein,
daß die Körperverletzungen nicht der richtige Ort für milde Strafen sind! Sind
die Messerhelden Deutschlands vielleicht sanfte Lämmer, daß man sie mit wenigen
Monaten für genügend bestraft hält, oder sind die von ihnen verübten Straf¬
thaten so unschuldiger Natur, daß man eine Strafe ausspricht, die nicht nur
keine abschreckende Wirkung ausübt, sondern fast wie eine Belohnung wirkt, die
der Staat auf das Verbrechen setzt? Wahrlich, die Milde und die Weichherzig¬
keit war niemals weniger am Platze als gegenüber den Personen, welche regel¬
mäßig wegen einer gefährlichen Körperverletzung vor den Schranken der Gerichte
erscheinen. Man muß die tierische Rohheit, welche in den Thaten dieses Ge¬
züchts sich verkörpert, aus der Nähe kennen gelernt haben, um die ganze Ent¬
rüstung zu begreifen, welche jeden bei der Kunde von diesen Strafsätzen ergreifen
muß, der nicht will, daß der staatliche Rechtsschutz mit Füßen getreten werde
und zu einem Spott des Pöbels herabsinke, um es zu verstehen, daß das ge¬
bildete Publikum mit unverholenem Ärger dieser Handhabung der staatlichen
Strafgewalt gegenübersteht. In einer der ersten Nummern des Jahrgangs 1887
führte die „Kölnische Zeitung" bittere Klage über die Milde der Justiz und den
Umfang der Anwendung von Geldstrafen bei Körperverletzungen. Sie warf der
Rechtspflege vor, gewohnheitsmäßig an der geringsten Strafe festzuhalten und
nur dann darüber hinauszugehen, wenn außergewöhnliche Umstände vorlagen,
sie verlangte schließlich mit Entschiedenheit eine Erhöhung der Strafmaße und eine
strengere Bestrafung mit dem Hinweis darauf, daß die Regierung sich dem Rufe der
Gesellschaft um bessern Rechtsschutz auf die Dauer nicht werde entziehen können.



*) Bernacle in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. VII, S. 204.
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[0486] Die Zunahme der Rohheit in Deutschland. mehr als einjähriger Dauer gegen 1,60 Prozent. Dagegen wurde in 58,66 Prozent Fällen Gefängnisstrafe unter drei Monaten verhängt, und auf Geld¬ strafen in 19,21 Prozent Fällen erkannt, während 18,22 Prozent Verurteilte eine Gefängnisstrafe erhielten, die sich zwischen drei Monaten und einem Jahre bewegte. Auf die Verurteilungen zu kurzer Gefängnisstrafe und zu Geld¬ strafe fielen somit nicht weniger als 96,09 Prozent aller Verurteilungen. Man nimmt ein,*) daß bei mehr als 50 Prozent aller Verurteilungen die erkannte Strafe nicht den Betrag von zwei Monaten erreichte, und angesichts der vor¬ stehenden Zahlen muß diese Vermutung als eine höchst wahrscheinliche gelten, namentlich, wenn man sich daran erinnert, daß mit der Zubilligung mildernder Umstände vielleicht bei keinem Vergehen ein solch unverständiger Mißbrauch ge¬ trieben wird, wie gerade bei den Körperverletzungen. Eine solche Strafjustiz, geübt gegenüber einem Verbrechen, dessen Häufigkeit sich im Verlaufe von vier Jahren um mehr als 27 Prozent vermehrt hat, muß unbedingt für die Zu¬ nahme mit verantwortlich gemacht werden. Es ist eine recht schöne Sache um die Milde, aber sie verwandelt sich in Grausamkeit gegen die Gesellschaft, wenn sie am unrichtigen Orte angewendet wird. Und wer möchte im Zweifel sein, daß die Körperverletzungen nicht der richtige Ort für milde Strafen sind! Sind die Messerhelden Deutschlands vielleicht sanfte Lämmer, daß man sie mit wenigen Monaten für genügend bestraft hält, oder sind die von ihnen verübten Straf¬ thaten so unschuldiger Natur, daß man eine Strafe ausspricht, die nicht nur keine abschreckende Wirkung ausübt, sondern fast wie eine Belohnung wirkt, die der Staat auf das Verbrechen setzt? Wahrlich, die Milde und die Weichherzig¬ keit war niemals weniger am Platze als gegenüber den Personen, welche regel¬ mäßig wegen einer gefährlichen Körperverletzung vor den Schranken der Gerichte erscheinen. Man muß die tierische Rohheit, welche in den Thaten dieses Ge¬ züchts sich verkörpert, aus der Nähe kennen gelernt haben, um die ganze Ent¬ rüstung zu begreifen, welche jeden bei der Kunde von diesen Strafsätzen ergreifen muß, der nicht will, daß der staatliche Rechtsschutz mit Füßen getreten werde und zu einem Spott des Pöbels herabsinke, um es zu verstehen, daß das ge¬ bildete Publikum mit unverholenem Ärger dieser Handhabung der staatlichen Strafgewalt gegenübersteht. In einer der ersten Nummern des Jahrgangs 1887 führte die „Kölnische Zeitung" bittere Klage über die Milde der Justiz und den Umfang der Anwendung von Geldstrafen bei Körperverletzungen. Sie warf der Rechtspflege vor, gewohnheitsmäßig an der geringsten Strafe festzuhalten und nur dann darüber hinauszugehen, wenn außergewöhnliche Umstände vorlagen, sie verlangte schließlich mit Entschiedenheit eine Erhöhung der Strafmaße und eine strengere Bestrafung mit dem Hinweis darauf, daß die Regierung sich dem Rufe der Gesellschaft um bessern Rechtsschutz auf die Dauer nicht werde entziehen können. *) Bernacle in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. VII, S. 204.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/486>, abgerufen am 22.07.2024.