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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Zugenderinnerungen.

heiliges Vertrauen und schloß dadurch alle Leidenschaftlichkeit aus. Wer nicht
in den festgeschlossenen Kreis paßte oder sich unter dem bäuerlichen Szepter
nicht behaglich fühlte, dem stand der Austritt frei. Sein Scheiden änderte
nicht das Geringste in dem patriarchalischen Zusammenleben der Hofge¬
nossen, nur eine andre Persönlichkeit trat statt seiner in den sich öffnen¬
den Ring.

Auf dem Lande gehen die Leute, namentlich in der guten Jahreszeit, sehr
früh an die Arbeit. Das Sprüchwort "Morgenstunde hat Gold im Munde"
bewahrheitet sich beim Bauer im vollsten Umfange. Darum befand sich in
jedem wohlgeordneten Gehöft eine Schwarzwälder Weckuhr, die beim ersten
Schimmer des grauenden Morgens alle Glieder der Familie aus den Federn
rief. Und wie man den Tag mit gemeinsamem Gebet schloß, so ging auch
niemand ohne Gebet an die Arbeit oder zu Speise und Trank.

Das Sprechen dieses Gebetes erfolgte in ganz eigentümlicher Weise und
immer in der großen Gesindestube, welche auf allen Bauernhöfen in gleicher
Weise eingerichtet war. Vier Fenster, zwei auf den großen Hofraum und zwei
in einen Ziergarten blickend, gaben dem Zimmer, das ein Rechteck bildete, Licht.
An den Fcnsterseitcn entlang liefen an das Mauerwerk befestigte Holzbänke.
Eine derselben und zwar die kürzere stieß an das sogenannte Kabinet, die
längere endigte auf dem geregelten Boden, welcher mehrere Fuß breit den vor¬
dersten, der Thür zunächst liegenden Teil des großen Wohnraumes ausmachte.
Das Kabinet, ein mit unbedeutenden Verzierungen versehener Holzverschlag, der
aus dem Blumengarten durch ein drittes Fenster Licht erhielt, war der Auf¬
enthalt des Hausherrn mit Frau und Kindern. Knechte oder Mägde betraten
diesen abgetrennten Raum, obwohl die Thür desselben immer offen stand, nie.
Begehrte jemand den Bauer oder dessen Frau zu sprechen, so rief man sie mit
Namen, worauf der Gerufene dem Fragenden in der Gesindestube den gewünschten
Bescheid erteilte. Verlangte sonach der Herr des Hofes, daß man sein kleines,
nur ihm und der Familie gehörendes Heim respcktire, so machte er dagegen
dem Gesinde dadurch ein weit größeres Zugeständnis, daß er sich mit all den
Seinigen un gerufen zu Knechten und Mägden gesellte, um mit diesen gemein¬
schaftlich Gott für Speise und Trank im Gebet zu danken.

Eine bäuerliche Familie mit Knechten und Mägden in gemeinsamem Gebet
sich demütig vor dem unsichtbaren Gott beugen zu sehen, an den jeder glaubte,
gewährte ein rührendes Bild und machte einen nicht leicht wieder zu ver¬
wischenden Eindruck. Ein solches Gebet, aus Bibelsprüchen, einzelnen Lieder¬
strophen und dem Vaterunser passend zusammengesetzt, war ziemlich lang. Es
wurde laut, nicht aber von allen zugleich gesprochen. Der Hausherr oder in
dessen zufälliger Abwesenheit die Hausfrau begann, worauf der Reihe nach alle
Anwesende, je nach der Stellung, die sie im Hause inne hatten, mit einfielen,
bald diesen bald jenen im Sprechen ablösend oder zusammen weiterbetend. So


Zugenderinnerungen.

heiliges Vertrauen und schloß dadurch alle Leidenschaftlichkeit aus. Wer nicht
in den festgeschlossenen Kreis paßte oder sich unter dem bäuerlichen Szepter
nicht behaglich fühlte, dem stand der Austritt frei. Sein Scheiden änderte
nicht das Geringste in dem patriarchalischen Zusammenleben der Hofge¬
nossen, nur eine andre Persönlichkeit trat statt seiner in den sich öffnen¬
den Ring.

Auf dem Lande gehen die Leute, namentlich in der guten Jahreszeit, sehr
früh an die Arbeit. Das Sprüchwort „Morgenstunde hat Gold im Munde"
bewahrheitet sich beim Bauer im vollsten Umfange. Darum befand sich in
jedem wohlgeordneten Gehöft eine Schwarzwälder Weckuhr, die beim ersten
Schimmer des grauenden Morgens alle Glieder der Familie aus den Federn
rief. Und wie man den Tag mit gemeinsamem Gebet schloß, so ging auch
niemand ohne Gebet an die Arbeit oder zu Speise und Trank.

Das Sprechen dieses Gebetes erfolgte in ganz eigentümlicher Weise und
immer in der großen Gesindestube, welche auf allen Bauernhöfen in gleicher
Weise eingerichtet war. Vier Fenster, zwei auf den großen Hofraum und zwei
in einen Ziergarten blickend, gaben dem Zimmer, das ein Rechteck bildete, Licht.
An den Fcnsterseitcn entlang liefen an das Mauerwerk befestigte Holzbänke.
Eine derselben und zwar die kürzere stieß an das sogenannte Kabinet, die
längere endigte auf dem geregelten Boden, welcher mehrere Fuß breit den vor¬
dersten, der Thür zunächst liegenden Teil des großen Wohnraumes ausmachte.
Das Kabinet, ein mit unbedeutenden Verzierungen versehener Holzverschlag, der
aus dem Blumengarten durch ein drittes Fenster Licht erhielt, war der Auf¬
enthalt des Hausherrn mit Frau und Kindern. Knechte oder Mägde betraten
diesen abgetrennten Raum, obwohl die Thür desselben immer offen stand, nie.
Begehrte jemand den Bauer oder dessen Frau zu sprechen, so rief man sie mit
Namen, worauf der Gerufene dem Fragenden in der Gesindestube den gewünschten
Bescheid erteilte. Verlangte sonach der Herr des Hofes, daß man sein kleines,
nur ihm und der Familie gehörendes Heim respcktire, so machte er dagegen
dem Gesinde dadurch ein weit größeres Zugeständnis, daß er sich mit all den
Seinigen un gerufen zu Knechten und Mägden gesellte, um mit diesen gemein¬
schaftlich Gott für Speise und Trank im Gebet zu danken.

Eine bäuerliche Familie mit Knechten und Mägden in gemeinsamem Gebet
sich demütig vor dem unsichtbaren Gott beugen zu sehen, an den jeder glaubte,
gewährte ein rührendes Bild und machte einen nicht leicht wieder zu ver¬
wischenden Eindruck. Ein solches Gebet, aus Bibelsprüchen, einzelnen Lieder¬
strophen und dem Vaterunser passend zusammengesetzt, war ziemlich lang. Es
wurde laut, nicht aber von allen zugleich gesprochen. Der Hausherr oder in
dessen zufälliger Abwesenheit die Hausfrau begann, worauf der Reihe nach alle
Anwesende, je nach der Stellung, die sie im Hause inne hatten, mit einfielen,
bald diesen bald jenen im Sprechen ablösend oder zusammen weiterbetend. So


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[0456] Zugenderinnerungen. heiliges Vertrauen und schloß dadurch alle Leidenschaftlichkeit aus. Wer nicht in den festgeschlossenen Kreis paßte oder sich unter dem bäuerlichen Szepter nicht behaglich fühlte, dem stand der Austritt frei. Sein Scheiden änderte nicht das Geringste in dem patriarchalischen Zusammenleben der Hofge¬ nossen, nur eine andre Persönlichkeit trat statt seiner in den sich öffnen¬ den Ring. Auf dem Lande gehen die Leute, namentlich in der guten Jahreszeit, sehr früh an die Arbeit. Das Sprüchwort „Morgenstunde hat Gold im Munde" bewahrheitet sich beim Bauer im vollsten Umfange. Darum befand sich in jedem wohlgeordneten Gehöft eine Schwarzwälder Weckuhr, die beim ersten Schimmer des grauenden Morgens alle Glieder der Familie aus den Federn rief. Und wie man den Tag mit gemeinsamem Gebet schloß, so ging auch niemand ohne Gebet an die Arbeit oder zu Speise und Trank. Das Sprechen dieses Gebetes erfolgte in ganz eigentümlicher Weise und immer in der großen Gesindestube, welche auf allen Bauernhöfen in gleicher Weise eingerichtet war. Vier Fenster, zwei auf den großen Hofraum und zwei in einen Ziergarten blickend, gaben dem Zimmer, das ein Rechteck bildete, Licht. An den Fcnsterseitcn entlang liefen an das Mauerwerk befestigte Holzbänke. Eine derselben und zwar die kürzere stieß an das sogenannte Kabinet, die längere endigte auf dem geregelten Boden, welcher mehrere Fuß breit den vor¬ dersten, der Thür zunächst liegenden Teil des großen Wohnraumes ausmachte. Das Kabinet, ein mit unbedeutenden Verzierungen versehener Holzverschlag, der aus dem Blumengarten durch ein drittes Fenster Licht erhielt, war der Auf¬ enthalt des Hausherrn mit Frau und Kindern. Knechte oder Mägde betraten diesen abgetrennten Raum, obwohl die Thür desselben immer offen stand, nie. Begehrte jemand den Bauer oder dessen Frau zu sprechen, so rief man sie mit Namen, worauf der Gerufene dem Fragenden in der Gesindestube den gewünschten Bescheid erteilte. Verlangte sonach der Herr des Hofes, daß man sein kleines, nur ihm und der Familie gehörendes Heim respcktire, so machte er dagegen dem Gesinde dadurch ein weit größeres Zugeständnis, daß er sich mit all den Seinigen un gerufen zu Knechten und Mägden gesellte, um mit diesen gemein¬ schaftlich Gott für Speise und Trank im Gebet zu danken. Eine bäuerliche Familie mit Knechten und Mägden in gemeinsamem Gebet sich demütig vor dem unsichtbaren Gott beugen zu sehen, an den jeder glaubte, gewährte ein rührendes Bild und machte einen nicht leicht wieder zu ver¬ wischenden Eindruck. Ein solches Gebet, aus Bibelsprüchen, einzelnen Lieder¬ strophen und dem Vaterunser passend zusammengesetzt, war ziemlich lang. Es wurde laut, nicht aber von allen zugleich gesprochen. Der Hausherr oder in dessen zufälliger Abwesenheit die Hausfrau begann, worauf der Reihe nach alle Anwesende, je nach der Stellung, die sie im Hause inne hatten, mit einfielen, bald diesen bald jenen im Sprechen ablösend oder zusammen weiterbetend. So

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/456>, abgerufen am 23.12.2024.