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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die moderne Novellistik und die jedermann bekannte Wahrheit.

bauch" nennt -- hat sie doch ein ganz ähnliches Übergewicht von nicht nährenden,
sondern bloß füllenden, >ab zwar "wässerigem" Stosse. Die im engern Wort¬
sinne aus ihr erwachsende sittliche Gefahr ist, wie zugestanden werden kann,
nicht sehr groß; die ganze Anlage unsers Volkes widerstreitet zu argen Exzessen
auf diesem Gebiete, und wer dergleichen sucht, der muß schon zur eigentlichen
Pornographie oder zu Übersetzungen aus dem Französischen (Zola, Belvt ?c.)
greifen. Auch ist es, wie wir schon eingangs sagten, mit der Stärke des Ein¬
flusses, der hier geübt wird, nicht allzuweit her, da es sich bei weitaus den meisten
Leuten, die ans Lesezirkeln, Leihbibliotheken, Zeitungsfeuilletons 2c. all¬
wöchentlich ein Dutzend Romane oder Romanabschnitte zu sich nehmen, in der
That nur um ein ganz äußerliches Lesebedürfnis handelt, und sie ebenso weit
davon entfernt sind, den Inhalt dieser Romane für ihr Denken und Fühlen
maßgebend zu machen, wie unsre Durchschuittszeitungsleser die politischen Über¬
zeugungen in sich aufzunehmen, welche den Redakteur und seine Hintermänner
beseelen. Die Naivität unsers gesamten Lesepublikums ist Gottlob noch viel
zu groß, als daß sich dasselbe der "Tendenz" einer Zeitung oder eines Romans
auch nur klar bewußt würde; es "glaubt" uoch an die Thatsächlichkeit alles
dessen, was es liest, und die Tendenz vermag daher nur nebenher, dadurch,
daß die Leser sich gewöhnen, das und jenes für selbstverständlich zu halten, in
die Gemüter einzudringen. Gerade dies aber ist immerhin in sehr ansehnlichem
Maße der Fall, so sehr anch die Sätze, um die das Publikum gewöhnt werden
soll (denn daß hier von gewisser Seite bewußte Absicht obwaltet, wird man
uns nicht ausreden), demselben lange Zeit überraschend und zweifelhaft erscheinen,
ja mit dem innersten Wesen der Leute und den von Jugend auf gehegten und
mit ihnen groß gewordenen Anschauungen im grellsten Widersprüche stehen mögen,
und zum Teil sind dies Sätze, deren zunehmender, mehr und mehr in weiten
Kreisen des Volkes für selbstverständlich gehaltener Geltung es wirklich Zeit
wird entgegenzutreten. Ein kleiner Versuch hierzu soll im Nachstehenden gemacht
werden. Man sage nicht, die Gefahr, die wir hier bekämpfen wollen, sei eine
nur eingebildete; so wenig auch der in seinem politischen Denken selbständigste
Mensch Tag für Tag eine Zeitung von scharf ausgeprägter Richtung lesen
kann, ohne dadurch beeinflußt zu werden, so wenig und noch viel weniger
können urteilslose, eigentlich nur ihr Gefühl und nicht eine eigne Denkkraft ein¬
setzende Leute es vermeiden, durch eine wöchentlich so und so oft ihnen begeg¬
nende angebliche "Moral" einer Erzählung oder durch unzähligemale wieder¬
holtes Lesen gewisser angeblicher "Wahrheiten" eine Veränderung und unter
Umständen völlige Umkehr ihrer Anschauungsweise zu erleiden. Es ist wirklich
der Mühe wert, diesen Punkt einmal ins Auge zu fassen und an einer An¬
zahl von praktischen Beispielen nachzuweisen, um wie Tiefgreifendes es sich hier
handelt, und in einem wie unheilbaren Widerspruche viele der vermeintlichen
Wahrheiten und Weisheitslehren aus dem geistigen Inhalte unsrer Alltags-


Die moderne Novellistik und die jedermann bekannte Wahrheit.

bauch" nennt — hat sie doch ein ganz ähnliches Übergewicht von nicht nährenden,
sondern bloß füllenden, >ab zwar „wässerigem" Stosse. Die im engern Wort¬
sinne aus ihr erwachsende sittliche Gefahr ist, wie zugestanden werden kann,
nicht sehr groß; die ganze Anlage unsers Volkes widerstreitet zu argen Exzessen
auf diesem Gebiete, und wer dergleichen sucht, der muß schon zur eigentlichen
Pornographie oder zu Übersetzungen aus dem Französischen (Zola, Belvt ?c.)
greifen. Auch ist es, wie wir schon eingangs sagten, mit der Stärke des Ein¬
flusses, der hier geübt wird, nicht allzuweit her, da es sich bei weitaus den meisten
Leuten, die ans Lesezirkeln, Leihbibliotheken, Zeitungsfeuilletons 2c. all¬
wöchentlich ein Dutzend Romane oder Romanabschnitte zu sich nehmen, in der
That nur um ein ganz äußerliches Lesebedürfnis handelt, und sie ebenso weit
davon entfernt sind, den Inhalt dieser Romane für ihr Denken und Fühlen
maßgebend zu machen, wie unsre Durchschuittszeitungsleser die politischen Über¬
zeugungen in sich aufzunehmen, welche den Redakteur und seine Hintermänner
beseelen. Die Naivität unsers gesamten Lesepublikums ist Gottlob noch viel
zu groß, als daß sich dasselbe der „Tendenz" einer Zeitung oder eines Romans
auch nur klar bewußt würde; es „glaubt" uoch an die Thatsächlichkeit alles
dessen, was es liest, und die Tendenz vermag daher nur nebenher, dadurch,
daß die Leser sich gewöhnen, das und jenes für selbstverständlich zu halten, in
die Gemüter einzudringen. Gerade dies aber ist immerhin in sehr ansehnlichem
Maße der Fall, so sehr anch die Sätze, um die das Publikum gewöhnt werden
soll (denn daß hier von gewisser Seite bewußte Absicht obwaltet, wird man
uns nicht ausreden), demselben lange Zeit überraschend und zweifelhaft erscheinen,
ja mit dem innersten Wesen der Leute und den von Jugend auf gehegten und
mit ihnen groß gewordenen Anschauungen im grellsten Widersprüche stehen mögen,
und zum Teil sind dies Sätze, deren zunehmender, mehr und mehr in weiten
Kreisen des Volkes für selbstverständlich gehaltener Geltung es wirklich Zeit
wird entgegenzutreten. Ein kleiner Versuch hierzu soll im Nachstehenden gemacht
werden. Man sage nicht, die Gefahr, die wir hier bekämpfen wollen, sei eine
nur eingebildete; so wenig auch der in seinem politischen Denken selbständigste
Mensch Tag für Tag eine Zeitung von scharf ausgeprägter Richtung lesen
kann, ohne dadurch beeinflußt zu werden, so wenig und noch viel weniger
können urteilslose, eigentlich nur ihr Gefühl und nicht eine eigne Denkkraft ein¬
setzende Leute es vermeiden, durch eine wöchentlich so und so oft ihnen begeg¬
nende angebliche „Moral" einer Erzählung oder durch unzähligemale wieder¬
holtes Lesen gewisser angeblicher „Wahrheiten" eine Veränderung und unter
Umständen völlige Umkehr ihrer Anschauungsweise zu erleiden. Es ist wirklich
der Mühe wert, diesen Punkt einmal ins Auge zu fassen und an einer An¬
zahl von praktischen Beispielen nachzuweisen, um wie Tiefgreifendes es sich hier
handelt, und in einem wie unheilbaren Widerspruche viele der vermeintlichen
Wahrheiten und Weisheitslehren aus dem geistigen Inhalte unsrer Alltags-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/448>, abgerufen am 22.12.2024.