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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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von dort eine Anstellung als Gouvernante oder Gesellschafterin zu verschaffen
gewußt, hatte auch Samariterdienste in einem Krankenhause geleistet und
schließlich den armen Onkel Joachim in den letzten Wochen vor seinem Tode
gepflegt. Dann aber war sie selbst an den Masern erkrankt und da hatte sie
sich in jenes Städtchen bringen lassen, von dem sie wußte, daß es deu treuen
Johannes barg. Sie hatte sich vorerst ins öffentliche Armenhaus aufnehmen
lassen, und mir als die Gefahr der Ansteckung vorüber war, ließ sie ihren
Freund von ihrer Anwesenheit benachrichtigen. Sie genas aber wieder zur
Freude des guten Johannes. Von ihren Plänen, sich wieder durch eigne
Arbeit das Dasein zu sichern, brachte sie die Freude ab, welche sie vou einem
improvisirten Gesang in einer kleinen poetischen Kapelle nnter der Orgel-
begleitung ihres alten Kandidaten gewonnen hatte. Seitdem lebte sie in dem
Städtchen. Sie verblieb im Spielet, die sieben uralten Pfrüudnerinnen in dem¬
selben schlössen sich ihr dienend an. Um aber dem Freunde nicht zur Last zu
fallen, gab sie den Töchtern der ehrenwerten Bürgerschaft Gesangunterricht, und
nachgerade wurde die fremd hereingeschneite Stiftsdame zum Liebling der ganzen
Bevölkerung. Wohl machte nun Johannes den Versuch, die seit zwanzig Jahren
geliebte Frau zur Gattin zu gewinnen, allein sie antwortete ihm: "Warum
haben Sie das ausgesprochen, Johannes? Sie sollten mich kennen und wissen,
daß ich mit dem Leben abgeschlossen habe. Glauben Sie nicht, daß das Urteil
der Welt mich einschüchtern würde, wenn ich fühlte, daß ich noch jung genng
wäre, glücklich zu sein und glücklich zu machen. Aber ich bin wohl überhaupt
nie dazu geschaffen gewesen, mich einem Einzigen so von Herzen hinzugeben, wie
eine rechte Frau und Geliebte thun soll. Auch meine unglückliche erste Liebe
war eine Täuschung meiner Phantasie. Ich habe alle Talente zur Freundschaft
und barmherzigen Schwesterschaft, und mein leidenschaftliches Gefühl war von
jeher ein brennendes Mitleid mit der panvro numMitu, wie Mademoiselle
Suzon sagte. Aus Mitleid möchten Sie doch wohl nicht geheiratet sein." Dann
machte sie ihm ernsthaft den Vorschlag, ein junges Mädchen ihrer Bekanntschaft
zu heiraten, worüber Johannes denn doch einmal unwirsch wurde. Allein: "Am
andern Tage kam ich freilich ren- und demütig und bat sie, nur mein tückisches
Davonlaufen nicht nachzutragen. Sie habe ganz Recht: ich sei leider noch
immer ein überspannter junger Mensch, der nach den Sternen greife und dar¬
über auf der Erde zu Falle komme. Da sah sie still vor sich hin und sagte:
Das ist das Schwerste und was mau sam^ spätesten lernt, sich nach der Decke
zu strecken, wenn man doch fühlt, daß sie mit uns wächst. Reden wir nicht
mehr davon. Ich verstand nicht ganz, was sie meinte. Es sollte mir erst
später klar werden."

Dies geschah, als er nach einiger Zeit an ihrem Sterbebette saß und sie ihm
in einem ruhigen Augenblicke zwischen ihren Fieberphantasien gestand: "Ich
habe dich getäuscht, als ich dir neulich sagte, ich sei nicht dazu geschaffen, die


Grenzboten I. 1837. SS

von dort eine Anstellung als Gouvernante oder Gesellschafterin zu verschaffen
gewußt, hatte auch Samariterdienste in einem Krankenhause geleistet und
schließlich den armen Onkel Joachim in den letzten Wochen vor seinem Tode
gepflegt. Dann aber war sie selbst an den Masern erkrankt und da hatte sie
sich in jenes Städtchen bringen lassen, von dem sie wußte, daß es deu treuen
Johannes barg. Sie hatte sich vorerst ins öffentliche Armenhaus aufnehmen
lassen, und mir als die Gefahr der Ansteckung vorüber war, ließ sie ihren
Freund von ihrer Anwesenheit benachrichtigen. Sie genas aber wieder zur
Freude des guten Johannes. Von ihren Plänen, sich wieder durch eigne
Arbeit das Dasein zu sichern, brachte sie die Freude ab, welche sie vou einem
improvisirten Gesang in einer kleinen poetischen Kapelle nnter der Orgel-
begleitung ihres alten Kandidaten gewonnen hatte. Seitdem lebte sie in dem
Städtchen. Sie verblieb im Spielet, die sieben uralten Pfrüudnerinnen in dem¬
selben schlössen sich ihr dienend an. Um aber dem Freunde nicht zur Last zu
fallen, gab sie den Töchtern der ehrenwerten Bürgerschaft Gesangunterricht, und
nachgerade wurde die fremd hereingeschneite Stiftsdame zum Liebling der ganzen
Bevölkerung. Wohl machte nun Johannes den Versuch, die seit zwanzig Jahren
geliebte Frau zur Gattin zu gewinnen, allein sie antwortete ihm: „Warum
haben Sie das ausgesprochen, Johannes? Sie sollten mich kennen und wissen,
daß ich mit dem Leben abgeschlossen habe. Glauben Sie nicht, daß das Urteil
der Welt mich einschüchtern würde, wenn ich fühlte, daß ich noch jung genng
wäre, glücklich zu sein und glücklich zu machen. Aber ich bin wohl überhaupt
nie dazu geschaffen gewesen, mich einem Einzigen so von Herzen hinzugeben, wie
eine rechte Frau und Geliebte thun soll. Auch meine unglückliche erste Liebe
war eine Täuschung meiner Phantasie. Ich habe alle Talente zur Freundschaft
und barmherzigen Schwesterschaft, und mein leidenschaftliches Gefühl war von
jeher ein brennendes Mitleid mit der panvro numMitu, wie Mademoiselle
Suzon sagte. Aus Mitleid möchten Sie doch wohl nicht geheiratet sein." Dann
machte sie ihm ernsthaft den Vorschlag, ein junges Mädchen ihrer Bekanntschaft
zu heiraten, worüber Johannes denn doch einmal unwirsch wurde. Allein: „Am
andern Tage kam ich freilich ren- und demütig und bat sie, nur mein tückisches
Davonlaufen nicht nachzutragen. Sie habe ganz Recht: ich sei leider noch
immer ein überspannter junger Mensch, der nach den Sternen greife und dar¬
über auf der Erde zu Falle komme. Da sah sie still vor sich hin und sagte:
Das ist das Schwerste und was mau sam^ spätesten lernt, sich nach der Decke
zu strecken, wenn man doch fühlt, daß sie mit uns wächst. Reden wir nicht
mehr davon. Ich verstand nicht ganz, was sie meinte. Es sollte mir erst
später klar werden."

Dies geschah, als er nach einiger Zeit an ihrem Sterbebette saß und sie ihm
in einem ruhigen Augenblicke zwischen ihren Fieberphantasien gestand: „Ich
habe dich getäuscht, als ich dir neulich sagte, ich sei nicht dazu geschaffen, die


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[0441] von dort eine Anstellung als Gouvernante oder Gesellschafterin zu verschaffen gewußt, hatte auch Samariterdienste in einem Krankenhause geleistet und schließlich den armen Onkel Joachim in den letzten Wochen vor seinem Tode gepflegt. Dann aber war sie selbst an den Masern erkrankt und da hatte sie sich in jenes Städtchen bringen lassen, von dem sie wußte, daß es deu treuen Johannes barg. Sie hatte sich vorerst ins öffentliche Armenhaus aufnehmen lassen, und mir als die Gefahr der Ansteckung vorüber war, ließ sie ihren Freund von ihrer Anwesenheit benachrichtigen. Sie genas aber wieder zur Freude des guten Johannes. Von ihren Plänen, sich wieder durch eigne Arbeit das Dasein zu sichern, brachte sie die Freude ab, welche sie vou einem improvisirten Gesang in einer kleinen poetischen Kapelle nnter der Orgel- begleitung ihres alten Kandidaten gewonnen hatte. Seitdem lebte sie in dem Städtchen. Sie verblieb im Spielet, die sieben uralten Pfrüudnerinnen in dem¬ selben schlössen sich ihr dienend an. Um aber dem Freunde nicht zur Last zu fallen, gab sie den Töchtern der ehrenwerten Bürgerschaft Gesangunterricht, und nachgerade wurde die fremd hereingeschneite Stiftsdame zum Liebling der ganzen Bevölkerung. Wohl machte nun Johannes den Versuch, die seit zwanzig Jahren geliebte Frau zur Gattin zu gewinnen, allein sie antwortete ihm: „Warum haben Sie das ausgesprochen, Johannes? Sie sollten mich kennen und wissen, daß ich mit dem Leben abgeschlossen habe. Glauben Sie nicht, daß das Urteil der Welt mich einschüchtern würde, wenn ich fühlte, daß ich noch jung genng wäre, glücklich zu sein und glücklich zu machen. Aber ich bin wohl überhaupt nie dazu geschaffen gewesen, mich einem Einzigen so von Herzen hinzugeben, wie eine rechte Frau und Geliebte thun soll. Auch meine unglückliche erste Liebe war eine Täuschung meiner Phantasie. Ich habe alle Talente zur Freundschaft und barmherzigen Schwesterschaft, und mein leidenschaftliches Gefühl war von jeher ein brennendes Mitleid mit der panvro numMitu, wie Mademoiselle Suzon sagte. Aus Mitleid möchten Sie doch wohl nicht geheiratet sein." Dann machte sie ihm ernsthaft den Vorschlag, ein junges Mädchen ihrer Bekanntschaft zu heiraten, worüber Johannes denn doch einmal unwirsch wurde. Allein: „Am andern Tage kam ich freilich ren- und demütig und bat sie, nur mein tückisches Davonlaufen nicht nachzutragen. Sie habe ganz Recht: ich sei leider noch immer ein überspannter junger Mensch, der nach den Sternen greife und dar¬ über auf der Erde zu Falle komme. Da sah sie still vor sich hin und sagte: Das ist das Schwerste und was mau sam^ spätesten lernt, sich nach der Decke zu strecken, wenn man doch fühlt, daß sie mit uns wächst. Reden wir nicht mehr davon. Ich verstand nicht ganz, was sie meinte. Es sollte mir erst später klar werden." Dies geschah, als er nach einiger Zeit an ihrem Sterbebette saß und sie ihm in einem ruhigen Augenblicke zwischen ihren Fieberphantasien gestand: „Ich habe dich getäuscht, als ich dir neulich sagte, ich sei nicht dazu geschaffen, die Grenzboten I. 1837. SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/441>, abgerufen am 22.12.2024.