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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Paul Heyses Roman der Stiftsdame.

Gange blieb. Onkel Joachim hatte als echter Aristokrat auch das entwickelte
Familiengefühl, welches den einen Bruder für die Fehler des andern einzustehen
verpflichtet. In solcher Umgebung war Luise nicht glücklich. Sie hatte früh
gelernt, die Vorurteile und den eingebildeten Hochmut der Aristokraten zu ver¬
achten. Der eigne Vormund hatte sie einmal mit Liebesanträgen belästigt, seine
Frivolität, seine Heuchelei, seine Rohheit empfand sie aufs schmerzlichste. Nur
der Tante und dem vertrauten Onkel Joachim zuliebe hielt sie aus. Auch sie
hatte das starke Familiengefühl des Adels geerbt. Aber ganz eigen, nicht gerade
ererbt (und es ist dies von Heyse mit Bedacht und Einsicht so erfunden) war
ihr ein starker religiöser Sinn. " In diesen bittern Jahren (des Aufenthaltes
im Schlosse) -- sagt sie später einmal -- habe ich gelernt, daß der Mensch
keine andre Quelle der Kraft und des Friedens hat als sein Gewissen und seine
Wahrheitsliebe und den stillen Verkehr mit seinem Gott, der uns freilich nur
antwortet, wenn wir ihm nicht viel vorplappcrn, sondern in der tiefsten Stille
auf ihn horchen." Diese ihre tiefe Religiosität äußerte sich in bescheidener Ver¬
borgenheit, so wenn sie z. B. einem armen alten Weibe, der Mutter Lieschen,
die samt ihrem Hunde schwer an einem Karren zog, mit den eignen jungen
Händen nachhalf, die bei solchen Liebesdiensten allerdings mit der Zeit größer
wurden, als es bei den feinen Damen gewöhnlich der Fall zu sein pflegt.

Ans den jungen Johannes machte das Stiftsfräuleiu gleich beim ersten
Anblick einen großen Eindruck. Freilich war sie die schönste des kleinen Kreises;
aber die ungesuchte Würde, die sie umgab, eine Würde, die er als künftiges
Kirchenlicht für sein Teil vergeblich anstrebte, imponirte ihm. Die geflissent¬
liche Gleichgiltigkeit, mit der sie über seinen wohlgepflegten Christusscheitel hin¬
wegsah, reizte den jungen Theologen noch mehr. Sein Zimmer lag in dem¬
selben Schloßflügel ein Stockwerk über dem ihrigen, "ut an schönen Sommer-
abenden, wo die Nachtigallen im Schloßpark schmelzend schlugen, hörte er ihre
samtweiche Altstimme Arien von Glück singen und ward von dem musikalischen
Wohllaut dieses Gesanges entzückt. Denn das einzig unverdorbene an ihm
waren noch seine musikalischen Kenntnisse, er war ein begabter Orgelspieler.
Natürlich reizte es den guten Nazarener, die nähere Bekanntschaft des ver¬
schlossenen Stiftsfräuleius zu machen. Er sollte bald Gelegenheit dazu finden.
Er hatte an Stelle des kranken Pastors seine erste Predigt gehalten. Er hatte
über den Text gesprochen: "Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt,"
und seine Predigt hatte sich zu einer ebenso geschmacklosen, als unchristlichen
Verherrlichung des Adels gestaltet: die Begüterten wären die Auserwählten,
die Armen die Berufenen. Niemand als der Baron Ansatz war natürlich von
dieser seltsamen Predigt erbaut. Der junge Kandidat hatte aber in seiner Eitel¬
keit das Bedürfnis, die Meinungen der Zuhörer zu erfahren, und so machte er
sich gleich an demselben Sonntag Nachmittag an das Stiftsfränlein, das er im
Park spazierend traf.


Paul Heyses Roman der Stiftsdame.

Gange blieb. Onkel Joachim hatte als echter Aristokrat auch das entwickelte
Familiengefühl, welches den einen Bruder für die Fehler des andern einzustehen
verpflichtet. In solcher Umgebung war Luise nicht glücklich. Sie hatte früh
gelernt, die Vorurteile und den eingebildeten Hochmut der Aristokraten zu ver¬
achten. Der eigne Vormund hatte sie einmal mit Liebesanträgen belästigt, seine
Frivolität, seine Heuchelei, seine Rohheit empfand sie aufs schmerzlichste. Nur
der Tante und dem vertrauten Onkel Joachim zuliebe hielt sie aus. Auch sie
hatte das starke Familiengefühl des Adels geerbt. Aber ganz eigen, nicht gerade
ererbt (und es ist dies von Heyse mit Bedacht und Einsicht so erfunden) war
ihr ein starker religiöser Sinn. „ In diesen bittern Jahren (des Aufenthaltes
im Schlosse) — sagt sie später einmal — habe ich gelernt, daß der Mensch
keine andre Quelle der Kraft und des Friedens hat als sein Gewissen und seine
Wahrheitsliebe und den stillen Verkehr mit seinem Gott, der uns freilich nur
antwortet, wenn wir ihm nicht viel vorplappcrn, sondern in der tiefsten Stille
auf ihn horchen." Diese ihre tiefe Religiosität äußerte sich in bescheidener Ver¬
borgenheit, so wenn sie z. B. einem armen alten Weibe, der Mutter Lieschen,
die samt ihrem Hunde schwer an einem Karren zog, mit den eignen jungen
Händen nachhalf, die bei solchen Liebesdiensten allerdings mit der Zeit größer
wurden, als es bei den feinen Damen gewöhnlich der Fall zu sein pflegt.

Ans den jungen Johannes machte das Stiftsfräuleiu gleich beim ersten
Anblick einen großen Eindruck. Freilich war sie die schönste des kleinen Kreises;
aber die ungesuchte Würde, die sie umgab, eine Würde, die er als künftiges
Kirchenlicht für sein Teil vergeblich anstrebte, imponirte ihm. Die geflissent¬
liche Gleichgiltigkeit, mit der sie über seinen wohlgepflegten Christusscheitel hin¬
wegsah, reizte den jungen Theologen noch mehr. Sein Zimmer lag in dem¬
selben Schloßflügel ein Stockwerk über dem ihrigen, »ut an schönen Sommer-
abenden, wo die Nachtigallen im Schloßpark schmelzend schlugen, hörte er ihre
samtweiche Altstimme Arien von Glück singen und ward von dem musikalischen
Wohllaut dieses Gesanges entzückt. Denn das einzig unverdorbene an ihm
waren noch seine musikalischen Kenntnisse, er war ein begabter Orgelspieler.
Natürlich reizte es den guten Nazarener, die nähere Bekanntschaft des ver¬
schlossenen Stiftsfräuleius zu machen. Er sollte bald Gelegenheit dazu finden.
Er hatte an Stelle des kranken Pastors seine erste Predigt gehalten. Er hatte
über den Text gesprochen: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt,"
und seine Predigt hatte sich zu einer ebenso geschmacklosen, als unchristlichen
Verherrlichung des Adels gestaltet: die Begüterten wären die Auserwählten,
die Armen die Berufenen. Niemand als der Baron Ansatz war natürlich von
dieser seltsamen Predigt erbaut. Der junge Kandidat hatte aber in seiner Eitel¬
keit das Bedürfnis, die Meinungen der Zuhörer zu erfahren, und so machte er
sich gleich an demselben Sonntag Nachmittag an das Stiftsfränlein, das er im
Park spazierend traf.


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[0436] Paul Heyses Roman der Stiftsdame. Gange blieb. Onkel Joachim hatte als echter Aristokrat auch das entwickelte Familiengefühl, welches den einen Bruder für die Fehler des andern einzustehen verpflichtet. In solcher Umgebung war Luise nicht glücklich. Sie hatte früh gelernt, die Vorurteile und den eingebildeten Hochmut der Aristokraten zu ver¬ achten. Der eigne Vormund hatte sie einmal mit Liebesanträgen belästigt, seine Frivolität, seine Heuchelei, seine Rohheit empfand sie aufs schmerzlichste. Nur der Tante und dem vertrauten Onkel Joachim zuliebe hielt sie aus. Auch sie hatte das starke Familiengefühl des Adels geerbt. Aber ganz eigen, nicht gerade ererbt (und es ist dies von Heyse mit Bedacht und Einsicht so erfunden) war ihr ein starker religiöser Sinn. „ In diesen bittern Jahren (des Aufenthaltes im Schlosse) — sagt sie später einmal — habe ich gelernt, daß der Mensch keine andre Quelle der Kraft und des Friedens hat als sein Gewissen und seine Wahrheitsliebe und den stillen Verkehr mit seinem Gott, der uns freilich nur antwortet, wenn wir ihm nicht viel vorplappcrn, sondern in der tiefsten Stille auf ihn horchen." Diese ihre tiefe Religiosität äußerte sich in bescheidener Ver¬ borgenheit, so wenn sie z. B. einem armen alten Weibe, der Mutter Lieschen, die samt ihrem Hunde schwer an einem Karren zog, mit den eignen jungen Händen nachhalf, die bei solchen Liebesdiensten allerdings mit der Zeit größer wurden, als es bei den feinen Damen gewöhnlich der Fall zu sein pflegt. Ans den jungen Johannes machte das Stiftsfräuleiu gleich beim ersten Anblick einen großen Eindruck. Freilich war sie die schönste des kleinen Kreises; aber die ungesuchte Würde, die sie umgab, eine Würde, die er als künftiges Kirchenlicht für sein Teil vergeblich anstrebte, imponirte ihm. Die geflissent¬ liche Gleichgiltigkeit, mit der sie über seinen wohlgepflegten Christusscheitel hin¬ wegsah, reizte den jungen Theologen noch mehr. Sein Zimmer lag in dem¬ selben Schloßflügel ein Stockwerk über dem ihrigen, »ut an schönen Sommer- abenden, wo die Nachtigallen im Schloßpark schmelzend schlugen, hörte er ihre samtweiche Altstimme Arien von Glück singen und ward von dem musikalischen Wohllaut dieses Gesanges entzückt. Denn das einzig unverdorbene an ihm waren noch seine musikalischen Kenntnisse, er war ein begabter Orgelspieler. Natürlich reizte es den guten Nazarener, die nähere Bekanntschaft des ver¬ schlossenen Stiftsfräuleius zu machen. Er sollte bald Gelegenheit dazu finden. Er hatte an Stelle des kranken Pastors seine erste Predigt gehalten. Er hatte über den Text gesprochen: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt," und seine Predigt hatte sich zu einer ebenso geschmacklosen, als unchristlichen Verherrlichung des Adels gestaltet: die Begüterten wären die Auserwählten, die Armen die Berufenen. Niemand als der Baron Ansatz war natürlich von dieser seltsamen Predigt erbaut. Der junge Kandidat hatte aber in seiner Eitel¬ keit das Bedürfnis, die Meinungen der Zuhörer zu erfahren, und so machte er sich gleich an demselben Sonntag Nachmittag an das Stiftsfränlein, das er im Park spazierend traf.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/436>, abgerufen am 22.07.2024.