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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

Ein Knabe von etwa sieben Jahren pflegt sich um die Zukunft noch keine
Sorgen zu machen, Wohl aber thut er gern, was ihm behagt, und überläßt sich
willenlos dem Zuge der Natur, in dem sich gewöhnlich die angeborne Neigung
als verpuppte Chrysalide zeigt.

Mir gefiel das Leben und Treiben auf dem väterlichen Hofe meines kleinen
Freundes, das so natürlich war, ungemein gut, und ich konnte es nicht recht
fassen, daß mein älterer Bruder weniger davon angesprochen wurde. Während
ich mich an Ehrenfrieds Seite überall unter die im Hofe arbeitenden mischte,
Wohl auch nach Anleitung des dereinstigen Erben dieser Herrlichkeit selbst einen
Versuch machte, das Gesehene nachzumachen, hielt der Bruder sich fern und
schien dabei Langeweile zu spüren. Ich ließ mich jedoch weder von diesem
zurückhaltender Wesen desselben noch von seinen Bemerkungen, welche sich auf
die untergeordnete Art dieser Arbeiten als unverträglich mit dem höhern Stande,
dem wir angehörten, bezogen, nicht abschrecken. Im Gründe genommen traf
mein Bruder mit seinem Hinweis genau den Nagel auf den Kopf. Es war
der Kastengeist, der uns allen mehr oder minder in den Gliedern steckte, der
uns den Kopf sehr hoch tragen, die Nase rümpfen und verächtlich auf bürger¬
liche Gewerbtrcibende, auf Bauern und Handwerker herabsehen ließ. Wir, die
wir selbstverständlich dazu auf die Welt gekommen waren, um zu studiren, wie
konnten wir uns so tief erniedrigen, von Banernkuechtcn irgend etwas lernen
zu wollen!

Wer Bekenntnisse schreibt, soll aufrichtig sein und der Wahrheit die Ehre
geben. Es sei deshalb unumwunden hier ausgesprochen, daß in meiner Jugend
derartige vorgefaßte Meinungen die Gebildeten fast tyrannisch beherrschten. Die
Abstufung der Stände war schroff und wurde durch Vorurteile, die sich von
Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten, noch schroffer. Suchte sich jemand aus
Neigung, Leidenschaft oder Trotz dem einengendem Zirkel dieser Vorurteile
zu entziehen, so richtete er damit zwischen sich und der Sippe eine Scheide¬
wand auf, die sich schwer wieder niederreißen ließ. Man hatte dafür den be¬
zeichnenden Ausdruck, der von Mund zu Mund lief, "sich unter seinen Stand
erniedrigen." Dieser Ausdruck allein beweist schon, daß die Gesellschaft sich
innerhalb einer fest ausgebildeten Kastencinrichtnng bewegte. Verheiratete sich
z. B. die Tochter eines Ratsherrn, eines Arztes, eines Geistlichen :e. mit dem
Inhaber etwa eines Ladenbesitzers, so nannte man dies eine Heirat "unter dem
Stande." Ein so vorurteilsfrei handelndes junges Mädchen lief Gefahr, sich
mit ihrer ganzen Familie zu verfeinden. Jedenfalls trat eine lange anhaltende
Mißstimmung ein, die erst durch die Jahre sich einigermaßen ausglich.

Dieser den sogenannten Kreisen der Gebildeten anhaftende Dünkel erstreckte
sich aber auch auf die Nichtgebildeten. Hier prägte er sich sogar noch weit
schärfer aus und griff einschneidender in das Leben derer ein, welche es wagten,
die Satzung zu übertreten. Ganz besonders streng hielt der grundbesitzende


Jugenderinnerungen.

Ein Knabe von etwa sieben Jahren pflegt sich um die Zukunft noch keine
Sorgen zu machen, Wohl aber thut er gern, was ihm behagt, und überläßt sich
willenlos dem Zuge der Natur, in dem sich gewöhnlich die angeborne Neigung
als verpuppte Chrysalide zeigt.

Mir gefiel das Leben und Treiben auf dem väterlichen Hofe meines kleinen
Freundes, das so natürlich war, ungemein gut, und ich konnte es nicht recht
fassen, daß mein älterer Bruder weniger davon angesprochen wurde. Während
ich mich an Ehrenfrieds Seite überall unter die im Hofe arbeitenden mischte,
Wohl auch nach Anleitung des dereinstigen Erben dieser Herrlichkeit selbst einen
Versuch machte, das Gesehene nachzumachen, hielt der Bruder sich fern und
schien dabei Langeweile zu spüren. Ich ließ mich jedoch weder von diesem
zurückhaltender Wesen desselben noch von seinen Bemerkungen, welche sich auf
die untergeordnete Art dieser Arbeiten als unverträglich mit dem höhern Stande,
dem wir angehörten, bezogen, nicht abschrecken. Im Gründe genommen traf
mein Bruder mit seinem Hinweis genau den Nagel auf den Kopf. Es war
der Kastengeist, der uns allen mehr oder minder in den Gliedern steckte, der
uns den Kopf sehr hoch tragen, die Nase rümpfen und verächtlich auf bürger¬
liche Gewerbtrcibende, auf Bauern und Handwerker herabsehen ließ. Wir, die
wir selbstverständlich dazu auf die Welt gekommen waren, um zu studiren, wie
konnten wir uns so tief erniedrigen, von Banernkuechtcn irgend etwas lernen
zu wollen!

Wer Bekenntnisse schreibt, soll aufrichtig sein und der Wahrheit die Ehre
geben. Es sei deshalb unumwunden hier ausgesprochen, daß in meiner Jugend
derartige vorgefaßte Meinungen die Gebildeten fast tyrannisch beherrschten. Die
Abstufung der Stände war schroff und wurde durch Vorurteile, die sich von
Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten, noch schroffer. Suchte sich jemand aus
Neigung, Leidenschaft oder Trotz dem einengendem Zirkel dieser Vorurteile
zu entziehen, so richtete er damit zwischen sich und der Sippe eine Scheide¬
wand auf, die sich schwer wieder niederreißen ließ. Man hatte dafür den be¬
zeichnenden Ausdruck, der von Mund zu Mund lief, „sich unter seinen Stand
erniedrigen." Dieser Ausdruck allein beweist schon, daß die Gesellschaft sich
innerhalb einer fest ausgebildeten Kastencinrichtnng bewegte. Verheiratete sich
z. B. die Tochter eines Ratsherrn, eines Arztes, eines Geistlichen :e. mit dem
Inhaber etwa eines Ladenbesitzers, so nannte man dies eine Heirat „unter dem
Stande." Ein so vorurteilsfrei handelndes junges Mädchen lief Gefahr, sich
mit ihrer ganzen Familie zu verfeinden. Jedenfalls trat eine lange anhaltende
Mißstimmung ein, die erst durch die Jahre sich einigermaßen ausglich.

Dieser den sogenannten Kreisen der Gebildeten anhaftende Dünkel erstreckte
sich aber auch auf die Nichtgebildeten. Hier prägte er sich sogar noch weit
schärfer aus und griff einschneidender in das Leben derer ein, welche es wagten,
die Satzung zu übertreten. Ganz besonders streng hielt der grundbesitzende


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[0399] Jugenderinnerungen. Ein Knabe von etwa sieben Jahren pflegt sich um die Zukunft noch keine Sorgen zu machen, Wohl aber thut er gern, was ihm behagt, und überläßt sich willenlos dem Zuge der Natur, in dem sich gewöhnlich die angeborne Neigung als verpuppte Chrysalide zeigt. Mir gefiel das Leben und Treiben auf dem väterlichen Hofe meines kleinen Freundes, das so natürlich war, ungemein gut, und ich konnte es nicht recht fassen, daß mein älterer Bruder weniger davon angesprochen wurde. Während ich mich an Ehrenfrieds Seite überall unter die im Hofe arbeitenden mischte, Wohl auch nach Anleitung des dereinstigen Erben dieser Herrlichkeit selbst einen Versuch machte, das Gesehene nachzumachen, hielt der Bruder sich fern und schien dabei Langeweile zu spüren. Ich ließ mich jedoch weder von diesem zurückhaltender Wesen desselben noch von seinen Bemerkungen, welche sich auf die untergeordnete Art dieser Arbeiten als unverträglich mit dem höhern Stande, dem wir angehörten, bezogen, nicht abschrecken. Im Gründe genommen traf mein Bruder mit seinem Hinweis genau den Nagel auf den Kopf. Es war der Kastengeist, der uns allen mehr oder minder in den Gliedern steckte, der uns den Kopf sehr hoch tragen, die Nase rümpfen und verächtlich auf bürger¬ liche Gewerbtrcibende, auf Bauern und Handwerker herabsehen ließ. Wir, die wir selbstverständlich dazu auf die Welt gekommen waren, um zu studiren, wie konnten wir uns so tief erniedrigen, von Banernkuechtcn irgend etwas lernen zu wollen! Wer Bekenntnisse schreibt, soll aufrichtig sein und der Wahrheit die Ehre geben. Es sei deshalb unumwunden hier ausgesprochen, daß in meiner Jugend derartige vorgefaßte Meinungen die Gebildeten fast tyrannisch beherrschten. Die Abstufung der Stände war schroff und wurde durch Vorurteile, die sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten, noch schroffer. Suchte sich jemand aus Neigung, Leidenschaft oder Trotz dem einengendem Zirkel dieser Vorurteile zu entziehen, so richtete er damit zwischen sich und der Sippe eine Scheide¬ wand auf, die sich schwer wieder niederreißen ließ. Man hatte dafür den be¬ zeichnenden Ausdruck, der von Mund zu Mund lief, „sich unter seinen Stand erniedrigen." Dieser Ausdruck allein beweist schon, daß die Gesellschaft sich innerhalb einer fest ausgebildeten Kastencinrichtnng bewegte. Verheiratete sich z. B. die Tochter eines Ratsherrn, eines Arztes, eines Geistlichen :e. mit dem Inhaber etwa eines Ladenbesitzers, so nannte man dies eine Heirat „unter dem Stande." Ein so vorurteilsfrei handelndes junges Mädchen lief Gefahr, sich mit ihrer ganzen Familie zu verfeinden. Jedenfalls trat eine lange anhaltende Mißstimmung ein, die erst durch die Jahre sich einigermaßen ausglich. Dieser den sogenannten Kreisen der Gebildeten anhaftende Dünkel erstreckte sich aber auch auf die Nichtgebildeten. Hier prägte er sich sogar noch weit schärfer aus und griff einschneidender in das Leben derer ein, welche es wagten, die Satzung zu übertreten. Ganz besonders streng hielt der grundbesitzende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/399>, abgerufen am 03.07.2024.