Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zu dem jüngsten Entwurf eines prozeßkostengefttzes.

rechuungcn entgegennehmen. Die Thatsache, daß im Vergleich zu der Zeit
vor 1880 die Zahl der Prozesse fast auf die Hälfte zurückgegangen ist, spricht
für sich selbst und bezeugt ein unnatürliches und ungesundes Verhältnis.
Sicherlich kaun man nicht behaupten, daß früher fast die Hälfte aller Prozesse
frivol geführt und deshalb unnötig gewesen sei. Frivole Prozesse giebt es auch
heute noch. Bei Schaffung der neuen Kvstengcsctze hat vielleicht mancher sich
damit getröstet, daß das neue Verfahre", wenn auch sehr teuer, doch wenigstens
seinen innern Qualitäten nach so vortrefflich sei, daß man dafür die hohen
Kosten bezahlen könne. Wir wissen nicht, ob es Schwärmer giebt, die mich
heute noch an diesem Glaube" festhalten. In einigen deutschen Ländern, wo
noch bis zum Jahre 1879 ein altes, schlechtes Verfahren im Gange war, mag
der neue Prozeß als eine Wohlthat empfunden werden. Für den größern Teil
Deutschlands, namentlich für Preußen, ist aber durch ihn sicherlich keine Ver¬
besserung der Rechtsprechung herbeigeführt worden. Wohl mochten in dem
frühern Verfahren die Sachen mitunter recht geistlos-mechanisch abgethan
werden. Aber die in unendlicher Breite sich hiuspinnenden mündlichen Ver¬
handlungen sind auch nicht immer geeignet, die Weisheit der Richter zu fördern,
und sie belasten deren Zeit in einer Weise, die sich notwendig an den Sachen
selbst rächt. Der prvzessualischeu Streitfragen sind auch nicht weniger geworden;
und vor allem bilden die deu Prozeß beherrschenden Formalitäten eine ständige
Gefährdung des materiellen Rechtes. Auch die mitunter gehörte Behauptung,
daß die Prozesse jetzt schneller verliefen, dürfte auf Täuschung beruhen. Vor
kurzem meldeten die Zeitungen, daß der berühmte Prozeß der Nhcinbrohlcr
Kirchengemeinde gegen die dortige Zivilgemeiude in erster Instanz vier Jahre
gedauert habe. Wir erinnern uns nicht, in dem frühern Verfahren eine so
lange dauernde Instanz erlebt zu haben. Kurz, die Rechtsprechung ist nicht
besser, aber weit teurer geworden. Das ist alles. Sonderbar: während mau
auf allen andern Gebieten des Staatslebens (z. B. bei der Post, der Eiseubahu-
verwaltung, der Gesundheitspflege !c.) unablässig bemüht ist, das Leben der
Staatsangehörigen zu erleichtern und zu sicherm, und auch diesem Ziele immer
näher rückt, hat man bei der Justiz gerade den entgegengesetzten Weg beschritten.

Sind die bestehenden Einrichtungen von der Art, daß man, ohne andre
Interessen allzusehr zu verletzen, die Prvzeßkosten nicht herabsetzen kann, so
taugen eben die Eiunchtuugen nichts, und sie müssen dann geändert werden.
Eine Justiz, und mare sie selbst die beste der Welt, ist wertlos, wenn sie so
teuer ist, daß mau sie nicht bezahlen kann.

Betrachten wir zunächst die Einrichtung, welche das Einkommen vieler
Anwälte geschmälert hat, die Freigebung der Anwaltschaft. Sie ist ins Leben
gerufen durch politische Gründe, die wir in vollem Maße anerkennen. Es ist
nicht nötig, die Ausübung des Anwaltsberufes an eine obrigkeitliche Gestattung
zu binden. Die Anwaltschaft ist ihrer Natur nach ein freier Beruf, dessen


Zu dem jüngsten Entwurf eines prozeßkostengefttzes.

rechuungcn entgegennehmen. Die Thatsache, daß im Vergleich zu der Zeit
vor 1880 die Zahl der Prozesse fast auf die Hälfte zurückgegangen ist, spricht
für sich selbst und bezeugt ein unnatürliches und ungesundes Verhältnis.
Sicherlich kaun man nicht behaupten, daß früher fast die Hälfte aller Prozesse
frivol geführt und deshalb unnötig gewesen sei. Frivole Prozesse giebt es auch
heute noch. Bei Schaffung der neuen Kvstengcsctze hat vielleicht mancher sich
damit getröstet, daß das neue Verfahre», wenn auch sehr teuer, doch wenigstens
seinen innern Qualitäten nach so vortrefflich sei, daß man dafür die hohen
Kosten bezahlen könne. Wir wissen nicht, ob es Schwärmer giebt, die mich
heute noch an diesem Glaube» festhalten. In einigen deutschen Ländern, wo
noch bis zum Jahre 1879 ein altes, schlechtes Verfahren im Gange war, mag
der neue Prozeß als eine Wohlthat empfunden werden. Für den größern Teil
Deutschlands, namentlich für Preußen, ist aber durch ihn sicherlich keine Ver¬
besserung der Rechtsprechung herbeigeführt worden. Wohl mochten in dem
frühern Verfahren die Sachen mitunter recht geistlos-mechanisch abgethan
werden. Aber die in unendlicher Breite sich hiuspinnenden mündlichen Ver¬
handlungen sind auch nicht immer geeignet, die Weisheit der Richter zu fördern,
und sie belasten deren Zeit in einer Weise, die sich notwendig an den Sachen
selbst rächt. Der prvzessualischeu Streitfragen sind auch nicht weniger geworden;
und vor allem bilden die deu Prozeß beherrschenden Formalitäten eine ständige
Gefährdung des materiellen Rechtes. Auch die mitunter gehörte Behauptung,
daß die Prozesse jetzt schneller verliefen, dürfte auf Täuschung beruhen. Vor
kurzem meldeten die Zeitungen, daß der berühmte Prozeß der Nhcinbrohlcr
Kirchengemeinde gegen die dortige Zivilgemeiude in erster Instanz vier Jahre
gedauert habe. Wir erinnern uns nicht, in dem frühern Verfahren eine so
lange dauernde Instanz erlebt zu haben. Kurz, die Rechtsprechung ist nicht
besser, aber weit teurer geworden. Das ist alles. Sonderbar: während mau
auf allen andern Gebieten des Staatslebens (z. B. bei der Post, der Eiseubahu-
verwaltung, der Gesundheitspflege !c.) unablässig bemüht ist, das Leben der
Staatsangehörigen zu erleichtern und zu sicherm, und auch diesem Ziele immer
näher rückt, hat man bei der Justiz gerade den entgegengesetzten Weg beschritten.

Sind die bestehenden Einrichtungen von der Art, daß man, ohne andre
Interessen allzusehr zu verletzen, die Prvzeßkosten nicht herabsetzen kann, so
taugen eben die Eiunchtuugen nichts, und sie müssen dann geändert werden.
Eine Justiz, und mare sie selbst die beste der Welt, ist wertlos, wenn sie so
teuer ist, daß mau sie nicht bezahlen kann.

Betrachten wir zunächst die Einrichtung, welche das Einkommen vieler
Anwälte geschmälert hat, die Freigebung der Anwaltschaft. Sie ist ins Leben
gerufen durch politische Gründe, die wir in vollem Maße anerkennen. Es ist
nicht nötig, die Ausübung des Anwaltsberufes an eine obrigkeitliche Gestattung
zu binden. Die Anwaltschaft ist ihrer Natur nach ein freier Beruf, dessen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0368" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200473"/>
          <fw type="header" place="top"> Zu dem jüngsten Entwurf eines prozeßkostengefttzes.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1166" prev="#ID_1165"> rechuungcn entgegennehmen. Die Thatsache, daß im Vergleich zu der Zeit<lb/>
vor 1880 die Zahl der Prozesse fast auf die Hälfte zurückgegangen ist, spricht<lb/>
für sich selbst und bezeugt ein unnatürliches und ungesundes Verhältnis.<lb/>
Sicherlich kaun man nicht behaupten, daß früher fast die Hälfte aller Prozesse<lb/>
frivol geführt und deshalb unnötig gewesen sei. Frivole Prozesse giebt es auch<lb/>
heute noch. Bei Schaffung der neuen Kvstengcsctze hat vielleicht mancher sich<lb/>
damit getröstet, daß das neue Verfahre», wenn auch sehr teuer, doch wenigstens<lb/>
seinen innern Qualitäten nach so vortrefflich sei, daß man dafür die hohen<lb/>
Kosten bezahlen könne. Wir wissen nicht, ob es Schwärmer giebt, die mich<lb/>
heute noch an diesem Glaube» festhalten. In einigen deutschen Ländern, wo<lb/>
noch bis zum Jahre 1879 ein altes, schlechtes Verfahren im Gange war, mag<lb/>
der neue Prozeß als eine Wohlthat empfunden werden. Für den größern Teil<lb/>
Deutschlands, namentlich für Preußen, ist aber durch ihn sicherlich keine Ver¬<lb/>
besserung der Rechtsprechung herbeigeführt worden. Wohl mochten in dem<lb/>
frühern Verfahren die Sachen mitunter recht geistlos-mechanisch abgethan<lb/>
werden. Aber die in unendlicher Breite sich hiuspinnenden mündlichen Ver¬<lb/>
handlungen sind auch nicht immer geeignet, die Weisheit der Richter zu fördern,<lb/>
und sie belasten deren Zeit in einer Weise, die sich notwendig an den Sachen<lb/>
selbst rächt. Der prvzessualischeu Streitfragen sind auch nicht weniger geworden;<lb/>
und vor allem bilden die deu Prozeß beherrschenden Formalitäten eine ständige<lb/>
Gefährdung des materiellen Rechtes. Auch die mitunter gehörte Behauptung,<lb/>
daß die Prozesse jetzt schneller verliefen, dürfte auf Täuschung beruhen. Vor<lb/>
kurzem meldeten die Zeitungen, daß der berühmte Prozeß der Nhcinbrohlcr<lb/>
Kirchengemeinde gegen die dortige Zivilgemeiude in erster Instanz vier Jahre<lb/>
gedauert habe. Wir erinnern uns nicht, in dem frühern Verfahren eine so<lb/>
lange dauernde Instanz erlebt zu haben. Kurz, die Rechtsprechung ist nicht<lb/>
besser, aber weit teurer geworden. Das ist alles. Sonderbar: während mau<lb/>
auf allen andern Gebieten des Staatslebens (z. B. bei der Post, der Eiseubahu-<lb/>
verwaltung, der Gesundheitspflege !c.) unablässig bemüht ist, das Leben der<lb/>
Staatsangehörigen zu erleichtern und zu sicherm, und auch diesem Ziele immer<lb/>
näher rückt, hat man bei der Justiz gerade den entgegengesetzten Weg beschritten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1167"> Sind die bestehenden Einrichtungen von der Art, daß man, ohne andre<lb/>
Interessen allzusehr zu verletzen, die Prvzeßkosten nicht herabsetzen kann, so<lb/>
taugen eben die Eiunchtuugen nichts, und sie müssen dann geändert werden.<lb/>
Eine Justiz, und mare sie selbst die beste der Welt, ist wertlos, wenn sie so<lb/>
teuer ist, daß mau sie nicht bezahlen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1168" next="#ID_1169"> Betrachten wir zunächst die Einrichtung, welche das Einkommen vieler<lb/>
Anwälte geschmälert hat, die Freigebung der Anwaltschaft. Sie ist ins Leben<lb/>
gerufen durch politische Gründe, die wir in vollem Maße anerkennen. Es ist<lb/>
nicht nötig, die Ausübung des Anwaltsberufes an eine obrigkeitliche Gestattung<lb/>
zu binden.  Die Anwaltschaft ist ihrer Natur nach ein freier Beruf, dessen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0368] Zu dem jüngsten Entwurf eines prozeßkostengefttzes. rechuungcn entgegennehmen. Die Thatsache, daß im Vergleich zu der Zeit vor 1880 die Zahl der Prozesse fast auf die Hälfte zurückgegangen ist, spricht für sich selbst und bezeugt ein unnatürliches und ungesundes Verhältnis. Sicherlich kaun man nicht behaupten, daß früher fast die Hälfte aller Prozesse frivol geführt und deshalb unnötig gewesen sei. Frivole Prozesse giebt es auch heute noch. Bei Schaffung der neuen Kvstengcsctze hat vielleicht mancher sich damit getröstet, daß das neue Verfahre», wenn auch sehr teuer, doch wenigstens seinen innern Qualitäten nach so vortrefflich sei, daß man dafür die hohen Kosten bezahlen könne. Wir wissen nicht, ob es Schwärmer giebt, die mich heute noch an diesem Glaube» festhalten. In einigen deutschen Ländern, wo noch bis zum Jahre 1879 ein altes, schlechtes Verfahren im Gange war, mag der neue Prozeß als eine Wohlthat empfunden werden. Für den größern Teil Deutschlands, namentlich für Preußen, ist aber durch ihn sicherlich keine Ver¬ besserung der Rechtsprechung herbeigeführt worden. Wohl mochten in dem frühern Verfahren die Sachen mitunter recht geistlos-mechanisch abgethan werden. Aber die in unendlicher Breite sich hiuspinnenden mündlichen Ver¬ handlungen sind auch nicht immer geeignet, die Weisheit der Richter zu fördern, und sie belasten deren Zeit in einer Weise, die sich notwendig an den Sachen selbst rächt. Der prvzessualischeu Streitfragen sind auch nicht weniger geworden; und vor allem bilden die deu Prozeß beherrschenden Formalitäten eine ständige Gefährdung des materiellen Rechtes. Auch die mitunter gehörte Behauptung, daß die Prozesse jetzt schneller verliefen, dürfte auf Täuschung beruhen. Vor kurzem meldeten die Zeitungen, daß der berühmte Prozeß der Nhcinbrohlcr Kirchengemeinde gegen die dortige Zivilgemeiude in erster Instanz vier Jahre gedauert habe. Wir erinnern uns nicht, in dem frühern Verfahren eine so lange dauernde Instanz erlebt zu haben. Kurz, die Rechtsprechung ist nicht besser, aber weit teurer geworden. Das ist alles. Sonderbar: während mau auf allen andern Gebieten des Staatslebens (z. B. bei der Post, der Eiseubahu- verwaltung, der Gesundheitspflege !c.) unablässig bemüht ist, das Leben der Staatsangehörigen zu erleichtern und zu sicherm, und auch diesem Ziele immer näher rückt, hat man bei der Justiz gerade den entgegengesetzten Weg beschritten. Sind die bestehenden Einrichtungen von der Art, daß man, ohne andre Interessen allzusehr zu verletzen, die Prvzeßkosten nicht herabsetzen kann, so taugen eben die Eiunchtuugen nichts, und sie müssen dann geändert werden. Eine Justiz, und mare sie selbst die beste der Welt, ist wertlos, wenn sie so teuer ist, daß mau sie nicht bezahlen kann. Betrachten wir zunächst die Einrichtung, welche das Einkommen vieler Anwälte geschmälert hat, die Freigebung der Anwaltschaft. Sie ist ins Leben gerufen durch politische Gründe, die wir in vollem Maße anerkennen. Es ist nicht nötig, die Ausübung des Anwaltsberufes an eine obrigkeitliche Gestattung zu binden. Die Anwaltschaft ist ihrer Natur nach ein freier Beruf, dessen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/368
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/368>, abgerufen am 03.07.2024.