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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall.

Segen mehr?" während der schmerzliche Ausdruck des Greises zeigt, wie derselbe
soeben bemerkt, daß er von seinem jüngern Sohne hintergangen worden ist und
diesem den Segen des Erstgebornen vorweggegeben hat. Sonderbares Zu¬
sammentreffen, diese Gruppe hier unter den Enterbten der Gesellschaft!

Wir verlassen die Kirche und wenden uns nach Toynbee-Hall. Wir treten
zunächst in den Hof; vor uns erhebt sich ein zweistöckiges Gebäude ans rotem
Backstein, das zwar auf architektonische Bedeutung keinen Anspruch macht, aber
doch mit seinen drei Giebeln und hohen Schornsteinen einladend und wohnlich
aussieht. Wir treten ein und werden in einen weiten Speisesaal gewiesen, in dem
wohl mehr als zweihundert Personen bequem Sitze finden könnten. Die Bücher¬
schränke aus schwarzem Holz, die sich rings an den Wänden hinziehen, zeigen,
daß der Raum zu andern Stunden als Bibliothek dient. Die Ausstattung ist
dem entsprechend einfach, aber nicht ohne Geschmack: einige Gypsabgüsse auf deu
Bücherschränken und als Hauptschmuck über dem Kamin eine große Original-
Photographie der Sixtinischen Madonna.

Die Gesellschaft, in der wir uns befinden, besteht aus etwa zwanzig bis
dreißig Herren. Die Mehrzahl sind Residenten von Toynbee-Hall, d. h. junge
Männer, die die Universität verlassen haben und nun, den Tag über im Westen
Londons beschäftigt, hier wohnen und ihre Freistunden am Abend dem Werke
im Osten widmen, außerdem einige ältere Herren, welche der Anstalt ihr Inter¬
esse zuwenden. Wir lernen hier bald aus eigner Erfahrung kennen, was manchen
Londoner" selbst unglaublich erscheinen mag, daß sich auch hier im Osten ein
Abend in aller Behaglichkeit zubringen läßt. "Sie dürfen nicht denken -- ver¬
sicherte mir einer der Herren -- daß unser Leben hier düster oder niederdrückend
sei. Allerdings sind die äußern Umgebungen einer Wohnung in Ost-London
weniger erfreulich als die im Westend, jedoch vergessen Sie nicht, daß für einen
Mann, der frisch vom Genusse seines Universitcitslebcns kommt, der Tausch
seines Colleges mit einer Mietwohnung in der besten Lage des Westens, sagen
wir selbst in South-Kensington, nicht eben eine Verbesserung erscheint. Statt am
Abend in eine Einsamkeit zurückzukehren, findet der Resident von Toynbee-Hall
seine Abende hier durch eine nützliche Thätigkeit erhellt und zugleich einen
glücklichen Antrieb in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten, worin ja das Prinzip
unsers Collegelebens besteht."

Bevor wir den Raum verlassen, werfen wir noch einen Blick auf den
Inhalt der Bücherschränke. Zeigen uus doch die Bücher zunächst oft mehr
von dem Geiste eines Hauses als die erste flüchtige Bekanntschaft mit seinen
Juscisfeu. Sämtliche Zweige der Wissenschaft sind in einer Auswahl ihrer Haupt¬
werke vertreten: Geschichte, Geographie, Rechtswissenschaft, besonders englische
Verfassung, Selbstverwaltung, Armen-, Fabrik- und Schulgesetzgebung, daneben
auch Werke über die Rechtsverhältnisse der Kolonien und Geschichte der eng¬
lische" Verfassung. Nationalökonomie ist sehr reich vertreten, unter andern


Toynbee-Hall.

Segen mehr?" während der schmerzliche Ausdruck des Greises zeigt, wie derselbe
soeben bemerkt, daß er von seinem jüngern Sohne hintergangen worden ist und
diesem den Segen des Erstgebornen vorweggegeben hat. Sonderbares Zu¬
sammentreffen, diese Gruppe hier unter den Enterbten der Gesellschaft!

Wir verlassen die Kirche und wenden uns nach Toynbee-Hall. Wir treten
zunächst in den Hof; vor uns erhebt sich ein zweistöckiges Gebäude ans rotem
Backstein, das zwar auf architektonische Bedeutung keinen Anspruch macht, aber
doch mit seinen drei Giebeln und hohen Schornsteinen einladend und wohnlich
aussieht. Wir treten ein und werden in einen weiten Speisesaal gewiesen, in dem
wohl mehr als zweihundert Personen bequem Sitze finden könnten. Die Bücher¬
schränke aus schwarzem Holz, die sich rings an den Wänden hinziehen, zeigen,
daß der Raum zu andern Stunden als Bibliothek dient. Die Ausstattung ist
dem entsprechend einfach, aber nicht ohne Geschmack: einige Gypsabgüsse auf deu
Bücherschränken und als Hauptschmuck über dem Kamin eine große Original-
Photographie der Sixtinischen Madonna.

Die Gesellschaft, in der wir uns befinden, besteht aus etwa zwanzig bis
dreißig Herren. Die Mehrzahl sind Residenten von Toynbee-Hall, d. h. junge
Männer, die die Universität verlassen haben und nun, den Tag über im Westen
Londons beschäftigt, hier wohnen und ihre Freistunden am Abend dem Werke
im Osten widmen, außerdem einige ältere Herren, welche der Anstalt ihr Inter¬
esse zuwenden. Wir lernen hier bald aus eigner Erfahrung kennen, was manchen
Londoner» selbst unglaublich erscheinen mag, daß sich auch hier im Osten ein
Abend in aller Behaglichkeit zubringen läßt. „Sie dürfen nicht denken — ver¬
sicherte mir einer der Herren — daß unser Leben hier düster oder niederdrückend
sei. Allerdings sind die äußern Umgebungen einer Wohnung in Ost-London
weniger erfreulich als die im Westend, jedoch vergessen Sie nicht, daß für einen
Mann, der frisch vom Genusse seines Universitcitslebcns kommt, der Tausch
seines Colleges mit einer Mietwohnung in der besten Lage des Westens, sagen
wir selbst in South-Kensington, nicht eben eine Verbesserung erscheint. Statt am
Abend in eine Einsamkeit zurückzukehren, findet der Resident von Toynbee-Hall
seine Abende hier durch eine nützliche Thätigkeit erhellt und zugleich einen
glücklichen Antrieb in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten, worin ja das Prinzip
unsers Collegelebens besteht."

Bevor wir den Raum verlassen, werfen wir noch einen Blick auf den
Inhalt der Bücherschränke. Zeigen uus doch die Bücher zunächst oft mehr
von dem Geiste eines Hauses als die erste flüchtige Bekanntschaft mit seinen
Juscisfeu. Sämtliche Zweige der Wissenschaft sind in einer Auswahl ihrer Haupt¬
werke vertreten: Geschichte, Geographie, Rechtswissenschaft, besonders englische
Verfassung, Selbstverwaltung, Armen-, Fabrik- und Schulgesetzgebung, daneben
auch Werke über die Rechtsverhältnisse der Kolonien und Geschichte der eng¬
lische» Verfassung. Nationalökonomie ist sehr reich vertreten, unter andern


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[0317] Toynbee-Hall. Segen mehr?" während der schmerzliche Ausdruck des Greises zeigt, wie derselbe soeben bemerkt, daß er von seinem jüngern Sohne hintergangen worden ist und diesem den Segen des Erstgebornen vorweggegeben hat. Sonderbares Zu¬ sammentreffen, diese Gruppe hier unter den Enterbten der Gesellschaft! Wir verlassen die Kirche und wenden uns nach Toynbee-Hall. Wir treten zunächst in den Hof; vor uns erhebt sich ein zweistöckiges Gebäude ans rotem Backstein, das zwar auf architektonische Bedeutung keinen Anspruch macht, aber doch mit seinen drei Giebeln und hohen Schornsteinen einladend und wohnlich aussieht. Wir treten ein und werden in einen weiten Speisesaal gewiesen, in dem wohl mehr als zweihundert Personen bequem Sitze finden könnten. Die Bücher¬ schränke aus schwarzem Holz, die sich rings an den Wänden hinziehen, zeigen, daß der Raum zu andern Stunden als Bibliothek dient. Die Ausstattung ist dem entsprechend einfach, aber nicht ohne Geschmack: einige Gypsabgüsse auf deu Bücherschränken und als Hauptschmuck über dem Kamin eine große Original- Photographie der Sixtinischen Madonna. Die Gesellschaft, in der wir uns befinden, besteht aus etwa zwanzig bis dreißig Herren. Die Mehrzahl sind Residenten von Toynbee-Hall, d. h. junge Männer, die die Universität verlassen haben und nun, den Tag über im Westen Londons beschäftigt, hier wohnen und ihre Freistunden am Abend dem Werke im Osten widmen, außerdem einige ältere Herren, welche der Anstalt ihr Inter¬ esse zuwenden. Wir lernen hier bald aus eigner Erfahrung kennen, was manchen Londoner» selbst unglaublich erscheinen mag, daß sich auch hier im Osten ein Abend in aller Behaglichkeit zubringen läßt. „Sie dürfen nicht denken — ver¬ sicherte mir einer der Herren — daß unser Leben hier düster oder niederdrückend sei. Allerdings sind die äußern Umgebungen einer Wohnung in Ost-London weniger erfreulich als die im Westend, jedoch vergessen Sie nicht, daß für einen Mann, der frisch vom Genusse seines Universitcitslebcns kommt, der Tausch seines Colleges mit einer Mietwohnung in der besten Lage des Westens, sagen wir selbst in South-Kensington, nicht eben eine Verbesserung erscheint. Statt am Abend in eine Einsamkeit zurückzukehren, findet der Resident von Toynbee-Hall seine Abende hier durch eine nützliche Thätigkeit erhellt und zugleich einen glücklichen Antrieb in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten, worin ja das Prinzip unsers Collegelebens besteht." Bevor wir den Raum verlassen, werfen wir noch einen Blick auf den Inhalt der Bücherschränke. Zeigen uus doch die Bücher zunächst oft mehr von dem Geiste eines Hauses als die erste flüchtige Bekanntschaft mit seinen Juscisfeu. Sämtliche Zweige der Wissenschaft sind in einer Auswahl ihrer Haupt¬ werke vertreten: Geschichte, Geographie, Rechtswissenschaft, besonders englische Verfassung, Selbstverwaltung, Armen-, Fabrik- und Schulgesetzgebung, daneben auch Werke über die Rechtsverhältnisse der Kolonien und Geschichte der eng¬ lische» Verfassung. Nationalökonomie ist sehr reich vertreten, unter andern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/317>, abgerufen am 03.07.2024.