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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynboe-Hall.

Punkt des Ringes ist Aldgate-Station. Hier war es, wo acht Tage nach
diesen? Gespräch mein Freund und ich ans Tageslicht emporstiegen.

Menschenschwärmc jagen an uns vorüber, schwere Lastwagen rollen über
das Pflaster: noch sind wir im Mittelpunkte des Verkehrs, aber der Charakter
der Stadt ist doch ein andrer geworden. Die hohen Häuser der City, aus
denen sich mehr und mehr die Bevölkerung zurückzieht, um dem Kondor und
Magazin Platz zu machen, liegen bereits westlich von uns; und, charakteristisch
genng, der Cylinderhut, der in der Handelswelt sein unbestrittenes Regiment
führt, hat plebejischeren Kopfbekleidungen das Feld gerammt.

Wir wenden uus ucich Osten. Die breite Straße, die wir verfolgen, er¬
scheint uns garnicht übel. Denn das Gebiet der eigentlichen Cvttage (Hütte)
beginnt erst weit über eine Stunde im Osten. Unser Freund belehrt uns jedoch,
daß der Bezirk, in dem wir uns befinden, White Chapel genannt, der Sitz einer
dichtgedrängten Arbeiterbevölkerung ist; in den Nebenstraßen haben schon Sorge
und Elend ihre dauernde Stätte, und wir brauchen nicht weit zu suchen, um
auf eins jener berüchtigten Viertel, "Sinns" genannt, zu stoßen, Brutstätten
des Elends und Verbrechens, von deren Niederlegung mau jahraus jahrein
immer wieder von neuem Hort. Zehn Minuten Londoner Schritts, und wir
wenden uns seitwärts. Wir würden hier an einer Kirche vorübercilen -- einer
der unzähligen Kirchen und Kapellen Ost-Londons --, wenn nicht unsre Auf¬
merksamkeit durch ein Wandgemälde gefesselt würde, das hier, in dauerhafter
Mosaik ausgeführt, Nebel und Rauch Trotz bietet. Es ist eine Allegorie des
Engländers Watts, Zeit, Tod und Gericht darstellend, mit einer Unterschrift,
die etwa folgendes besagt: Die Zeit ist ein kräftiger Mann, der der Zukunft
zueilt, der Tod eine traurige Mutter, die jenen bei der Hand nimmt; über beiden
aber schwebt das Gericht Gottes. Darunter befindet sich ein Brunnen mit
hübschem Becken ans gebranntem Thon und Trinkgefäßen, und über dem Becken
die Worte: "Bei Gott ist die Quelle des Lebens." Wir stehen vor Se. Judas,
der Kirche von White Chapel, die ihr Vikar, I. A. Baruel, in unermüdlicher,
zwanzigjähriger Arbeit zu einem wahren Sammelpunkte der Wohlthätigkeit ge¬
macht hat. Hinter der Kirche liegt die Judasschule, ueben der Kirche Tvynbee-
Hall, davor ein nicht unbedeutendes Heim für obdachlose Mädchen.

Werfen wir einen Blick in die Kirche, die entgegen der englischen Gewohn¬
heit auch an Wochentagen geöffnet ist, "zu schweigender Andacht und Nach¬
denken," wie die Überschrift sagt. Der Raum, in den wir treten, ist eine drei-
schiffige Halle in gothischem Stile. Obwohl schmucklos, macht sie in ihren
dunklen Farbentönen doch keine" kahlen Eindruck, sie ist crust, aber uicht un¬
schön. Um den Altar grünen hohe Blattpflanzen; der einzige künstlerische
Schmuck der Kirche aber ist ein eigentümliches Werk der neuern englischen
Skulptur. Die Gruppe stellt den Angenblick dar, wie Esau vor seinem blinden
Vater Jsaak kniet und ihn fragt: "Mein Vater, hast du denn für mich keinen


Toynboe-Hall.

Punkt des Ringes ist Aldgate-Station. Hier war es, wo acht Tage nach
diesen? Gespräch mein Freund und ich ans Tageslicht emporstiegen.

Menschenschwärmc jagen an uns vorüber, schwere Lastwagen rollen über
das Pflaster: noch sind wir im Mittelpunkte des Verkehrs, aber der Charakter
der Stadt ist doch ein andrer geworden. Die hohen Häuser der City, aus
denen sich mehr und mehr die Bevölkerung zurückzieht, um dem Kondor und
Magazin Platz zu machen, liegen bereits westlich von uns; und, charakteristisch
genng, der Cylinderhut, der in der Handelswelt sein unbestrittenes Regiment
führt, hat plebejischeren Kopfbekleidungen das Feld gerammt.

Wir wenden uus ucich Osten. Die breite Straße, die wir verfolgen, er¬
scheint uns garnicht übel. Denn das Gebiet der eigentlichen Cvttage (Hütte)
beginnt erst weit über eine Stunde im Osten. Unser Freund belehrt uns jedoch,
daß der Bezirk, in dem wir uns befinden, White Chapel genannt, der Sitz einer
dichtgedrängten Arbeiterbevölkerung ist; in den Nebenstraßen haben schon Sorge
und Elend ihre dauernde Stätte, und wir brauchen nicht weit zu suchen, um
auf eins jener berüchtigten Viertel, „Sinns" genannt, zu stoßen, Brutstätten
des Elends und Verbrechens, von deren Niederlegung mau jahraus jahrein
immer wieder von neuem Hort. Zehn Minuten Londoner Schritts, und wir
wenden uns seitwärts. Wir würden hier an einer Kirche vorübercilen — einer
der unzähligen Kirchen und Kapellen Ost-Londons —, wenn nicht unsre Auf¬
merksamkeit durch ein Wandgemälde gefesselt würde, das hier, in dauerhafter
Mosaik ausgeführt, Nebel und Rauch Trotz bietet. Es ist eine Allegorie des
Engländers Watts, Zeit, Tod und Gericht darstellend, mit einer Unterschrift,
die etwa folgendes besagt: Die Zeit ist ein kräftiger Mann, der der Zukunft
zueilt, der Tod eine traurige Mutter, die jenen bei der Hand nimmt; über beiden
aber schwebt das Gericht Gottes. Darunter befindet sich ein Brunnen mit
hübschem Becken ans gebranntem Thon und Trinkgefäßen, und über dem Becken
die Worte: „Bei Gott ist die Quelle des Lebens." Wir stehen vor Se. Judas,
der Kirche von White Chapel, die ihr Vikar, I. A. Baruel, in unermüdlicher,
zwanzigjähriger Arbeit zu einem wahren Sammelpunkte der Wohlthätigkeit ge¬
macht hat. Hinter der Kirche liegt die Judasschule, ueben der Kirche Tvynbee-
Hall, davor ein nicht unbedeutendes Heim für obdachlose Mädchen.

Werfen wir einen Blick in die Kirche, die entgegen der englischen Gewohn¬
heit auch an Wochentagen geöffnet ist, „zu schweigender Andacht und Nach¬
denken," wie die Überschrift sagt. Der Raum, in den wir treten, ist eine drei-
schiffige Halle in gothischem Stile. Obwohl schmucklos, macht sie in ihren
dunklen Farbentönen doch keine» kahlen Eindruck, sie ist crust, aber uicht un¬
schön. Um den Altar grünen hohe Blattpflanzen; der einzige künstlerische
Schmuck der Kirche aber ist ein eigentümliches Werk der neuern englischen
Skulptur. Die Gruppe stellt den Angenblick dar, wie Esau vor seinem blinden
Vater Jsaak kniet und ihn fragt: „Mein Vater, hast du denn für mich keinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/316>, abgerufen am 22.07.2024.