Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Toynbee - Hall.

hält, und die sich so fremd sind, als seien sie in andern Zonen geboren, sind
für ihn die Armen und die Reichen. Demgegenüber blickt er bewundernd auf
eine Vergangenheit zurück, in der es noch Mittelglieder, "Ruheplätze," wie er
es ausdrückt, zwischen Arm und Reich gab. Insbesondre wurde ich an das
Buch erinnert, als ich die Ruinen der südschvttischen Melrose-Abtei besuchte.
In den erhabenen Trümmern glaubte ich bis ins einzelne jenes Kloster wieder¬
zuerkennen, dessen Beschreibung im Anfange des Romans ich bisher für ein
poetisches Idealbild gehalten hatte. Ich hatte den Ausflug nach der genannten
Abtei gemeinschaftlich mit einem Freunde gemacht, mit dem ich London zugleich
verlassen hatte, der aber, während ich die Industriestädte des Nordens besuchte,
geradeswegs nach Schottland gegangen war. Dort wurde er wieder mein
Führer, und zwar umso lieber, als er daS Land in früheren Jahren oft durch¬
streift und die Forelle, die sich mehr und mehr in die Bäche des Hochlandes
zurückzieht, bis in die abgelegensten Thäler verfolgt hatte.

Während ich sonst die nationalem Vorurteile schonte, benutzte ich diesmal
die Stille des Ortes und die Gegenwart einer großen Vergangenheit, um ent¬
sprechend den Eindrücken, die mir seit unsrer Trennung geworden waren,
meinem Freunde einmal von den Gefahren zu sprechen, welche nach einer in
Deutschland weitverbreiteten Ansicht das englische Volksleben heutzutage be¬
drohen.

Wenn wir uach unsern heimatlichen Verhältnissen urteilen, halten wir ge¬
wöhnlich ein Übergewicht der Stadt über das Land, der Industrie über den
Ackerbau an sich für ein Unglück. Wir haben leider die Erfahrung gemacht,
daß das Individuum, das Tausende seinesgleichen umdrängen, nicht mir gegen
den Nachbarn, sondern auch gegen das große Ganze, das Vaterland, gleich-
giltig wird. Wenn wir nun sehen, daß in England die Entwicklung der Städte
viel weiter fortgeschritten ist als bei uns, daß die Verödung des Landes, die
Bildung eines städtischen Proletariats und der Klassengegensatz zwischen Arbeit¬
geber und Arbeiter dort uns unbekannte Ausdehnungen angenommen hat, so
halten wir solche Erscheinungen nur zu leicht für den Anfang vom Ende.

Mein Freund faßte zunächst das letzte auf. England im Niedergehen! eine
Ansicht, die er bei Ausländern öfters gefunden habe. Was uns Zeichen des
Unterganges scheinen, seien nichts als die Anzeichen des Unbehagens einer
Krabbe, die ihr altes Haus zu eng findet und im Begriffe steht, sich ein neues
und besseres zu bilden. "Eine Verherrlichung unsrer Vergangenheit auf Kosten
der Gegenwart mag verzeihlich sein, fuhr er fort. Aber jener Schriftsteller,
dessen Sie oben gedachten, hat daraus nicht den Schluß gezogen, daß an unsern
heutige" Zuständen zu verzweifeln sei. Für ihn war jener romantische Zug
seiner Romane, selbst wenn er mit der geschichtlichen Wahrheit in Widerspruch
sein mochte, wertvoll, um die Schäden der Gegenwart zu beleuchten. Er be¬
gann damit seine Laufbahn als konservativer Staatsmann, in welcher Eigen-


Toynbee - Hall.

hält, und die sich so fremd sind, als seien sie in andern Zonen geboren, sind
für ihn die Armen und die Reichen. Demgegenüber blickt er bewundernd auf
eine Vergangenheit zurück, in der es noch Mittelglieder, „Ruheplätze," wie er
es ausdrückt, zwischen Arm und Reich gab. Insbesondre wurde ich an das
Buch erinnert, als ich die Ruinen der südschvttischen Melrose-Abtei besuchte.
In den erhabenen Trümmern glaubte ich bis ins einzelne jenes Kloster wieder¬
zuerkennen, dessen Beschreibung im Anfange des Romans ich bisher für ein
poetisches Idealbild gehalten hatte. Ich hatte den Ausflug nach der genannten
Abtei gemeinschaftlich mit einem Freunde gemacht, mit dem ich London zugleich
verlassen hatte, der aber, während ich die Industriestädte des Nordens besuchte,
geradeswegs nach Schottland gegangen war. Dort wurde er wieder mein
Führer, und zwar umso lieber, als er daS Land in früheren Jahren oft durch¬
streift und die Forelle, die sich mehr und mehr in die Bäche des Hochlandes
zurückzieht, bis in die abgelegensten Thäler verfolgt hatte.

Während ich sonst die nationalem Vorurteile schonte, benutzte ich diesmal
die Stille des Ortes und die Gegenwart einer großen Vergangenheit, um ent¬
sprechend den Eindrücken, die mir seit unsrer Trennung geworden waren,
meinem Freunde einmal von den Gefahren zu sprechen, welche nach einer in
Deutschland weitverbreiteten Ansicht das englische Volksleben heutzutage be¬
drohen.

Wenn wir uach unsern heimatlichen Verhältnissen urteilen, halten wir ge¬
wöhnlich ein Übergewicht der Stadt über das Land, der Industrie über den
Ackerbau an sich für ein Unglück. Wir haben leider die Erfahrung gemacht,
daß das Individuum, das Tausende seinesgleichen umdrängen, nicht mir gegen
den Nachbarn, sondern auch gegen das große Ganze, das Vaterland, gleich-
giltig wird. Wenn wir nun sehen, daß in England die Entwicklung der Städte
viel weiter fortgeschritten ist als bei uns, daß die Verödung des Landes, die
Bildung eines städtischen Proletariats und der Klassengegensatz zwischen Arbeit¬
geber und Arbeiter dort uns unbekannte Ausdehnungen angenommen hat, so
halten wir solche Erscheinungen nur zu leicht für den Anfang vom Ende.

Mein Freund faßte zunächst das letzte auf. England im Niedergehen! eine
Ansicht, die er bei Ausländern öfters gefunden habe. Was uns Zeichen des
Unterganges scheinen, seien nichts als die Anzeichen des Unbehagens einer
Krabbe, die ihr altes Haus zu eng findet und im Begriffe steht, sich ein neues
und besseres zu bilden. „Eine Verherrlichung unsrer Vergangenheit auf Kosten
der Gegenwart mag verzeihlich sein, fuhr er fort. Aber jener Schriftsteller,
dessen Sie oben gedachten, hat daraus nicht den Schluß gezogen, daß an unsern
heutige« Zuständen zu verzweifeln sei. Für ihn war jener romantische Zug
seiner Romane, selbst wenn er mit der geschichtlichen Wahrheit in Widerspruch
sein mochte, wertvoll, um die Schäden der Gegenwart zu beleuchten. Er be¬
gann damit seine Laufbahn als konservativer Staatsmann, in welcher Eigen-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0314" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200419"/>
            <fw type="header" place="top"> Toynbee - Hall.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_926" prev="#ID_925"> hält, und die sich so fremd sind, als seien sie in andern Zonen geboren, sind<lb/>
für ihn die Armen und die Reichen. Demgegenüber blickt er bewundernd auf<lb/>
eine Vergangenheit zurück, in der es noch Mittelglieder, &#x201E;Ruheplätze," wie er<lb/>
es ausdrückt, zwischen Arm und Reich gab. Insbesondre wurde ich an das<lb/>
Buch erinnert, als ich die Ruinen der südschvttischen Melrose-Abtei besuchte.<lb/>
In den erhabenen Trümmern glaubte ich bis ins einzelne jenes Kloster wieder¬<lb/>
zuerkennen, dessen Beschreibung im Anfange des Romans ich bisher für ein<lb/>
poetisches Idealbild gehalten hatte. Ich hatte den Ausflug nach der genannten<lb/>
Abtei gemeinschaftlich mit einem Freunde gemacht, mit dem ich London zugleich<lb/>
verlassen hatte, der aber, während ich die Industriestädte des Nordens besuchte,<lb/>
geradeswegs nach Schottland gegangen war. Dort wurde er wieder mein<lb/>
Führer, und zwar umso lieber, als er daS Land in früheren Jahren oft durch¬<lb/>
streift und die Forelle, die sich mehr und mehr in die Bäche des Hochlandes<lb/>
zurückzieht, bis in die abgelegensten Thäler verfolgt hatte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_927"> Während ich sonst die nationalem Vorurteile schonte, benutzte ich diesmal<lb/>
die Stille des Ortes und die Gegenwart einer großen Vergangenheit, um ent¬<lb/>
sprechend den Eindrücken, die mir seit unsrer Trennung geworden waren,<lb/>
meinem Freunde einmal von den Gefahren zu sprechen, welche nach einer in<lb/>
Deutschland weitverbreiteten Ansicht das englische Volksleben heutzutage be¬<lb/>
drohen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_928"> Wenn wir uach unsern heimatlichen Verhältnissen urteilen, halten wir ge¬<lb/>
wöhnlich ein Übergewicht der Stadt über das Land, der Industrie über den<lb/>
Ackerbau an sich für ein Unglück. Wir haben leider die Erfahrung gemacht,<lb/>
daß das Individuum, das Tausende seinesgleichen umdrängen, nicht mir gegen<lb/>
den Nachbarn, sondern auch gegen das große Ganze, das Vaterland, gleich-<lb/>
giltig wird. Wenn wir nun sehen, daß in England die Entwicklung der Städte<lb/>
viel weiter fortgeschritten ist als bei uns, daß die Verödung des Landes, die<lb/>
Bildung eines städtischen Proletariats und der Klassengegensatz zwischen Arbeit¬<lb/>
geber und Arbeiter dort uns unbekannte Ausdehnungen angenommen hat, so<lb/>
halten wir solche Erscheinungen nur zu leicht für den Anfang vom Ende.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_929" next="#ID_930"> Mein Freund faßte zunächst das letzte auf. England im Niedergehen! eine<lb/>
Ansicht, die er bei Ausländern öfters gefunden habe. Was uns Zeichen des<lb/>
Unterganges scheinen, seien nichts als die Anzeichen des Unbehagens einer<lb/>
Krabbe, die ihr altes Haus zu eng findet und im Begriffe steht, sich ein neues<lb/>
und besseres zu bilden. &#x201E;Eine Verherrlichung unsrer Vergangenheit auf Kosten<lb/>
der Gegenwart mag verzeihlich sein, fuhr er fort. Aber jener Schriftsteller,<lb/>
dessen Sie oben gedachten, hat daraus nicht den Schluß gezogen, daß an unsern<lb/>
heutige« Zuständen zu verzweifeln sei. Für ihn war jener romantische Zug<lb/>
seiner Romane, selbst wenn er mit der geschichtlichen Wahrheit in Widerspruch<lb/>
sein mochte, wertvoll, um die Schäden der Gegenwart zu beleuchten. Er be¬<lb/>
gann damit seine Laufbahn als konservativer Staatsmann, in welcher Eigen-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0314] Toynbee - Hall. hält, und die sich so fremd sind, als seien sie in andern Zonen geboren, sind für ihn die Armen und die Reichen. Demgegenüber blickt er bewundernd auf eine Vergangenheit zurück, in der es noch Mittelglieder, „Ruheplätze," wie er es ausdrückt, zwischen Arm und Reich gab. Insbesondre wurde ich an das Buch erinnert, als ich die Ruinen der südschvttischen Melrose-Abtei besuchte. In den erhabenen Trümmern glaubte ich bis ins einzelne jenes Kloster wieder¬ zuerkennen, dessen Beschreibung im Anfange des Romans ich bisher für ein poetisches Idealbild gehalten hatte. Ich hatte den Ausflug nach der genannten Abtei gemeinschaftlich mit einem Freunde gemacht, mit dem ich London zugleich verlassen hatte, der aber, während ich die Industriestädte des Nordens besuchte, geradeswegs nach Schottland gegangen war. Dort wurde er wieder mein Führer, und zwar umso lieber, als er daS Land in früheren Jahren oft durch¬ streift und die Forelle, die sich mehr und mehr in die Bäche des Hochlandes zurückzieht, bis in die abgelegensten Thäler verfolgt hatte. Während ich sonst die nationalem Vorurteile schonte, benutzte ich diesmal die Stille des Ortes und die Gegenwart einer großen Vergangenheit, um ent¬ sprechend den Eindrücken, die mir seit unsrer Trennung geworden waren, meinem Freunde einmal von den Gefahren zu sprechen, welche nach einer in Deutschland weitverbreiteten Ansicht das englische Volksleben heutzutage be¬ drohen. Wenn wir uach unsern heimatlichen Verhältnissen urteilen, halten wir ge¬ wöhnlich ein Übergewicht der Stadt über das Land, der Industrie über den Ackerbau an sich für ein Unglück. Wir haben leider die Erfahrung gemacht, daß das Individuum, das Tausende seinesgleichen umdrängen, nicht mir gegen den Nachbarn, sondern auch gegen das große Ganze, das Vaterland, gleich- giltig wird. Wenn wir nun sehen, daß in England die Entwicklung der Städte viel weiter fortgeschritten ist als bei uns, daß die Verödung des Landes, die Bildung eines städtischen Proletariats und der Klassengegensatz zwischen Arbeit¬ geber und Arbeiter dort uns unbekannte Ausdehnungen angenommen hat, so halten wir solche Erscheinungen nur zu leicht für den Anfang vom Ende. Mein Freund faßte zunächst das letzte auf. England im Niedergehen! eine Ansicht, die er bei Ausländern öfters gefunden habe. Was uns Zeichen des Unterganges scheinen, seien nichts als die Anzeichen des Unbehagens einer Krabbe, die ihr altes Haus zu eng findet und im Begriffe steht, sich ein neues und besseres zu bilden. „Eine Verherrlichung unsrer Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart mag verzeihlich sein, fuhr er fort. Aber jener Schriftsteller, dessen Sie oben gedachten, hat daraus nicht den Schluß gezogen, daß an unsern heutige« Zuständen zu verzweifeln sei. Für ihn war jener romantische Zug seiner Romane, selbst wenn er mit der geschichtlichen Wahrheit in Widerspruch sein mochte, wertvoll, um die Schäden der Gegenwart zu beleuchten. Er be¬ gann damit seine Laufbahn als konservativer Staatsmann, in welcher Eigen-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/314
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/314>, abgerufen am 03.07.2024.