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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall.

Kunst und der geschichtlichen Erinnerung, welche die englische Nation seit Jahr¬
hunderten in West-London aufgespeichert hat, sie sind es, die den Fremden zuerst
gefangen nehmen.

Persönliche Neigungen richteten meinen Blick daneben auf die eigentümlichen
Rechts- und Wirtschaftsvcrhältnisse des Landes. Für längere Zeit Gast im
Temple, jenem altertümlichen Gebändekomplex im Mittelpunkte der Stadt,
welcher Sitz und Mittelpunkt der bedeutenden Juristenkorporativnen des Inner-
Temple und Middle-Temple ist, hatte ich zugleich Gelegenheit, die fast noch
mittelalterlichen Formen des englischen Rechtslebens und -Studiums aus der
Nähe mit anzusehen. Ausflüge in die Umgegend Londons machten mich mit
den berühmten Erziehungsanstalten des Landes, den beiden ehrwürdigen Uni¬
versitäten und deu berühmten l'nouv LolloolZ, wie Eton, Winchester, Harrow,
bekannt. Überall hatte ich das Glück, alte Freundschaften wieder aufzunehmen
oder neue Bekanntschaften zu knüpfen, und dadurch war es mir vergönnt, auch
einen Blick in das abgeschlossene Innere dieser Anstalten zu thun. Immer aber
kehrte ich nach London mit einem Gefühl zurück, welches das Leben in der
Großstadt so anziehend macht, nämlich mich im Mittelpunkte des Lebens einer
großen und glänzenden Nation zu befinden.

Erst allmählich treten neben den Lichtseiten auch die Schatten des Bildes
hervor. Insbesondre ist eine Reise nach den Industriebezirken des Nordens
geeignet, dem Fremden die schweren sozialen Schäden im Leben des englischen
Volkes zum Bewußtsein zu bringen. Rauchende Schornsteine, zusammengedrängte
Arbeitermassen, nimmer rastende Maschinen, das alles ist in London auch vor¬
handen, aber dem Fremden tritt es erst in Manchester, Liverpool und Newcastle
vor Augen. Bei längerm Aufenthalte wird er sogar ans die pessimistische An¬
schauung wieder zurückgreifen, die er in Beziehung auf die Zukunft Englands
wahrscheinlich vom Festlande mitgebracht hat.

Wer weiter nach Norden reist, kommt in das Land der englischen Seen
und dann nach Schottland. Trotz aller Naturschönheiten, die uns eine solche
Reise aufthut, ist sie doch wenig geeignet, die düstern Eindrücke zu mildern, die
wir in Nordengland empfangen haben. Wer die weiten, unbebauten "Sports-
lauds" durchfährt, kann sich der Überzeugung kaum verschließen, daß eine Nen-
teilung des Landes nvtthnt. Die "Landfrage" begleitet ihn überall hin wie
ein Gespenst, welches zu bannen die Zauberformel uoch uicht gefunden ist. In
Schottland, dem Lande der Sage und Geschichte, alter Schlösser, einsamer
Kirchen und verfallener Abteien, tritt zu der pessimistischen Stimmung noch ein
gewisser romantischer Zug: Verherrlichung der Vergangenheit ans Kosten der
Gegenwart. Auch Engländer selbst sind davon nicht ganz unberührt geblieben, wie
mir einer der frühesten Romane des spätern Earl of BeaeonSfield: "Sybil oder
die zwei Nationen" beweist. Die beiden Nationen, über die die Königin des
Volkes herrscht, das sich für das größte, moralischste und religiöseste der Welt


Grenzboten I. 1837. W
Toynbee-Hall.

Kunst und der geschichtlichen Erinnerung, welche die englische Nation seit Jahr¬
hunderten in West-London aufgespeichert hat, sie sind es, die den Fremden zuerst
gefangen nehmen.

Persönliche Neigungen richteten meinen Blick daneben auf die eigentümlichen
Rechts- und Wirtschaftsvcrhältnisse des Landes. Für längere Zeit Gast im
Temple, jenem altertümlichen Gebändekomplex im Mittelpunkte der Stadt,
welcher Sitz und Mittelpunkt der bedeutenden Juristenkorporativnen des Inner-
Temple und Middle-Temple ist, hatte ich zugleich Gelegenheit, die fast noch
mittelalterlichen Formen des englischen Rechtslebens und -Studiums aus der
Nähe mit anzusehen. Ausflüge in die Umgegend Londons machten mich mit
den berühmten Erziehungsanstalten des Landes, den beiden ehrwürdigen Uni¬
versitäten und deu berühmten l'nouv LolloolZ, wie Eton, Winchester, Harrow,
bekannt. Überall hatte ich das Glück, alte Freundschaften wieder aufzunehmen
oder neue Bekanntschaften zu knüpfen, und dadurch war es mir vergönnt, auch
einen Blick in das abgeschlossene Innere dieser Anstalten zu thun. Immer aber
kehrte ich nach London mit einem Gefühl zurück, welches das Leben in der
Großstadt so anziehend macht, nämlich mich im Mittelpunkte des Lebens einer
großen und glänzenden Nation zu befinden.

Erst allmählich treten neben den Lichtseiten auch die Schatten des Bildes
hervor. Insbesondre ist eine Reise nach den Industriebezirken des Nordens
geeignet, dem Fremden die schweren sozialen Schäden im Leben des englischen
Volkes zum Bewußtsein zu bringen. Rauchende Schornsteine, zusammengedrängte
Arbeitermassen, nimmer rastende Maschinen, das alles ist in London auch vor¬
handen, aber dem Fremden tritt es erst in Manchester, Liverpool und Newcastle
vor Augen. Bei längerm Aufenthalte wird er sogar ans die pessimistische An¬
schauung wieder zurückgreifen, die er in Beziehung auf die Zukunft Englands
wahrscheinlich vom Festlande mitgebracht hat.

Wer weiter nach Norden reist, kommt in das Land der englischen Seen
und dann nach Schottland. Trotz aller Naturschönheiten, die uns eine solche
Reise aufthut, ist sie doch wenig geeignet, die düstern Eindrücke zu mildern, die
wir in Nordengland empfangen haben. Wer die weiten, unbebauten „Sports-
lauds" durchfährt, kann sich der Überzeugung kaum verschließen, daß eine Nen-
teilung des Landes nvtthnt. Die „Landfrage" begleitet ihn überall hin wie
ein Gespenst, welches zu bannen die Zauberformel uoch uicht gefunden ist. In
Schottland, dem Lande der Sage und Geschichte, alter Schlösser, einsamer
Kirchen und verfallener Abteien, tritt zu der pessimistischen Stimmung noch ein
gewisser romantischer Zug: Verherrlichung der Vergangenheit ans Kosten der
Gegenwart. Auch Engländer selbst sind davon nicht ganz unberührt geblieben, wie
mir einer der frühesten Romane des spätern Earl of BeaeonSfield: „Sybil oder
die zwei Nationen" beweist. Die beiden Nationen, über die die Königin des
Volkes herrscht, das sich für das größte, moralischste und religiöseste der Welt


Grenzboten I. 1837. W
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/313>, abgerufen am 22.12.2024.