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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die Berliner Singakademie und die musikalische Volksbildung.

Sollen wir noch von den Gründen sprechen, welche Grell zu der oft be¬
rührten "Einseitigkeit" seiner Grundansichten gebracht hatten? Wir müssen es
wohl thun, damit nicht die Meinung entstehe, es sei eine bloße aristokratische
Grille, daß er sich gegen das Virtuosentum der Hochschule und die Instrumental¬
begleitung ausgesprochen habe. Nein, es waren in der That außerordentlich
gut durchdachte, ich möchte sagen mathematische Gründe, die ihn wenigstens bei
den Kunstschulen zu seiner Hartnäckigkeit bestimmten, und er rechnete eben die
Singakademie zu den Kunstschulen.

Wer Grell weniger in diesen mathematisch-physikalischen Grundlagen glaubt,
mag den Physiker Helmholtz befragen, der in seiner Lehre von den "Ton-
empfindungen" gegen Ende genau im Sinne Grells wenigstens das aus¬
einandersetzt, warum die Instrumente, insbesondre Klavier und Orgel, uur durch
künstliche Verstimmung fast aller Intervalle, also durch die "gleichschwebende
Temperatur," ihre Brauchbarkeit gewonnen haben, und wie sie schon dadurch
auf den Gesang, den nichts um der reinsten wechselnden Intonation hindert,
schädlich einwirken, ganz abgesehen von andern Übelständen. Helmholtz hat
bekanntlich eine Physharmonika erfunden und auch auf neuere englische Orgeln
hingewiesen, die nicht der ausgleichenden Verstimmung unterliegen. Aber wer
kennt diese Instrumente, und wer kann sie benutzen? Die wirklich vorhandnen
Instrumente sind eben andrer Art, und wenn Grell sie nicht zur zusammen¬
hängenden Begleitung des Gesanges, sondern nur als (kombinirte) Stimmgabeln
zur Stütze des nahestehenden Säugers benutzt wissen will, so denkt er ganz im
Interesse des reinen Gesanges, und bleibt in den Bahnen der alten Gründer
der Singakademie Fasch, Zelter u. s. w., die einen fast unhörbar schwach klingenden
Fcdcrflügel zur Begleitung ihres Chores für völlig genügend hielten.

Nicht bloß ans diesem mathematisch-physikalischen Grnnde steht für Grell
der ^ vÄxxMa-Gesang auf der Höhe der Musik, sondern noch aus andern, die
nicht alle gleichen Wert haben. Insbesondre übertreibt er den Unterschied, daß
die Instrumentalmusik "Handwerkszeug" nötig habe, der Gesang nicht. Der
Unterschied ist nicht prinzipiell, der eigne Körper muß (die Kehle und andre
Organe beim Singen, die Füße beim Tanz) anch gewissermaßen erst erobert
werden, und gleich wie manche Sängerin "seelenvoll" singt, ohne eigentlich eine
Seele zu haben, so kann uns auch der Violoneellospieler uuter Umständen dnrch
ein "seelenvolles" Spiel erfreuen. Damit soll die Wichtigkeit des Wortes in
der Musik nicht herabgesetzt werden.

In andrer Beziehung, nämlich als Komponist, kommt Grell dem Thema
seiner musikalischen Grundansichten zu Hilfe. Im Gegensatz zu dem genannten
A. Marx, nach dessen Art die Kompositionslehre jetzt meist auf das Zusammen¬
klingen der Akkordstimmen bastrt wird und nur hinterher und beiläufig auf das
Fortschreiten jeder einzelnen Stimme geachtet wird, will Grell und seine Schule
in älterer Weise das harmonische Gewebe erst dnrch die Einzelstimmen entstehen


Die Berliner Singakademie und die musikalische Volksbildung.

Sollen wir noch von den Gründen sprechen, welche Grell zu der oft be¬
rührten „Einseitigkeit" seiner Grundansichten gebracht hatten? Wir müssen es
wohl thun, damit nicht die Meinung entstehe, es sei eine bloße aristokratische
Grille, daß er sich gegen das Virtuosentum der Hochschule und die Instrumental¬
begleitung ausgesprochen habe. Nein, es waren in der That außerordentlich
gut durchdachte, ich möchte sagen mathematische Gründe, die ihn wenigstens bei
den Kunstschulen zu seiner Hartnäckigkeit bestimmten, und er rechnete eben die
Singakademie zu den Kunstschulen.

Wer Grell weniger in diesen mathematisch-physikalischen Grundlagen glaubt,
mag den Physiker Helmholtz befragen, der in seiner Lehre von den „Ton-
empfindungen" gegen Ende genau im Sinne Grells wenigstens das aus¬
einandersetzt, warum die Instrumente, insbesondre Klavier und Orgel, uur durch
künstliche Verstimmung fast aller Intervalle, also durch die „gleichschwebende
Temperatur," ihre Brauchbarkeit gewonnen haben, und wie sie schon dadurch
auf den Gesang, den nichts um der reinsten wechselnden Intonation hindert,
schädlich einwirken, ganz abgesehen von andern Übelständen. Helmholtz hat
bekanntlich eine Physharmonika erfunden und auch auf neuere englische Orgeln
hingewiesen, die nicht der ausgleichenden Verstimmung unterliegen. Aber wer
kennt diese Instrumente, und wer kann sie benutzen? Die wirklich vorhandnen
Instrumente sind eben andrer Art, und wenn Grell sie nicht zur zusammen¬
hängenden Begleitung des Gesanges, sondern nur als (kombinirte) Stimmgabeln
zur Stütze des nahestehenden Säugers benutzt wissen will, so denkt er ganz im
Interesse des reinen Gesanges, und bleibt in den Bahnen der alten Gründer
der Singakademie Fasch, Zelter u. s. w., die einen fast unhörbar schwach klingenden
Fcdcrflügel zur Begleitung ihres Chores für völlig genügend hielten.

Nicht bloß ans diesem mathematisch-physikalischen Grnnde steht für Grell
der ^ vÄxxMa-Gesang auf der Höhe der Musik, sondern noch aus andern, die
nicht alle gleichen Wert haben. Insbesondre übertreibt er den Unterschied, daß
die Instrumentalmusik „Handwerkszeug" nötig habe, der Gesang nicht. Der
Unterschied ist nicht prinzipiell, der eigne Körper muß (die Kehle und andre
Organe beim Singen, die Füße beim Tanz) anch gewissermaßen erst erobert
werden, und gleich wie manche Sängerin „seelenvoll" singt, ohne eigentlich eine
Seele zu haben, so kann uns auch der Violoneellospieler uuter Umständen dnrch
ein „seelenvolles" Spiel erfreuen. Damit soll die Wichtigkeit des Wortes in
der Musik nicht herabgesetzt werden.

In andrer Beziehung, nämlich als Komponist, kommt Grell dem Thema
seiner musikalischen Grundansichten zu Hilfe. Im Gegensatz zu dem genannten
A. Marx, nach dessen Art die Kompositionslehre jetzt meist auf das Zusammen¬
klingen der Akkordstimmen bastrt wird und nur hinterher und beiläufig auf das
Fortschreiten jeder einzelnen Stimme geachtet wird, will Grell und seine Schule
in älterer Weise das harmonische Gewebe erst dnrch die Einzelstimmen entstehen


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[0295] Die Berliner Singakademie und die musikalische Volksbildung. Sollen wir noch von den Gründen sprechen, welche Grell zu der oft be¬ rührten „Einseitigkeit" seiner Grundansichten gebracht hatten? Wir müssen es wohl thun, damit nicht die Meinung entstehe, es sei eine bloße aristokratische Grille, daß er sich gegen das Virtuosentum der Hochschule und die Instrumental¬ begleitung ausgesprochen habe. Nein, es waren in der That außerordentlich gut durchdachte, ich möchte sagen mathematische Gründe, die ihn wenigstens bei den Kunstschulen zu seiner Hartnäckigkeit bestimmten, und er rechnete eben die Singakademie zu den Kunstschulen. Wer Grell weniger in diesen mathematisch-physikalischen Grundlagen glaubt, mag den Physiker Helmholtz befragen, der in seiner Lehre von den „Ton- empfindungen" gegen Ende genau im Sinne Grells wenigstens das aus¬ einandersetzt, warum die Instrumente, insbesondre Klavier und Orgel, uur durch künstliche Verstimmung fast aller Intervalle, also durch die „gleichschwebende Temperatur," ihre Brauchbarkeit gewonnen haben, und wie sie schon dadurch auf den Gesang, den nichts um der reinsten wechselnden Intonation hindert, schädlich einwirken, ganz abgesehen von andern Übelständen. Helmholtz hat bekanntlich eine Physharmonika erfunden und auch auf neuere englische Orgeln hingewiesen, die nicht der ausgleichenden Verstimmung unterliegen. Aber wer kennt diese Instrumente, und wer kann sie benutzen? Die wirklich vorhandnen Instrumente sind eben andrer Art, und wenn Grell sie nicht zur zusammen¬ hängenden Begleitung des Gesanges, sondern nur als (kombinirte) Stimmgabeln zur Stütze des nahestehenden Säugers benutzt wissen will, so denkt er ganz im Interesse des reinen Gesanges, und bleibt in den Bahnen der alten Gründer der Singakademie Fasch, Zelter u. s. w., die einen fast unhörbar schwach klingenden Fcdcrflügel zur Begleitung ihres Chores für völlig genügend hielten. Nicht bloß ans diesem mathematisch-physikalischen Grnnde steht für Grell der ^ vÄxxMa-Gesang auf der Höhe der Musik, sondern noch aus andern, die nicht alle gleichen Wert haben. Insbesondre übertreibt er den Unterschied, daß die Instrumentalmusik „Handwerkszeug" nötig habe, der Gesang nicht. Der Unterschied ist nicht prinzipiell, der eigne Körper muß (die Kehle und andre Organe beim Singen, die Füße beim Tanz) anch gewissermaßen erst erobert werden, und gleich wie manche Sängerin „seelenvoll" singt, ohne eigentlich eine Seele zu haben, so kann uns auch der Violoneellospieler uuter Umständen dnrch ein „seelenvolles" Spiel erfreuen. Damit soll die Wichtigkeit des Wortes in der Musik nicht herabgesetzt werden. In andrer Beziehung, nämlich als Komponist, kommt Grell dem Thema seiner musikalischen Grundansichten zu Hilfe. Im Gegensatz zu dem genannten A. Marx, nach dessen Art die Kompositionslehre jetzt meist auf das Zusammen¬ klingen der Akkordstimmen bastrt wird und nur hinterher und beiläufig auf das Fortschreiten jeder einzelnen Stimme geachtet wird, will Grell und seine Schule in älterer Weise das harmonische Gewebe erst dnrch die Einzelstimmen entstehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/295>, abgerufen am 22.07.2024.