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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Martin Saleuter.

Klugen weniger klug, die weniger Klugen Narren, und die Narren oft schnell
noch Hallunken werden, eh sie sterbe", wie wenn sie Gott weiß was versäumten."
In diesen absichtsvoller, an bedeutender Stelle gesprochenen Worten des Dichters
liegt der Schlüssel für das Verständnis seines guten Martin Saleuter. Dieser
ist einer von jenen Klugen, welche in Wind und Wetter sich leise ändern,
um im Laufe des Lebens weniger klug zu werden, und mit vollem Humor, der
allerdings wie ein feines Lustspiel meist still an sich hält, hat dies Keller ge¬
schildert -- ein Meisterwerk der Kunst!

Der Leser erinnert sich, daß wir Martin Salander das erstemal gerade bei
seiner Rückkehr aus Brasilien nach einer siebenjährigen Abwesenheit von Münster-
bnrg angetroffen haben. Damals ließ er sich in seiner gelassenen Gutmütigkeit
vom Allerweltsfrcund Moni zu einem Schoppen Wein einladen, noch bevor er
das ersehnte Weib gesehen hat. Hier steht der Dichter noch ganz für ihn ein;
dieser leicht zu beeinflussende Charakter wird von ihm in einem fort verteidigt.
Als Martin im Gespräch mit Moni sich des Wohlwcnd erinnert, ist ihm trotz
aller der gröberen Unbill, die er von diesem erfahren, nichts lebhafter in Er¬
innerung geblieben, als die heillos falsche Betonung, mit der Louis die "Bürg¬
schaft" und dergleichen allbekannte Gedichte in großem Kreise zu deklamiren
pflegte: mehr peinlich als lächerlich. Den sanguinischen, leicht bestimmbaren
Charakter behält Martin bei; er müsse immer hinter einem Osterhasen herjagen,
bemerkt einmal seine herrliche Frau; aber im Verlaufe seines Lebens verliert
er auch dies ästhetische Feingefühl. Als es ihm dann besser geht, schließt er
sich, halb unbewußt, jener politischen Partei an, die gerade die Zeit beherrscht,
und ahnt nicht, wie nachgiebig er selbst derjenigen gegenüber ist, die er zu be¬
kämpfen glaubt. Martin kann nicht lange zürnen und verzeiht schnell. Der
Schlauheit der Zwillinge ist er nicht gewachsen; mit ihrer Heuchelei berücken
sie ihn nicht minder, als die ihm genau nachgeratenen Töchter. Bei der barocken
Hochzeit derselben, auch seinem eigensten Werke, ereignet es sich, daß ein Chor ohne
Takt und mit falscher Betonung gesungen wird. Seine Frau macht ihn darauf
aufmerksam, indem sie bemerkt: "Zufrieden mit dem guten Willen, wenn es
unter sich ist, betrachtet das Volk eine stramme Kunstübung eher als ein aristo¬
kratisches Wesen, und ist durch alle Schichten hindurch darauf aus, eifrig zu
demvkratisiren, was in seineu Bereich kommt." Aber Martin erwiedert darauf:
"Und das Volk hat Recht!" Marie fragt: "Warum Recht? Früher, es ist
freilich lange her, dachtest du anders, als der Wohlwend so falsch sang und
deklamirte!" -- "Hin! Ja, das heißt, es ist nicht derselbe Fall! Dieser that
es in einer gebildeten Welt, inmitten eines Vereines wohlgeübter Leute, die er
störte. Hier hätte er niemandem die Freude verdorben!" (S. 215.) Hier
haben wir eine solche Stufe in der Entwicklung Salanders, sodaß uns das
Folgende nicht überraschen kann. Wunderlich genug ist es allerdings. Denn
wie sein ästhetisches Feingefühl mit vorschreitendem Alter abgenommen hat, so


Martin Saleuter.

Klugen weniger klug, die weniger Klugen Narren, und die Narren oft schnell
noch Hallunken werden, eh sie sterbe», wie wenn sie Gott weiß was versäumten."
In diesen absichtsvoller, an bedeutender Stelle gesprochenen Worten des Dichters
liegt der Schlüssel für das Verständnis seines guten Martin Saleuter. Dieser
ist einer von jenen Klugen, welche in Wind und Wetter sich leise ändern,
um im Laufe des Lebens weniger klug zu werden, und mit vollem Humor, der
allerdings wie ein feines Lustspiel meist still an sich hält, hat dies Keller ge¬
schildert — ein Meisterwerk der Kunst!

Der Leser erinnert sich, daß wir Martin Salander das erstemal gerade bei
seiner Rückkehr aus Brasilien nach einer siebenjährigen Abwesenheit von Münster-
bnrg angetroffen haben. Damals ließ er sich in seiner gelassenen Gutmütigkeit
vom Allerweltsfrcund Moni zu einem Schoppen Wein einladen, noch bevor er
das ersehnte Weib gesehen hat. Hier steht der Dichter noch ganz für ihn ein;
dieser leicht zu beeinflussende Charakter wird von ihm in einem fort verteidigt.
Als Martin im Gespräch mit Moni sich des Wohlwcnd erinnert, ist ihm trotz
aller der gröberen Unbill, die er von diesem erfahren, nichts lebhafter in Er¬
innerung geblieben, als die heillos falsche Betonung, mit der Louis die „Bürg¬
schaft" und dergleichen allbekannte Gedichte in großem Kreise zu deklamiren
pflegte: mehr peinlich als lächerlich. Den sanguinischen, leicht bestimmbaren
Charakter behält Martin bei; er müsse immer hinter einem Osterhasen herjagen,
bemerkt einmal seine herrliche Frau; aber im Verlaufe seines Lebens verliert
er auch dies ästhetische Feingefühl. Als es ihm dann besser geht, schließt er
sich, halb unbewußt, jener politischen Partei an, die gerade die Zeit beherrscht,
und ahnt nicht, wie nachgiebig er selbst derjenigen gegenüber ist, die er zu be¬
kämpfen glaubt. Martin kann nicht lange zürnen und verzeiht schnell. Der
Schlauheit der Zwillinge ist er nicht gewachsen; mit ihrer Heuchelei berücken
sie ihn nicht minder, als die ihm genau nachgeratenen Töchter. Bei der barocken
Hochzeit derselben, auch seinem eigensten Werke, ereignet es sich, daß ein Chor ohne
Takt und mit falscher Betonung gesungen wird. Seine Frau macht ihn darauf
aufmerksam, indem sie bemerkt: „Zufrieden mit dem guten Willen, wenn es
unter sich ist, betrachtet das Volk eine stramme Kunstübung eher als ein aristo¬
kratisches Wesen, und ist durch alle Schichten hindurch darauf aus, eifrig zu
demvkratisiren, was in seineu Bereich kommt." Aber Martin erwiedert darauf:
„Und das Volk hat Recht!" Marie fragt: „Warum Recht? Früher, es ist
freilich lange her, dachtest du anders, als der Wohlwend so falsch sang und
deklamirte!" — „Hin! Ja, das heißt, es ist nicht derselbe Fall! Dieser that
es in einer gebildeten Welt, inmitten eines Vereines wohlgeübter Leute, die er
störte. Hier hätte er niemandem die Freude verdorben!" (S. 215.) Hier
haben wir eine solche Stufe in der Entwicklung Salanders, sodaß uns das
Folgende nicht überraschen kann. Wunderlich genug ist es allerdings. Denn
wie sein ästhetisches Feingefühl mit vorschreitendem Alter abgenommen hat, so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/288>, abgerufen am 23.12.2024.