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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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nichts zu verlieren hatten. Das Verständnis für die Schwächen ihrer Nation,
die Gabe, zu imponiren, Ausdauer in der Strebsamkeit brachte sie stets an
die Spitze. Wir denken dabei nicht an Deroulede und seine Patriotcnliga, ob¬
wohl auch diese Narrenzunft sich bei ihren Landsleuten mehr Geltung erworben
hat, als sie bei einem Volke mit weniger Gefallen an der Phrase und Pose,
als unsre Nachbarn charakterisirt, erlangt haben würde. Wir haben Persön¬
lichkeiten im Auge, die eine ernstere Gefahr bieten, und unter ihnen weniger den
Häuptling der Radikalen, Clemencean, der, nach Gambettas Rezept, an die
Revanche denkt, aber nicht von ihr spricht und sie Wohl nur versuchen würde,
um sich bei Bedrohung seiner Herrschaft durch innere Gefahren am Ruder zu
behaupten, als an einen Mann, der schon durch sein spezielles Gewerbe auf den
Krieg hingewiesen ist. Nirgends vielleicht herrscht ein so arger Personenkultus
wie in Paris, das für die große Menge in ganz Frankreich denkt und em¬
pfindet, und nirgends so sehr wie hier ist man trotz alles republikanischen äußern
Scheines und Gethucs geneigt, sich dem zielbewußter Wollen eines begabten
Einzelnen selbst auf Kosten der eignen bessern Überzeugung zu unterwerfen und
dienend anzuschließen. Eine derartige Persönlichkeit hatte man an Gcunbetta,
und eine ähnliche steht gegenwärtig auf der Bühne. Es sieht ganz so aus,
als ob der jetzige Kriegsminister bestimmt oder wenigstens entschlossen wäre,
die Erbschaft des Mannes von Cahors anzutreten. Nicht so redegewandt wie
dieser, dafür aber in militärischen Dingen weit besser zu Hanse, glänzend und
imponirend im äußern, wie es gallischer Geschmack vor allem verlangt, rück¬
sichtslos und von brennendem Ehrgeiz erfüllt, vereinigt General Boulanger viele
Eigenschaften, welche ihn befähigen, unter seinen Landsleuten bis ans weiteres eine
Rolle zu spielen und unter Umständen dieselbe bis zur Diktatur zu steigern.
Paris hat -- diese Thatsache wird anch von weitverbreiteten dortigen Zeitungen
anerkannt -- dermalen fast nur noch Augen für den General, ihm allein ist
das Ohr des Publikums zugewandt. So populär Gambetta einst war, Bou-
langer ist es noch mehr, schon weil der Soldat hier jetzt, wo seit Jahren das
Rüster für den Krieg im Vordergründe des Interesses stand, mehr gilt als der
Zivilist. Neben Boulanger giebt es für niemand mehr einen hohen Platz in
der öffentlichen Meinung der Stadt, welche in Frankreich zuletzt den Ausschlag
zu geben pflegt, für niemand, selbst nicht für den Schatten des Juden, der
einst der Diktator des Landes war. Seine Epigonen, die Opportunisten, mögen
noch so oft um ihn erinnern, der Durchschnittspariser und mit ihm der Durch-
schnittsfranzose hört sie mir zerstreut an und fährt fort, auf den General zu
blicken, obwohl derselbe bisher zwar Verstand und Energie im Organisiren be¬
wiesen, aber noch keinerlei Proben von Talent, geschweige von Genie in der
Verwendung des organisirten Heeres abzulegen Gelegenheit gehabt hat. Daß
Boulanger gewillt ist, dieses Ansehen nach besten Kräften auszunutzen, ist nach
dem, was wir von ihm wissen, nicht zu bezweifeln, und wenn ihm dabei mächtige


nichts zu verlieren hatten. Das Verständnis für die Schwächen ihrer Nation,
die Gabe, zu imponiren, Ausdauer in der Strebsamkeit brachte sie stets an
die Spitze. Wir denken dabei nicht an Deroulede und seine Patriotcnliga, ob¬
wohl auch diese Narrenzunft sich bei ihren Landsleuten mehr Geltung erworben
hat, als sie bei einem Volke mit weniger Gefallen an der Phrase und Pose,
als unsre Nachbarn charakterisirt, erlangt haben würde. Wir haben Persön¬
lichkeiten im Auge, die eine ernstere Gefahr bieten, und unter ihnen weniger den
Häuptling der Radikalen, Clemencean, der, nach Gambettas Rezept, an die
Revanche denkt, aber nicht von ihr spricht und sie Wohl nur versuchen würde,
um sich bei Bedrohung seiner Herrschaft durch innere Gefahren am Ruder zu
behaupten, als an einen Mann, der schon durch sein spezielles Gewerbe auf den
Krieg hingewiesen ist. Nirgends vielleicht herrscht ein so arger Personenkultus
wie in Paris, das für die große Menge in ganz Frankreich denkt und em¬
pfindet, und nirgends so sehr wie hier ist man trotz alles republikanischen äußern
Scheines und Gethucs geneigt, sich dem zielbewußter Wollen eines begabten
Einzelnen selbst auf Kosten der eignen bessern Überzeugung zu unterwerfen und
dienend anzuschließen. Eine derartige Persönlichkeit hatte man an Gcunbetta,
und eine ähnliche steht gegenwärtig auf der Bühne. Es sieht ganz so aus,
als ob der jetzige Kriegsminister bestimmt oder wenigstens entschlossen wäre,
die Erbschaft des Mannes von Cahors anzutreten. Nicht so redegewandt wie
dieser, dafür aber in militärischen Dingen weit besser zu Hanse, glänzend und
imponirend im äußern, wie es gallischer Geschmack vor allem verlangt, rück¬
sichtslos und von brennendem Ehrgeiz erfüllt, vereinigt General Boulanger viele
Eigenschaften, welche ihn befähigen, unter seinen Landsleuten bis ans weiteres eine
Rolle zu spielen und unter Umständen dieselbe bis zur Diktatur zu steigern.
Paris hat — diese Thatsache wird anch von weitverbreiteten dortigen Zeitungen
anerkannt — dermalen fast nur noch Augen für den General, ihm allein ist
das Ohr des Publikums zugewandt. So populär Gambetta einst war, Bou-
langer ist es noch mehr, schon weil der Soldat hier jetzt, wo seit Jahren das
Rüster für den Krieg im Vordergründe des Interesses stand, mehr gilt als der
Zivilist. Neben Boulanger giebt es für niemand mehr einen hohen Platz in
der öffentlichen Meinung der Stadt, welche in Frankreich zuletzt den Ausschlag
zu geben pflegt, für niemand, selbst nicht für den Schatten des Juden, der
einst der Diktator des Landes war. Seine Epigonen, die Opportunisten, mögen
noch so oft um ihn erinnern, der Durchschnittspariser und mit ihm der Durch-
schnittsfranzose hört sie mir zerstreut an und fährt fort, auf den General zu
blicken, obwohl derselbe bisher zwar Verstand und Energie im Organisiren be¬
wiesen, aber noch keinerlei Proben von Talent, geschweige von Genie in der
Verwendung des organisirten Heeres abzulegen Gelegenheit gehabt hat. Daß
Boulanger gewillt ist, dieses Ansehen nach besten Kräften auszunutzen, ist nach
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[0258] nichts zu verlieren hatten. Das Verständnis für die Schwächen ihrer Nation, die Gabe, zu imponiren, Ausdauer in der Strebsamkeit brachte sie stets an die Spitze. Wir denken dabei nicht an Deroulede und seine Patriotcnliga, ob¬ wohl auch diese Narrenzunft sich bei ihren Landsleuten mehr Geltung erworben hat, als sie bei einem Volke mit weniger Gefallen an der Phrase und Pose, als unsre Nachbarn charakterisirt, erlangt haben würde. Wir haben Persön¬ lichkeiten im Auge, die eine ernstere Gefahr bieten, und unter ihnen weniger den Häuptling der Radikalen, Clemencean, der, nach Gambettas Rezept, an die Revanche denkt, aber nicht von ihr spricht und sie Wohl nur versuchen würde, um sich bei Bedrohung seiner Herrschaft durch innere Gefahren am Ruder zu behaupten, als an einen Mann, der schon durch sein spezielles Gewerbe auf den Krieg hingewiesen ist. Nirgends vielleicht herrscht ein so arger Personenkultus wie in Paris, das für die große Menge in ganz Frankreich denkt und em¬ pfindet, und nirgends so sehr wie hier ist man trotz alles republikanischen äußern Scheines und Gethucs geneigt, sich dem zielbewußter Wollen eines begabten Einzelnen selbst auf Kosten der eignen bessern Überzeugung zu unterwerfen und dienend anzuschließen. Eine derartige Persönlichkeit hatte man an Gcunbetta, und eine ähnliche steht gegenwärtig auf der Bühne. Es sieht ganz so aus, als ob der jetzige Kriegsminister bestimmt oder wenigstens entschlossen wäre, die Erbschaft des Mannes von Cahors anzutreten. Nicht so redegewandt wie dieser, dafür aber in militärischen Dingen weit besser zu Hanse, glänzend und imponirend im äußern, wie es gallischer Geschmack vor allem verlangt, rück¬ sichtslos und von brennendem Ehrgeiz erfüllt, vereinigt General Boulanger viele Eigenschaften, welche ihn befähigen, unter seinen Landsleuten bis ans weiteres eine Rolle zu spielen und unter Umständen dieselbe bis zur Diktatur zu steigern. Paris hat — diese Thatsache wird anch von weitverbreiteten dortigen Zeitungen anerkannt — dermalen fast nur noch Augen für den General, ihm allein ist das Ohr des Publikums zugewandt. So populär Gambetta einst war, Bou- langer ist es noch mehr, schon weil der Soldat hier jetzt, wo seit Jahren das Rüster für den Krieg im Vordergründe des Interesses stand, mehr gilt als der Zivilist. Neben Boulanger giebt es für niemand mehr einen hohen Platz in der öffentlichen Meinung der Stadt, welche in Frankreich zuletzt den Ausschlag zu geben pflegt, für niemand, selbst nicht für den Schatten des Juden, der einst der Diktator des Landes war. Seine Epigonen, die Opportunisten, mögen noch so oft um ihn erinnern, der Durchschnittspariser und mit ihm der Durch- schnittsfranzose hört sie mir zerstreut an und fährt fort, auf den General zu blicken, obwohl derselbe bisher zwar Verstand und Energie im Organisiren be¬ wiesen, aber noch keinerlei Proben von Talent, geschweige von Genie in der Verwendung des organisirten Heeres abzulegen Gelegenheit gehabt hat. Daß Boulanger gewillt ist, dieses Ansehen nach besten Kräften auszunutzen, ist nach dem, was wir von ihm wissen, nicht zu bezweifeln, und wenn ihm dabei mächtige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/258>, abgerufen am 22.07.2024.