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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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jähre. Gegen das Gerüstturnen ließe sich noch mancherlei andres einwenden.
Mir wäre Ballspiel, Rudern, Schwimmen für die jünger", Fechten für die
ältern Schüler lieber. Doch sollen solche persönliche Anschauungen außer Be¬
tracht bleiben. Davon aber bin ich überzeugt, daß in dem Alter von zehn bis
sechzehn Jahren zwei Stunden täglicher starker Bewegung für den jugendlichen
Körper Bedürfnis sind. Mau wird vielleicht auf deu Schulweg verweisen.
Aber ich denke mir diese Bewegung anders, als mit dem Blicke auf die Uhr,
den Tornister auf dem Rücken und womöglich mit Regenschirm und in Gummi¬
schuhen. Wie sollen aber diese zwei Stunden geschafft werden, wenn der Tag
durch sechs bis sieben Schulstunden, die Mahlzeiten, die Vorbereitungen, die
Nachhilfestunden und den Privatunterricht besetzt ist? Und nun gar in den
Wintermonaten, wo die kurzen Tage den Aufenthalt im Freien ohnedies be¬
schränken! Oder gilt etwa im Winter die körperliche Bewegung für weniger
notwendig?

Bekanntlich ist die Überbürdungsfrage durch eine medizinische Enquete im
Auftrage der Preußischen Negierung geprüft worden, und diese hat ergebe"!
Eine gesundheitsschädliche Belastung der Schüler bestehe insofern nicht, als
weder die Untauglichkeit zum Militärdienste, noch das Vorkommen von Geistes¬
krankheiten, noch die Zahl der Selbstmorde bei den Schülern der höhern Lehr¬
anstalten auch nur im mindesten größere Zahlen aufweise, als bei gleichalterigen
Personen andrer Bevölkeruugsklassen. Aber die medizinischen Autoritäten, welche
dieses Gutachten verfaßten, haben doch auch auf die Schwierigkeit hingewiesen,
bei dein Mangel an einschlägigen statistischen Material eine weitergehende
wissenschaftliche Prüfung der Frage vorzunehmen. Unbedingt beruhigend und
die Klage wegen Überbürdung als unberechtigt abweisend ist also jenes Gut¬
achten nicht. Auch viele Schulmänner sind freilich der Ansicht, daß neun bis
zehn Stunden täglicher Gedankenarbeit für einen Knaben nicht zuviel seien.
Dieser Auffassung kann ich mich indes nicht anschließen. Es besteht ein großer
Unterschied in dem Aufwande geistiger Kraft bei der Erlernung einer Wissen¬
schaft oder der Bearbeitung eines bekannten Forschungsgebietes. Zehn Stunden
Bureauarbeit möge" für einen eingewöhnten Beamten nicht zuviel sei"; für deu
jugendlichen Verstand liegt die Gefahr der Übermüdung sehr nahe. Sie kann
beseitigt werden, wenn die Schülerzahl der Klassen auf ein bestimmtes Maß
festgesetzt und damit die Möglichkeit geboten wird, in einer kürzeren Stunden¬
zahl das gleiche Maß von Lehrstoff zu bewältigen. Die dabei gewonnene Zeit
aber möge der körperlichen Bewegung zu Gute kommen, es wird dann weniger
Langeweile in den Klassenzimmern herrschen, weniger Unlust zu Hause, und
unsre Knaben werden ein frischeres Aussehen erhalten. Vielleicht vermindert
sich dann auch die Zahl der Brillen.

Wie ich schon früher erwähnt habe, werden viele der jetzt bestehenden
Klage" gegen Überbürdung des Geistes n"d Beeinträchtigung der Körper-


jähre. Gegen das Gerüstturnen ließe sich noch mancherlei andres einwenden.
Mir wäre Ballspiel, Rudern, Schwimmen für die jünger», Fechten für die
ältern Schüler lieber. Doch sollen solche persönliche Anschauungen außer Be¬
tracht bleiben. Davon aber bin ich überzeugt, daß in dem Alter von zehn bis
sechzehn Jahren zwei Stunden täglicher starker Bewegung für den jugendlichen
Körper Bedürfnis sind. Mau wird vielleicht auf deu Schulweg verweisen.
Aber ich denke mir diese Bewegung anders, als mit dem Blicke auf die Uhr,
den Tornister auf dem Rücken und womöglich mit Regenschirm und in Gummi¬
schuhen. Wie sollen aber diese zwei Stunden geschafft werden, wenn der Tag
durch sechs bis sieben Schulstunden, die Mahlzeiten, die Vorbereitungen, die
Nachhilfestunden und den Privatunterricht besetzt ist? Und nun gar in den
Wintermonaten, wo die kurzen Tage den Aufenthalt im Freien ohnedies be¬
schränken! Oder gilt etwa im Winter die körperliche Bewegung für weniger
notwendig?

Bekanntlich ist die Überbürdungsfrage durch eine medizinische Enquete im
Auftrage der Preußischen Negierung geprüft worden, und diese hat ergebe»!
Eine gesundheitsschädliche Belastung der Schüler bestehe insofern nicht, als
weder die Untauglichkeit zum Militärdienste, noch das Vorkommen von Geistes¬
krankheiten, noch die Zahl der Selbstmorde bei den Schülern der höhern Lehr¬
anstalten auch nur im mindesten größere Zahlen aufweise, als bei gleichalterigen
Personen andrer Bevölkeruugsklassen. Aber die medizinischen Autoritäten, welche
dieses Gutachten verfaßten, haben doch auch auf die Schwierigkeit hingewiesen,
bei dein Mangel an einschlägigen statistischen Material eine weitergehende
wissenschaftliche Prüfung der Frage vorzunehmen. Unbedingt beruhigend und
die Klage wegen Überbürdung als unberechtigt abweisend ist also jenes Gut¬
achten nicht. Auch viele Schulmänner sind freilich der Ansicht, daß neun bis
zehn Stunden täglicher Gedankenarbeit für einen Knaben nicht zuviel seien.
Dieser Auffassung kann ich mich indes nicht anschließen. Es besteht ein großer
Unterschied in dem Aufwande geistiger Kraft bei der Erlernung einer Wissen¬
schaft oder der Bearbeitung eines bekannten Forschungsgebietes. Zehn Stunden
Bureauarbeit möge» für einen eingewöhnten Beamten nicht zuviel sei»; für deu
jugendlichen Verstand liegt die Gefahr der Übermüdung sehr nahe. Sie kann
beseitigt werden, wenn die Schülerzahl der Klassen auf ein bestimmtes Maß
festgesetzt und damit die Möglichkeit geboten wird, in einer kürzeren Stunden¬
zahl das gleiche Maß von Lehrstoff zu bewältigen. Die dabei gewonnene Zeit
aber möge der körperlichen Bewegung zu Gute kommen, es wird dann weniger
Langeweile in den Klassenzimmern herrschen, weniger Unlust zu Hause, und
unsre Knaben werden ein frischeres Aussehen erhalten. Vielleicht vermindert
sich dann auch die Zahl der Brillen.

Wie ich schon früher erwähnt habe, werden viele der jetzt bestehenden
Klage» gegen Überbürdung des Geistes n»d Beeinträchtigung der Körper-


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[0228] jähre. Gegen das Gerüstturnen ließe sich noch mancherlei andres einwenden. Mir wäre Ballspiel, Rudern, Schwimmen für die jünger», Fechten für die ältern Schüler lieber. Doch sollen solche persönliche Anschauungen außer Be¬ tracht bleiben. Davon aber bin ich überzeugt, daß in dem Alter von zehn bis sechzehn Jahren zwei Stunden täglicher starker Bewegung für den jugendlichen Körper Bedürfnis sind. Mau wird vielleicht auf deu Schulweg verweisen. Aber ich denke mir diese Bewegung anders, als mit dem Blicke auf die Uhr, den Tornister auf dem Rücken und womöglich mit Regenschirm und in Gummi¬ schuhen. Wie sollen aber diese zwei Stunden geschafft werden, wenn der Tag durch sechs bis sieben Schulstunden, die Mahlzeiten, die Vorbereitungen, die Nachhilfestunden und den Privatunterricht besetzt ist? Und nun gar in den Wintermonaten, wo die kurzen Tage den Aufenthalt im Freien ohnedies be¬ schränken! Oder gilt etwa im Winter die körperliche Bewegung für weniger notwendig? Bekanntlich ist die Überbürdungsfrage durch eine medizinische Enquete im Auftrage der Preußischen Negierung geprüft worden, und diese hat ergebe»! Eine gesundheitsschädliche Belastung der Schüler bestehe insofern nicht, als weder die Untauglichkeit zum Militärdienste, noch das Vorkommen von Geistes¬ krankheiten, noch die Zahl der Selbstmorde bei den Schülern der höhern Lehr¬ anstalten auch nur im mindesten größere Zahlen aufweise, als bei gleichalterigen Personen andrer Bevölkeruugsklassen. Aber die medizinischen Autoritäten, welche dieses Gutachten verfaßten, haben doch auch auf die Schwierigkeit hingewiesen, bei dein Mangel an einschlägigen statistischen Material eine weitergehende wissenschaftliche Prüfung der Frage vorzunehmen. Unbedingt beruhigend und die Klage wegen Überbürdung als unberechtigt abweisend ist also jenes Gut¬ achten nicht. Auch viele Schulmänner sind freilich der Ansicht, daß neun bis zehn Stunden täglicher Gedankenarbeit für einen Knaben nicht zuviel seien. Dieser Auffassung kann ich mich indes nicht anschließen. Es besteht ein großer Unterschied in dem Aufwande geistiger Kraft bei der Erlernung einer Wissen¬ schaft oder der Bearbeitung eines bekannten Forschungsgebietes. Zehn Stunden Bureauarbeit möge» für einen eingewöhnten Beamten nicht zuviel sei»; für deu jugendlichen Verstand liegt die Gefahr der Übermüdung sehr nahe. Sie kann beseitigt werden, wenn die Schülerzahl der Klassen auf ein bestimmtes Maß festgesetzt und damit die Möglichkeit geboten wird, in einer kürzeren Stunden¬ zahl das gleiche Maß von Lehrstoff zu bewältigen. Die dabei gewonnene Zeit aber möge der körperlichen Bewegung zu Gute kommen, es wird dann weniger Langeweile in den Klassenzimmern herrschen, weniger Unlust zu Hause, und unsre Knaben werden ein frischeres Aussehen erhalten. Vielleicht vermindert sich dann auch die Zahl der Brillen. Wie ich schon früher erwähnt habe, werden viele der jetzt bestehenden Klage» gegen Überbürdung des Geistes n»d Beeinträchtigung der Körper-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/228>, abgerufen am 01.10.2024.