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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Eine christliche Ästhetik.

ästhetisch wirken. Es "gefällt" nicht. Aber ebensowenig gefällt das abstrakt
erkannte Schöne, überhaupt nicht das Wahre. Das bestätigt nnr zu sehr die
verbreitetste aller Erfahrungen. Aus unserm restituirten Grundsatze folgt
keineswegs die "Sitten- und Erbauuugskunst." Er berücksichtigt nur wieder
mit Bewußtsein eines der wichtigsten Momente aller Kunst. Das "Gute,"
sinnlich erkannt, "gefällt" und somit gehört es ohne Frage zum "Schönen,"
dessen Kriterium (das Gesetzmäßige in Erscheinung) es ebenfalls teilt.

Wir überlasten für diesmal die wichtigen und tiefgreifenden Ergebnisse dieser
Folgerungen im einzelnen sich selbst. Wir haben schon angedeutet und brauchen
Wohl kaum im besondern auszuführen, daß die einzelnen Kategorien des "Schönen
in der Erscheinung" nur in den seltensten Fällen gesondert auftreten. Ebenso¬
wenig werden natürlich die Erklärungen der einzelnen Wirkungen für gewöhnlich
auf diese allgemeinen Norme" zurückzuführen sein. Der einzelne Fall ist meist
zu mannichfach zusammengesetzt, zu sehr in kausaler und historischer Beziehung
(mit "vor" und "nach," mit "warum" und "wofür"), als daß man sich mit
einer herbeigequälteu Schematisirung zufrieden geben könnte. Ist man von der
Notwendigkeit einer solchen Betrachtungsweise überzeugt (und Überzeugung ist
bei ihr am ehesten wissenschaftlich, denn sie giebt einer unendlichen Entwicklung
Raum), so muß mau über die Unbefangenheit staunen, mit der man es dereinst
versuchte, die Gruudwirkuugen "aus sich heraus" dialektisch zu " entwickeln."
Was sagen sie uns eigentlich, diese "Negationen der Negation," der "an den
drei Schlußketten hin- und wiedertanzende Verstand"? Da knackt jemand Nüsse
ohne Kern! möchten wir immer dabei ausrufen, bloß um zu zeigen, daß er gute
Zähne hat. Wie ganz anders könnte hier der philosophische Sinn die Einzcl-
erkenntnis beleben, wenn er sich zu ihr herabließe und sich mit ihr verbrüderte,
statt in einem selbstgeschaffenen Äther souverän auf sie herabzusehen. Aber all¬
gemeine Normen werden sich trotzdem erzielen lassen, und es wird ihrer Be¬
deutung nichts abbrechen, daß der unbefangene erste Blick eines schon auf der
Höhe des Erkenntnismaterials stehenden Alten sie bereits festsetzte oder doch
ahnte. So hat die von uns befürwortete Verbindung des Reiches des "Guten"
und "Schönen" (in der Form des "Nicht-Schlechten" und "Nicht-Ekelhaften")
den Aristoteles bereits zu der besten Erklärung des "Komischen" geführt, die
wir noch immer besitzen. Ähnlich ließe sich verfahren in den Fragen des
Tragischen, der verschiednen Arten des Erhabenen u. f. w.

Man wird jetzt erkennen, weshalb es einer so umständlichen Auseinander-
legung bedürfte, um dem christlichen Ästhetiker gerecht zu werden. Weit entfernt,
jene von ihm durchgeführte Verbindung als antianirt zu übersehe" oder als
verwirrend und runstürzend schlechthin zu verwerfe", können wir ihr nun im
Gegenteil mit vollem Nachdruck eine neue wissenschaftliche Bedeutung zusprechen.
Nur müßte sie aufhören, christlich sein zu wollen, ohne daß sie deshalb auf-
zuhören brauchte, christlich zu sein. In der treuen, entsagenden, gewissermaßen


Eine christliche Ästhetik.

ästhetisch wirken. Es „gefällt" nicht. Aber ebensowenig gefällt das abstrakt
erkannte Schöne, überhaupt nicht das Wahre. Das bestätigt nnr zu sehr die
verbreitetste aller Erfahrungen. Aus unserm restituirten Grundsatze folgt
keineswegs die „Sitten- und Erbauuugskunst." Er berücksichtigt nur wieder
mit Bewußtsein eines der wichtigsten Momente aller Kunst. Das „Gute,"
sinnlich erkannt, „gefällt" und somit gehört es ohne Frage zum „Schönen,"
dessen Kriterium (das Gesetzmäßige in Erscheinung) es ebenfalls teilt.

Wir überlasten für diesmal die wichtigen und tiefgreifenden Ergebnisse dieser
Folgerungen im einzelnen sich selbst. Wir haben schon angedeutet und brauchen
Wohl kaum im besondern auszuführen, daß die einzelnen Kategorien des „Schönen
in der Erscheinung" nur in den seltensten Fällen gesondert auftreten. Ebenso¬
wenig werden natürlich die Erklärungen der einzelnen Wirkungen für gewöhnlich
auf diese allgemeinen Norme» zurückzuführen sein. Der einzelne Fall ist meist
zu mannichfach zusammengesetzt, zu sehr in kausaler und historischer Beziehung
(mit „vor" und „nach," mit „warum" und „wofür"), als daß man sich mit
einer herbeigequälteu Schematisirung zufrieden geben könnte. Ist man von der
Notwendigkeit einer solchen Betrachtungsweise überzeugt (und Überzeugung ist
bei ihr am ehesten wissenschaftlich, denn sie giebt einer unendlichen Entwicklung
Raum), so muß mau über die Unbefangenheit staunen, mit der man es dereinst
versuchte, die Gruudwirkuugen „aus sich heraus" dialektisch zu „ entwickeln."
Was sagen sie uns eigentlich, diese „Negationen der Negation," der „an den
drei Schlußketten hin- und wiedertanzende Verstand"? Da knackt jemand Nüsse
ohne Kern! möchten wir immer dabei ausrufen, bloß um zu zeigen, daß er gute
Zähne hat. Wie ganz anders könnte hier der philosophische Sinn die Einzcl-
erkenntnis beleben, wenn er sich zu ihr herabließe und sich mit ihr verbrüderte,
statt in einem selbstgeschaffenen Äther souverän auf sie herabzusehen. Aber all¬
gemeine Normen werden sich trotzdem erzielen lassen, und es wird ihrer Be¬
deutung nichts abbrechen, daß der unbefangene erste Blick eines schon auf der
Höhe des Erkenntnismaterials stehenden Alten sie bereits festsetzte oder doch
ahnte. So hat die von uns befürwortete Verbindung des Reiches des „Guten"
und „Schönen" (in der Form des „Nicht-Schlechten" und „Nicht-Ekelhaften")
den Aristoteles bereits zu der besten Erklärung des „Komischen" geführt, die
wir noch immer besitzen. Ähnlich ließe sich verfahren in den Fragen des
Tragischen, der verschiednen Arten des Erhabenen u. f. w.

Man wird jetzt erkennen, weshalb es einer so umständlichen Auseinander-
legung bedürfte, um dem christlichen Ästhetiker gerecht zu werden. Weit entfernt,
jene von ihm durchgeführte Verbindung als antianirt zu übersehe» oder als
verwirrend und runstürzend schlechthin zu verwerfe», können wir ihr nun im
Gegenteil mit vollem Nachdruck eine neue wissenschaftliche Bedeutung zusprechen.
Nur müßte sie aufhören, christlich sein zu wollen, ohne daß sie deshalb auf-
zuhören brauchte, christlich zu sein. In der treuen, entsagenden, gewissermaßen


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[0131] Eine christliche Ästhetik. ästhetisch wirken. Es „gefällt" nicht. Aber ebensowenig gefällt das abstrakt erkannte Schöne, überhaupt nicht das Wahre. Das bestätigt nnr zu sehr die verbreitetste aller Erfahrungen. Aus unserm restituirten Grundsatze folgt keineswegs die „Sitten- und Erbauuugskunst." Er berücksichtigt nur wieder mit Bewußtsein eines der wichtigsten Momente aller Kunst. Das „Gute," sinnlich erkannt, „gefällt" und somit gehört es ohne Frage zum „Schönen," dessen Kriterium (das Gesetzmäßige in Erscheinung) es ebenfalls teilt. Wir überlasten für diesmal die wichtigen und tiefgreifenden Ergebnisse dieser Folgerungen im einzelnen sich selbst. Wir haben schon angedeutet und brauchen Wohl kaum im besondern auszuführen, daß die einzelnen Kategorien des „Schönen in der Erscheinung" nur in den seltensten Fällen gesondert auftreten. Ebenso¬ wenig werden natürlich die Erklärungen der einzelnen Wirkungen für gewöhnlich auf diese allgemeinen Norme» zurückzuführen sein. Der einzelne Fall ist meist zu mannichfach zusammengesetzt, zu sehr in kausaler und historischer Beziehung (mit „vor" und „nach," mit „warum" und „wofür"), als daß man sich mit einer herbeigequälteu Schematisirung zufrieden geben könnte. Ist man von der Notwendigkeit einer solchen Betrachtungsweise überzeugt (und Überzeugung ist bei ihr am ehesten wissenschaftlich, denn sie giebt einer unendlichen Entwicklung Raum), so muß mau über die Unbefangenheit staunen, mit der man es dereinst versuchte, die Gruudwirkuugen „aus sich heraus" dialektisch zu „ entwickeln." Was sagen sie uns eigentlich, diese „Negationen der Negation," der „an den drei Schlußketten hin- und wiedertanzende Verstand"? Da knackt jemand Nüsse ohne Kern! möchten wir immer dabei ausrufen, bloß um zu zeigen, daß er gute Zähne hat. Wie ganz anders könnte hier der philosophische Sinn die Einzcl- erkenntnis beleben, wenn er sich zu ihr herabließe und sich mit ihr verbrüderte, statt in einem selbstgeschaffenen Äther souverän auf sie herabzusehen. Aber all¬ gemeine Normen werden sich trotzdem erzielen lassen, und es wird ihrer Be¬ deutung nichts abbrechen, daß der unbefangene erste Blick eines schon auf der Höhe des Erkenntnismaterials stehenden Alten sie bereits festsetzte oder doch ahnte. So hat die von uns befürwortete Verbindung des Reiches des „Guten" und „Schönen" (in der Form des „Nicht-Schlechten" und „Nicht-Ekelhaften") den Aristoteles bereits zu der besten Erklärung des „Komischen" geführt, die wir noch immer besitzen. Ähnlich ließe sich verfahren in den Fragen des Tragischen, der verschiednen Arten des Erhabenen u. f. w. Man wird jetzt erkennen, weshalb es einer so umständlichen Auseinander- legung bedürfte, um dem christlichen Ästhetiker gerecht zu werden. Weit entfernt, jene von ihm durchgeführte Verbindung als antianirt zu übersehe» oder als verwirrend und runstürzend schlechthin zu verwerfe», können wir ihr nun im Gegenteil mit vollem Nachdruck eine neue wissenschaftliche Bedeutung zusprechen. Nur müßte sie aufhören, christlich sein zu wollen, ohne daß sie deshalb auf- zuhören brauchte, christlich zu sein. In der treuen, entsagenden, gewissermaßen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/131>, abgerufen am 03.07.2024.