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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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schöne Larve sagt uns garnichts, so wenig, daß höher kultivirte Menschen dem
Gefallen daran kaum den Ehrentitel eines "ästhetischen" (im früher ausgeführten
Sinne) einräumen möchten. Wenn die antiken Bildwerke nichts weiter wären
als dies -- worauf allerdings das vulgäre Geschwätz von der "Kälte und Ruhe
der Antike" hinzuzielen scheint --, so stünde es allerdings schlimm um den
Wert der Antike. Berufene Kunstforscher haben an der Hand treuesten Hand-
wcrksverständuisses über die allgemeinen Schönheitsverzückungen hinweggeführt.
Von den poetischen Künsten gilt dies leider noch nicht in dem Maße wie von
den bildenden. Hier predigt noch auf Schritt und Tritt die Kritik -- vorzugs¬
weise freilich die dadurch auf den äußersten Punkt der Bedeutungslosigkeit
herabgedrückte Rezcusionsmaschineric -- mit allgemeinen ästhetischen Schätzungen
unbelegtester Art die einstige Herrschaft der "Ästhetik." Wahrhaftig, wenn man
zu wählen Hütte zwischen der beschränkten Handwerkskritik früherer Zeiten und
der stupiden Wortmacherei des Durchschnitts der heutigen, wir zögen die Be¬
schränktheit der Stupidität vor. Ehre der Literaturgeschichte und vorzugsweise
jenen Vertretern derselben, welche gerade in diesen Blättern ihres kritischen
Amtes waltete", daß wir nach und nach wieder andre Maßstäbe für unsre
poetische" Erzeugnisse erhielten, als die des


Schön ist schön und wirkt durch sich selbst, und wirkt es nicht selber
Als schön wirkend, nun gut, hab' ich ein Nicht "Schön gewirkt.

Man empfand seinen Zwang vorhin wohl deutlich genug, als wir behufs ge¬
nauer Schematisiruttg genötigt waren, das Schöne und seineu Gegensatz "um
sich" zu betrachten. Dies Schema war unentbehrlich zur Orientirung. Essoll
uns bald nicht mehr binden.

Auch unsre dritte Kategorie in der Erscheinung des Schönen kann wie die
beiden ersten für sich gesondert betrachtet werden. Der Einwurf, daß das "der
Erscheinung zu Grunde liegende" garnicht zur Erscheinung komme, daher für
das "Schöne der Erscheinung" wesenlos sei, ist -- apodiktisch auftretend --
nur eine scholastische Finte. Denn die Erscheinung ist bestimmt von ihrem
Grunde; sie ist von ihm nicht zu trennen, wäre nicht vorhanden ohne ihn. Nun
gefällt sie, und zwar infolge dieser ihrer innern Eigenschaft. Das Gefallen
scheidet und sondert nicht, und nennt die Erscheinung, die ohne ihre innere
Eigenschaft für das Gefallen garnicht vorhanden wäre, mit vollem Rechte
"schön." Wir halten es nicht für einen Mangel, sondern für eine Erleuchtung
der sonst eifrig scheidenden sokratischen Philosophie, diesem Grundsätze nicht
widersprochen zu haben. Wir haben seine Übeln Folgen nicht mehr zu fürchten,
was hält uns ab, ihn wieder in Gnaden anzunehmen?

Die sinnliche Erscheinung des Guten (denn dies in all seinen Formen als
moralisch Bedeutendes, als Edles, Barmherziges, Tüchtiges n. s. w. ist unser
"zu Grunde liegendes") und seine sinnliche Erscheinung macht es ästhetisch ver¬
wendbar. Das "Gute" an sich, das abstrakt erkannte Gute kann freilich nicht


schöne Larve sagt uns garnichts, so wenig, daß höher kultivirte Menschen dem
Gefallen daran kaum den Ehrentitel eines „ästhetischen" (im früher ausgeführten
Sinne) einräumen möchten. Wenn die antiken Bildwerke nichts weiter wären
als dies — worauf allerdings das vulgäre Geschwätz von der „Kälte und Ruhe
der Antike" hinzuzielen scheint —, so stünde es allerdings schlimm um den
Wert der Antike. Berufene Kunstforscher haben an der Hand treuesten Hand-
wcrksverständuisses über die allgemeinen Schönheitsverzückungen hinweggeführt.
Von den poetischen Künsten gilt dies leider noch nicht in dem Maße wie von
den bildenden. Hier predigt noch auf Schritt und Tritt die Kritik — vorzugs¬
weise freilich die dadurch auf den äußersten Punkt der Bedeutungslosigkeit
herabgedrückte Rezcusionsmaschineric — mit allgemeinen ästhetischen Schätzungen
unbelegtester Art die einstige Herrschaft der „Ästhetik." Wahrhaftig, wenn man
zu wählen Hütte zwischen der beschränkten Handwerkskritik früherer Zeiten und
der stupiden Wortmacherei des Durchschnitts der heutigen, wir zögen die Be¬
schränktheit der Stupidität vor. Ehre der Literaturgeschichte und vorzugsweise
jenen Vertretern derselben, welche gerade in diesen Blättern ihres kritischen
Amtes waltete», daß wir nach und nach wieder andre Maßstäbe für unsre
poetische» Erzeugnisse erhielten, als die des


Schön ist schön und wirkt durch sich selbst, und wirkt es nicht selber
Als schön wirkend, nun gut, hab' ich ein Nicht «Schön gewirkt.

Man empfand seinen Zwang vorhin wohl deutlich genug, als wir behufs ge¬
nauer Schematisiruttg genötigt waren, das Schöne und seineu Gegensatz „um
sich" zu betrachten. Dies Schema war unentbehrlich zur Orientirung. Essoll
uns bald nicht mehr binden.

Auch unsre dritte Kategorie in der Erscheinung des Schönen kann wie die
beiden ersten für sich gesondert betrachtet werden. Der Einwurf, daß das „der
Erscheinung zu Grunde liegende" garnicht zur Erscheinung komme, daher für
das „Schöne der Erscheinung" wesenlos sei, ist — apodiktisch auftretend —
nur eine scholastische Finte. Denn die Erscheinung ist bestimmt von ihrem
Grunde; sie ist von ihm nicht zu trennen, wäre nicht vorhanden ohne ihn. Nun
gefällt sie, und zwar infolge dieser ihrer innern Eigenschaft. Das Gefallen
scheidet und sondert nicht, und nennt die Erscheinung, die ohne ihre innere
Eigenschaft für das Gefallen garnicht vorhanden wäre, mit vollem Rechte
„schön." Wir halten es nicht für einen Mangel, sondern für eine Erleuchtung
der sonst eifrig scheidenden sokratischen Philosophie, diesem Grundsätze nicht
widersprochen zu haben. Wir haben seine Übeln Folgen nicht mehr zu fürchten,
was hält uns ab, ihn wieder in Gnaden anzunehmen?

Die sinnliche Erscheinung des Guten (denn dies in all seinen Formen als
moralisch Bedeutendes, als Edles, Barmherziges, Tüchtiges n. s. w. ist unser
„zu Grunde liegendes") und seine sinnliche Erscheinung macht es ästhetisch ver¬
wendbar. Das „Gute" an sich, das abstrakt erkannte Gute kann freilich nicht


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[0130] schöne Larve sagt uns garnichts, so wenig, daß höher kultivirte Menschen dem Gefallen daran kaum den Ehrentitel eines „ästhetischen" (im früher ausgeführten Sinne) einräumen möchten. Wenn die antiken Bildwerke nichts weiter wären als dies — worauf allerdings das vulgäre Geschwätz von der „Kälte und Ruhe der Antike" hinzuzielen scheint —, so stünde es allerdings schlimm um den Wert der Antike. Berufene Kunstforscher haben an der Hand treuesten Hand- wcrksverständuisses über die allgemeinen Schönheitsverzückungen hinweggeführt. Von den poetischen Künsten gilt dies leider noch nicht in dem Maße wie von den bildenden. Hier predigt noch auf Schritt und Tritt die Kritik — vorzugs¬ weise freilich die dadurch auf den äußersten Punkt der Bedeutungslosigkeit herabgedrückte Rezcusionsmaschineric — mit allgemeinen ästhetischen Schätzungen unbelegtester Art die einstige Herrschaft der „Ästhetik." Wahrhaftig, wenn man zu wählen Hütte zwischen der beschränkten Handwerkskritik früherer Zeiten und der stupiden Wortmacherei des Durchschnitts der heutigen, wir zögen die Be¬ schränktheit der Stupidität vor. Ehre der Literaturgeschichte und vorzugsweise jenen Vertretern derselben, welche gerade in diesen Blättern ihres kritischen Amtes waltete», daß wir nach und nach wieder andre Maßstäbe für unsre poetische» Erzeugnisse erhielten, als die des Schön ist schön und wirkt durch sich selbst, und wirkt es nicht selber Als schön wirkend, nun gut, hab' ich ein Nicht «Schön gewirkt. Man empfand seinen Zwang vorhin wohl deutlich genug, als wir behufs ge¬ nauer Schematisiruttg genötigt waren, das Schöne und seineu Gegensatz „um sich" zu betrachten. Dies Schema war unentbehrlich zur Orientirung. Essoll uns bald nicht mehr binden. Auch unsre dritte Kategorie in der Erscheinung des Schönen kann wie die beiden ersten für sich gesondert betrachtet werden. Der Einwurf, daß das „der Erscheinung zu Grunde liegende" garnicht zur Erscheinung komme, daher für das „Schöne der Erscheinung" wesenlos sei, ist — apodiktisch auftretend — nur eine scholastische Finte. Denn die Erscheinung ist bestimmt von ihrem Grunde; sie ist von ihm nicht zu trennen, wäre nicht vorhanden ohne ihn. Nun gefällt sie, und zwar infolge dieser ihrer innern Eigenschaft. Das Gefallen scheidet und sondert nicht, und nennt die Erscheinung, die ohne ihre innere Eigenschaft für das Gefallen garnicht vorhanden wäre, mit vollem Rechte „schön." Wir halten es nicht für einen Mangel, sondern für eine Erleuchtung der sonst eifrig scheidenden sokratischen Philosophie, diesem Grundsätze nicht widersprochen zu haben. Wir haben seine Übeln Folgen nicht mehr zu fürchten, was hält uns ab, ihn wieder in Gnaden anzunehmen? Die sinnliche Erscheinung des Guten (denn dies in all seinen Formen als moralisch Bedeutendes, als Edles, Barmherziges, Tüchtiges n. s. w. ist unser „zu Grunde liegendes") und seine sinnliche Erscheinung macht es ästhetisch ver¬ wendbar. Das „Gute" an sich, das abstrakt erkannte Gute kann freilich nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/130>, abgerufen am 23.12.2024.