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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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sie als "Zweck der Ghmnasialcrziehung" die Erziehung der "Sinnes- und Em-
pfindungsweise einer veredelten Menschheit" darstellte. Ob dies nur auf dem
Wege zu erreichen ist, den Wols, Böckh und andre damals vorzeichneten, ob nur
das archaistische Studium diese Früchte zeitigt, ob uicht auch das Eindringen
in die Geheimnisse des Naturlebens, das erweiterte Verständnis für kosmische
Erscheinungen und physikalische Gesetze als passendes Bildungsmittel anzusehen
sei, darüber kann heutzutage wohl Zweifel bestehe". Vergessen wir aber nicht,
daß auch der naturwissenschaftliche Lehrstoff von der Schule uur in propädeu-
tischer Methode geboten werden darf, daß das Gebiet der Forschung ihr nicht
zufällt, und sie die Schüler eben nur dazu anleiten soll, sich auf diesem Ge¬
biete später frei und selbständig zu bewegen. Noch weniger darf der Realismus,
wenn wir diesen Ausdruck für die Bevorzugung nützlicher und praktischer
Bildungsmittel anwenden wollen, zum Materialismus führen. Die Eiferer für
die Bevorzugung naturwissenschaftlichen Unterrichts würden demnach sehr bald
an die Grenze des dem jugendlichen Alter der Lernenden angemessenen Lehr¬
stoffes angelangt sein, wenn man ihnen das ganze Feld freigäbe. Viele Gegen¬
stände: alles, was ans Fortpflanzung, Geschlechtsunterschied Bezug nimmt, die
Untersuchungen über die Entstehungsgeschichte der Erde, nicht minder die kvm-
plizirtcren Disziplinen der höhern Mathematik, Chemie u. s. w. eignen sich
überhaupt uicht für den Schulunterricht. Sie würden nur Unklarheit, unreifes
Urteil und den Verlust der für die Jugend notwendigen Unbefangenheit er¬
zeugen. Der Irrtum, daß bezüglich des Nährwertes der verschiednen Disziplinen
kein Unterschied bestehe, daß ein Knabe den einen Lehrstoff fo gut bewältigen
und verdauen könne wie den andern, ist wesentlich Schuld an dem Mißerfolge
der heutigen Realschulen. Die geringe Zahl ihrer Primaner und der Wider¬
stand, welchem -- nach einem Ausspruche des preußischen Knltusministers --
die Regierung an vielen Orten bei dem Versuche der Gründung neuer Real¬
schule" begegnet, beweisen, daß diese Anstalten das vorgesteckte Ziel: eine
allgemeine Bildung im eigentlichen Sinne zu geben, nicht erreicht haben. Die
Gymnasien ihrerseits haben dieses Ziel, das ihren Begründern vorschwebte, mehr
und mehr ans dem Auge verloren. Damals, als der Begriff eines Gebildeten
sich mit dem eines Gelehrten noch ziemlich deckte, als die Philosophie für die
erste Lehrmeisterin galt, und ihre Eingeweihten für jedes höhere Amt des öffent¬
lichen Lebens besonders tauglich erschienen, war es natürlich, daß mau den
Schwerpunkt des Unterrichts in das formale Denken verlegte. Durch ein
starres, fast eigensinniges Festhalten an diesem System ist die Reaktion, welche
die Erschließung ganz neuer, in das tägliche Leben tief eingreifender Wissens¬
gebiete in den letzten Jahrzehnten hervorrief, nur umso schärfer aufgetreten.

Es ist Zeit, daß das Gymnasium sich seiner ursprünglichen Bestimmung
wieder bewußt werde, daß es aus einer Gelehrtenschule oder Vvrbereitungs-
anstalt für die Universität wieder zur Pflanzstätte der allgemeinen höher"


sie als „Zweck der Ghmnasialcrziehung" die Erziehung der „Sinnes- und Em-
pfindungsweise einer veredelten Menschheit" darstellte. Ob dies nur auf dem
Wege zu erreichen ist, den Wols, Böckh und andre damals vorzeichneten, ob nur
das archaistische Studium diese Früchte zeitigt, ob uicht auch das Eindringen
in die Geheimnisse des Naturlebens, das erweiterte Verständnis für kosmische
Erscheinungen und physikalische Gesetze als passendes Bildungsmittel anzusehen
sei, darüber kann heutzutage wohl Zweifel bestehe». Vergessen wir aber nicht,
daß auch der naturwissenschaftliche Lehrstoff von der Schule uur in propädeu-
tischer Methode geboten werden darf, daß das Gebiet der Forschung ihr nicht
zufällt, und sie die Schüler eben nur dazu anleiten soll, sich auf diesem Ge¬
biete später frei und selbständig zu bewegen. Noch weniger darf der Realismus,
wenn wir diesen Ausdruck für die Bevorzugung nützlicher und praktischer
Bildungsmittel anwenden wollen, zum Materialismus führen. Die Eiferer für
die Bevorzugung naturwissenschaftlichen Unterrichts würden demnach sehr bald
an die Grenze des dem jugendlichen Alter der Lernenden angemessenen Lehr¬
stoffes angelangt sein, wenn man ihnen das ganze Feld freigäbe. Viele Gegen¬
stände: alles, was ans Fortpflanzung, Geschlechtsunterschied Bezug nimmt, die
Untersuchungen über die Entstehungsgeschichte der Erde, nicht minder die kvm-
plizirtcren Disziplinen der höhern Mathematik, Chemie u. s. w. eignen sich
überhaupt uicht für den Schulunterricht. Sie würden nur Unklarheit, unreifes
Urteil und den Verlust der für die Jugend notwendigen Unbefangenheit er¬
zeugen. Der Irrtum, daß bezüglich des Nährwertes der verschiednen Disziplinen
kein Unterschied bestehe, daß ein Knabe den einen Lehrstoff fo gut bewältigen
und verdauen könne wie den andern, ist wesentlich Schuld an dem Mißerfolge
der heutigen Realschulen. Die geringe Zahl ihrer Primaner und der Wider¬
stand, welchem — nach einem Ausspruche des preußischen Knltusministers —
die Regierung an vielen Orten bei dem Versuche der Gründung neuer Real¬
schule» begegnet, beweisen, daß diese Anstalten das vorgesteckte Ziel: eine
allgemeine Bildung im eigentlichen Sinne zu geben, nicht erreicht haben. Die
Gymnasien ihrerseits haben dieses Ziel, das ihren Begründern vorschwebte, mehr
und mehr ans dem Auge verloren. Damals, als der Begriff eines Gebildeten
sich mit dem eines Gelehrten noch ziemlich deckte, als die Philosophie für die
erste Lehrmeisterin galt, und ihre Eingeweihten für jedes höhere Amt des öffent¬
lichen Lebens besonders tauglich erschienen, war es natürlich, daß mau den
Schwerpunkt des Unterrichts in das formale Denken verlegte. Durch ein
starres, fast eigensinniges Festhalten an diesem System ist die Reaktion, welche
die Erschließung ganz neuer, in das tägliche Leben tief eingreifender Wissens¬
gebiete in den letzten Jahrzehnten hervorrief, nur umso schärfer aufgetreten.

Es ist Zeit, daß das Gymnasium sich seiner ursprünglichen Bestimmung
wieder bewußt werde, daß es aus einer Gelehrtenschule oder Vvrbereitungs-
anstalt für die Universität wieder zur Pflanzstätte der allgemeinen höher»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/125>, abgerufen am 03.07.2024.