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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymnasialunterricht und Fachbildung.

System auch das wieder als Übelstand auf, was wir gerade vermeiden wolle",
daß nämlich schon während der Schulzeit eine Wahl für den spätern Beruf
getroffen werden muß. Das Mißliche dieser Entscheidung, das sich auch jetzt
in der frühzeitigen Wahl zwischen Realschule und Gymnasium manchem Vater
fühlbar macht, bliebe alsdann keinem erspart. Beim Eintritt in die Sekunda
würde schon das Fachstudium beginnen. Das Gymnasium soll aber keine Fach¬
schule sein; daß es eine solche in gewissem Sinne für Philologen und Theo¬
logen geworden ist, bildet gerade die wesentliche Unterlage für die heutigen
Angriffe.

Ich kann daher dem Verfasser eines durch die Nummern 169 bis 174 der
Kreuzzeitung vom vorigen Jahre laufenden Artikels nicht zustimmen, der als
einen Ausweg die Teilung des Gymnasiums in ein Pro- und ein Obcrgym-
nasinm vorschlägt, und in dem letztern -- das etwa die zwei Schuljahre der
Prima umfassen würde -- den Unterricht in vier verschiedne Cötus geteilt
wissen will. Diese Cötus, deren Lehrstoff durch die Bezeichnungen: theologischer,
philosophischer, mathematischer und naturwissenschaftlicher Cötus erkennbar wird,
würden unbedingt zu Kollegien reinen Fachstudiums werden und das Ziel einer
einheitlichen Ausbildung völlig ans dem Auge verlieren. So beherzigenswert
auch die von dem Verfasser jener Artikel gegebenen Ratschläge in andrer Hin¬
sicht sind, namentlich in Bezug auf die rationellere Methode des neusprachlichen
Unterrichts und der körperlichen Ausbildung, so wird doch die vorgeschlagene
vierfache Spaltung der Oberklasse schwerlich das bewirken, was sie anstrebt:
eine zweckmäßigere Verteilung des Arbeitspensums. Sie ist vielmehr eigentlich
nur eine Vorwegnahme der ans der Hochschule stattfindenden Sonderung nach
Fakultäten. Sind aber schon die Universitäten jetzt als Fachschulen anzusehen,
da doch durch sie allein der Weg zu den Staatsämtern jeder Berufsart führt,
so müssen wir ängstlich Sorge tragen, daß den Mittelschulen, namentlich aber
den Gymnasien, alles fern bleibe, was auch ihnen den Stempel der Fachbildung
aufdrücken könnte, und daß nicht schon hier der Schüler den Unterricht vom
Standpunkte der Nützlichkeitsfrage auffasse und beurteile. Will man schon auf
der Oberstufe des Gymnasiums eine größere Selbstbestimmung, wie dies u. a.
die von Dr. Steinmeier*) vorgeschlagenen Dispensationen bewirken sollen, so
ist es besser, gleich noch einen Schritt weiter zu gehen und den junge" Manu
zur Hochschule zu entlassen, wo das Recht der Lernfreiheit bereits besteht.

Zweck des Gymnasiums kann niemals sein, eine abgeschlossene Bildung zu
geben, sondern nur das Verlangen nach Erweiterung des Wissens zu erregen
und zu selbständiger Forschung fähig zu machen. Der Abiturient wird daher
immer, mögen die Ansprüche bei der Reifeprüfung noch so hoch gestellt werden,
mit unfertigen Wissen ins Leben hinaustreten. Für die Charakterbildung aber



*) Halbbildung und Gymnasium. Grünberg i. Seht., 1386.
Gymnasialunterricht und Fachbildung.

System auch das wieder als Übelstand auf, was wir gerade vermeiden wolle»,
daß nämlich schon während der Schulzeit eine Wahl für den spätern Beruf
getroffen werden muß. Das Mißliche dieser Entscheidung, das sich auch jetzt
in der frühzeitigen Wahl zwischen Realschule und Gymnasium manchem Vater
fühlbar macht, bliebe alsdann keinem erspart. Beim Eintritt in die Sekunda
würde schon das Fachstudium beginnen. Das Gymnasium soll aber keine Fach¬
schule sein; daß es eine solche in gewissem Sinne für Philologen und Theo¬
logen geworden ist, bildet gerade die wesentliche Unterlage für die heutigen
Angriffe.

Ich kann daher dem Verfasser eines durch die Nummern 169 bis 174 der
Kreuzzeitung vom vorigen Jahre laufenden Artikels nicht zustimmen, der als
einen Ausweg die Teilung des Gymnasiums in ein Pro- und ein Obcrgym-
nasinm vorschlägt, und in dem letztern — das etwa die zwei Schuljahre der
Prima umfassen würde — den Unterricht in vier verschiedne Cötus geteilt
wissen will. Diese Cötus, deren Lehrstoff durch die Bezeichnungen: theologischer,
philosophischer, mathematischer und naturwissenschaftlicher Cötus erkennbar wird,
würden unbedingt zu Kollegien reinen Fachstudiums werden und das Ziel einer
einheitlichen Ausbildung völlig ans dem Auge verlieren. So beherzigenswert
auch die von dem Verfasser jener Artikel gegebenen Ratschläge in andrer Hin¬
sicht sind, namentlich in Bezug auf die rationellere Methode des neusprachlichen
Unterrichts und der körperlichen Ausbildung, so wird doch die vorgeschlagene
vierfache Spaltung der Oberklasse schwerlich das bewirken, was sie anstrebt:
eine zweckmäßigere Verteilung des Arbeitspensums. Sie ist vielmehr eigentlich
nur eine Vorwegnahme der ans der Hochschule stattfindenden Sonderung nach
Fakultäten. Sind aber schon die Universitäten jetzt als Fachschulen anzusehen,
da doch durch sie allein der Weg zu den Staatsämtern jeder Berufsart führt,
so müssen wir ängstlich Sorge tragen, daß den Mittelschulen, namentlich aber
den Gymnasien, alles fern bleibe, was auch ihnen den Stempel der Fachbildung
aufdrücken könnte, und daß nicht schon hier der Schüler den Unterricht vom
Standpunkte der Nützlichkeitsfrage auffasse und beurteile. Will man schon auf
der Oberstufe des Gymnasiums eine größere Selbstbestimmung, wie dies u. a.
die von Dr. Steinmeier*) vorgeschlagenen Dispensationen bewirken sollen, so
ist es besser, gleich noch einen Schritt weiter zu gehen und den junge» Manu
zur Hochschule zu entlassen, wo das Recht der Lernfreiheit bereits besteht.

Zweck des Gymnasiums kann niemals sein, eine abgeschlossene Bildung zu
geben, sondern nur das Verlangen nach Erweiterung des Wissens zu erregen
und zu selbständiger Forschung fähig zu machen. Der Abiturient wird daher
immer, mögen die Ansprüche bei der Reifeprüfung noch so hoch gestellt werden,
mit unfertigen Wissen ins Leben hinaustreten. Für die Charakterbildung aber



*) Halbbildung und Gymnasium. Grünberg i. Seht., 1386.
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[0123] Gymnasialunterricht und Fachbildung. System auch das wieder als Übelstand auf, was wir gerade vermeiden wolle», daß nämlich schon während der Schulzeit eine Wahl für den spätern Beruf getroffen werden muß. Das Mißliche dieser Entscheidung, das sich auch jetzt in der frühzeitigen Wahl zwischen Realschule und Gymnasium manchem Vater fühlbar macht, bliebe alsdann keinem erspart. Beim Eintritt in die Sekunda würde schon das Fachstudium beginnen. Das Gymnasium soll aber keine Fach¬ schule sein; daß es eine solche in gewissem Sinne für Philologen und Theo¬ logen geworden ist, bildet gerade die wesentliche Unterlage für die heutigen Angriffe. Ich kann daher dem Verfasser eines durch die Nummern 169 bis 174 der Kreuzzeitung vom vorigen Jahre laufenden Artikels nicht zustimmen, der als einen Ausweg die Teilung des Gymnasiums in ein Pro- und ein Obcrgym- nasinm vorschlägt, und in dem letztern — das etwa die zwei Schuljahre der Prima umfassen würde — den Unterricht in vier verschiedne Cötus geteilt wissen will. Diese Cötus, deren Lehrstoff durch die Bezeichnungen: theologischer, philosophischer, mathematischer und naturwissenschaftlicher Cötus erkennbar wird, würden unbedingt zu Kollegien reinen Fachstudiums werden und das Ziel einer einheitlichen Ausbildung völlig ans dem Auge verlieren. So beherzigenswert auch die von dem Verfasser jener Artikel gegebenen Ratschläge in andrer Hin¬ sicht sind, namentlich in Bezug auf die rationellere Methode des neusprachlichen Unterrichts und der körperlichen Ausbildung, so wird doch die vorgeschlagene vierfache Spaltung der Oberklasse schwerlich das bewirken, was sie anstrebt: eine zweckmäßigere Verteilung des Arbeitspensums. Sie ist vielmehr eigentlich nur eine Vorwegnahme der ans der Hochschule stattfindenden Sonderung nach Fakultäten. Sind aber schon die Universitäten jetzt als Fachschulen anzusehen, da doch durch sie allein der Weg zu den Staatsämtern jeder Berufsart führt, so müssen wir ängstlich Sorge tragen, daß den Mittelschulen, namentlich aber den Gymnasien, alles fern bleibe, was auch ihnen den Stempel der Fachbildung aufdrücken könnte, und daß nicht schon hier der Schüler den Unterricht vom Standpunkte der Nützlichkeitsfrage auffasse und beurteile. Will man schon auf der Oberstufe des Gymnasiums eine größere Selbstbestimmung, wie dies u. a. die von Dr. Steinmeier*) vorgeschlagenen Dispensationen bewirken sollen, so ist es besser, gleich noch einen Schritt weiter zu gehen und den junge» Manu zur Hochschule zu entlassen, wo das Recht der Lernfreiheit bereits besteht. Zweck des Gymnasiums kann niemals sein, eine abgeschlossene Bildung zu geben, sondern nur das Verlangen nach Erweiterung des Wissens zu erregen und zu selbständiger Forschung fähig zu machen. Der Abiturient wird daher immer, mögen die Ansprüche bei der Reifeprüfung noch so hoch gestellt werden, mit unfertigen Wissen ins Leben hinaustreten. Für die Charakterbildung aber *) Halbbildung und Gymnasium. Grünberg i. Seht., 1386.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/123>, abgerufen am 01.10.2024.