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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymnasialunterricht und Fachbildung,

Weniger fest begrenzt erscheint auf den ersten Blick die Ausdehnung der Schulzeit
nach der obersten Altersstufe hin. Besondre Geistesanlagen, Fleiß, Ausdauer,
verschiedenartige Charaktereigenschaften, sowie körperliche Dispositionen können
für den Einzelnen diese Grenze verschieben. Dennoch wird ein Durchschnittsalter
auch für den Abiturienten angenommen werden müssen, und thatsächlich setzt die
Klasseneinteiluug mit ihren bestimmten Zeitmaßen die Dauer eines Normalkursus
fest. Außer der gesetzlichen Grenze, welche die Militüraushebung mit dem ein-
undzwanzigsten Lebensjahre zieht, beschränken auch noch Einzelverfügnngen in
den deutschen Staaten die Aufnahme zu alter Schüler oder deren Verbleiben
über eine bestimmte Zeit hinaus. Wenn nun das Unterrichtspensum innerhalb
dieser den Normalknrsus umfassenden Schulzeit nicht bewältigt werden kann,
wenn der Lehrstoff durch die neuere Entwicklung der Naturwissenschaften so an¬
gewachsen ist, daß schon hiernach, wie die Realschule" beweisen, eine frühzeitige
Sonderung der Schüler nach Maßgabe des bevorzugten Forschungsgebietes
nötig wurde, so erscheinen nur zwei Auswege möglich: entweder die Schulzeit
muß verlängert, oder das Pensum muß verringert werden. Den erster" Weg
können wir wohl ohne weitere Motivirung als ausgeschlossen betrachten. Daß
schon jetzt die Schuldisziplin von den ältern Primanern peinlich empfunden wird,
wäre an sich noch kein Grund dagegen, wohl aber die Verlängerung eines Zu¬
standes der Unselbständigkeit, die schon zu lauge dauert und dahin führt, daß
die Abiturienten, wenn sie, vom Schulzwang befreit, ins Leben hinaustreten,
oft große Unbeholfenheit nud Maugel an den notwendigsten Charaktereigen¬
schaften zeigen. Es bleibt demnach nichts übrig, als das Pensum für den
einzelnen Schüler dadurch zu verringern, daß uuter den verschiednen Disziplinen
eine Ausmahl getroffen wird

Von diesem Gesichtspunkte aus eröffnen sich der Reform wiederum zwei
Wege. Man kann erstens den Lehrstoff in den beiden obern Klassen derart
teilen, daß nur der eine Teil obligatorisch ist, nud die Schüler ein und der¬
selben Anstalt beim Eintritt in die Sekunda zu wählen haben, welchem Stoffe
sie ihr Studium zuwenden wollen, ob dem humanistisch-philologischen oder dem
realistisch-naturwissenschaftlichen. Ju beiden Fällen wird die Rücksicht auf den
spätern Beruf hierfür entscheidend sein. Oder man kann zweitens die Einheit¬
lichkeit des Lehrkurses festhalte" und die ganze Schulzeit um ein oder zwei
Jahre abkürze". Das Reifezeugnis für die Universität würde dann schon einem
Unterprimaner oder Obcrselnndaner nach befriedigendein Verlauf der bisherigen
Studien erteilt werden, und derselbe um soviel früher die Universität beziehen.
Der Ausfall muß dem" natürlich auf der Universität eingebracht werden, wobei
aber die Wahl der Kollegien, gleichviel, ob mit oder ohne Rücksicht auf den
spätern Beruf, dem Studenten überlassen wird.

Die zuerst genannte Umgestaltung des Unterrichts ist schon von ver-
schiedne" Schulmännern vorgeschlagen und befürwortet, die zweite meines Wissens


GreuzboK'i, I. 1887. Is
Gymnasialunterricht und Fachbildung,

Weniger fest begrenzt erscheint auf den ersten Blick die Ausdehnung der Schulzeit
nach der obersten Altersstufe hin. Besondre Geistesanlagen, Fleiß, Ausdauer,
verschiedenartige Charaktereigenschaften, sowie körperliche Dispositionen können
für den Einzelnen diese Grenze verschieben. Dennoch wird ein Durchschnittsalter
auch für den Abiturienten angenommen werden müssen, und thatsächlich setzt die
Klasseneinteiluug mit ihren bestimmten Zeitmaßen die Dauer eines Normalkursus
fest. Außer der gesetzlichen Grenze, welche die Militüraushebung mit dem ein-
undzwanzigsten Lebensjahre zieht, beschränken auch noch Einzelverfügnngen in
den deutschen Staaten die Aufnahme zu alter Schüler oder deren Verbleiben
über eine bestimmte Zeit hinaus. Wenn nun das Unterrichtspensum innerhalb
dieser den Normalknrsus umfassenden Schulzeit nicht bewältigt werden kann,
wenn der Lehrstoff durch die neuere Entwicklung der Naturwissenschaften so an¬
gewachsen ist, daß schon hiernach, wie die Realschule» beweisen, eine frühzeitige
Sonderung der Schüler nach Maßgabe des bevorzugten Forschungsgebietes
nötig wurde, so erscheinen nur zwei Auswege möglich: entweder die Schulzeit
muß verlängert, oder das Pensum muß verringert werden. Den erster» Weg
können wir wohl ohne weitere Motivirung als ausgeschlossen betrachten. Daß
schon jetzt die Schuldisziplin von den ältern Primanern peinlich empfunden wird,
wäre an sich noch kein Grund dagegen, wohl aber die Verlängerung eines Zu¬
standes der Unselbständigkeit, die schon zu lauge dauert und dahin führt, daß
die Abiturienten, wenn sie, vom Schulzwang befreit, ins Leben hinaustreten,
oft große Unbeholfenheit nud Maugel an den notwendigsten Charaktereigen¬
schaften zeigen. Es bleibt demnach nichts übrig, als das Pensum für den
einzelnen Schüler dadurch zu verringern, daß uuter den verschiednen Disziplinen
eine Ausmahl getroffen wird

Von diesem Gesichtspunkte aus eröffnen sich der Reform wiederum zwei
Wege. Man kann erstens den Lehrstoff in den beiden obern Klassen derart
teilen, daß nur der eine Teil obligatorisch ist, nud die Schüler ein und der¬
selben Anstalt beim Eintritt in die Sekunda zu wählen haben, welchem Stoffe
sie ihr Studium zuwenden wollen, ob dem humanistisch-philologischen oder dem
realistisch-naturwissenschaftlichen. Ju beiden Fällen wird die Rücksicht auf den
spätern Beruf hierfür entscheidend sein. Oder man kann zweitens die Einheit¬
lichkeit des Lehrkurses festhalte» und die ganze Schulzeit um ein oder zwei
Jahre abkürze». Das Reifezeugnis für die Universität würde dann schon einem
Unterprimaner oder Obcrselnndaner nach befriedigendein Verlauf der bisherigen
Studien erteilt werden, und derselbe um soviel früher die Universität beziehen.
Der Ausfall muß dem» natürlich auf der Universität eingebracht werden, wobei
aber die Wahl der Kollegien, gleichviel, ob mit oder ohne Rücksicht auf den
spätern Beruf, dem Studenten überlassen wird.

Die zuerst genannte Umgestaltung des Unterrichts ist schon von ver-
schiedne» Schulmännern vorgeschlagen und befürwortet, die zweite meines Wissens


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[0121] Gymnasialunterricht und Fachbildung, Weniger fest begrenzt erscheint auf den ersten Blick die Ausdehnung der Schulzeit nach der obersten Altersstufe hin. Besondre Geistesanlagen, Fleiß, Ausdauer, verschiedenartige Charaktereigenschaften, sowie körperliche Dispositionen können für den Einzelnen diese Grenze verschieben. Dennoch wird ein Durchschnittsalter auch für den Abiturienten angenommen werden müssen, und thatsächlich setzt die Klasseneinteiluug mit ihren bestimmten Zeitmaßen die Dauer eines Normalkursus fest. Außer der gesetzlichen Grenze, welche die Militüraushebung mit dem ein- undzwanzigsten Lebensjahre zieht, beschränken auch noch Einzelverfügnngen in den deutschen Staaten die Aufnahme zu alter Schüler oder deren Verbleiben über eine bestimmte Zeit hinaus. Wenn nun das Unterrichtspensum innerhalb dieser den Normalknrsus umfassenden Schulzeit nicht bewältigt werden kann, wenn der Lehrstoff durch die neuere Entwicklung der Naturwissenschaften so an¬ gewachsen ist, daß schon hiernach, wie die Realschule» beweisen, eine frühzeitige Sonderung der Schüler nach Maßgabe des bevorzugten Forschungsgebietes nötig wurde, so erscheinen nur zwei Auswege möglich: entweder die Schulzeit muß verlängert, oder das Pensum muß verringert werden. Den erster» Weg können wir wohl ohne weitere Motivirung als ausgeschlossen betrachten. Daß schon jetzt die Schuldisziplin von den ältern Primanern peinlich empfunden wird, wäre an sich noch kein Grund dagegen, wohl aber die Verlängerung eines Zu¬ standes der Unselbständigkeit, die schon zu lauge dauert und dahin führt, daß die Abiturienten, wenn sie, vom Schulzwang befreit, ins Leben hinaustreten, oft große Unbeholfenheit nud Maugel an den notwendigsten Charaktereigen¬ schaften zeigen. Es bleibt demnach nichts übrig, als das Pensum für den einzelnen Schüler dadurch zu verringern, daß uuter den verschiednen Disziplinen eine Ausmahl getroffen wird Von diesem Gesichtspunkte aus eröffnen sich der Reform wiederum zwei Wege. Man kann erstens den Lehrstoff in den beiden obern Klassen derart teilen, daß nur der eine Teil obligatorisch ist, nud die Schüler ein und der¬ selben Anstalt beim Eintritt in die Sekunda zu wählen haben, welchem Stoffe sie ihr Studium zuwenden wollen, ob dem humanistisch-philologischen oder dem realistisch-naturwissenschaftlichen. Ju beiden Fällen wird die Rücksicht auf den spätern Beruf hierfür entscheidend sein. Oder man kann zweitens die Einheit¬ lichkeit des Lehrkurses festhalte» und die ganze Schulzeit um ein oder zwei Jahre abkürze». Das Reifezeugnis für die Universität würde dann schon einem Unterprimaner oder Obcrselnndaner nach befriedigendein Verlauf der bisherigen Studien erteilt werden, und derselbe um soviel früher die Universität beziehen. Der Ausfall muß dem» natürlich auf der Universität eingebracht werden, wobei aber die Wahl der Kollegien, gleichviel, ob mit oder ohne Rücksicht auf den spätern Beruf, dem Studenten überlassen wird. Die zuerst genannte Umgestaltung des Unterrichts ist schon von ver- schiedne» Schulmännern vorgeschlagen und befürwortet, die zweite meines Wissens GreuzboK'i, I. 1887. Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/121>, abgerufen am 01.07.2024.