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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die böhmische Frage.

gegenüber, welcher als Echo der jungtschechischen Presse aus der Abweisung
herausklang, riß ihnen endlich die Geduld.

Jedermann wird diese Empfindung begreifen. Ob der Austritt politisch
richtig gewesen ist oder nicht, das kann erst die Zukunft lehren, und mit
Exemplifikationen ist dabei wenig gethan, da in jedem derartigen Falle die
Dinge verschieden liegen. Die PassivitätSpvlitik der würtembergischen Liberalen
im Jahre 1819 und der preußischen Demokraten im Jahre 1850 stellte sich
nachträglich als ein Fehler heraus, den Magyaren nud Tschechen hat die ihrige
zum Siege verholfen. Aber gerade diese beiden Beispiele lehren, daß nicht von
der Konsequenz der Streitenden allein, wie die "Kreuzzeitung" anzunehmen
scheint, der Erfolg abhängt. Eine entgegenkommende Haltung zu Anfang der
fünfziger Jahre und zehn Jahre später eine thatkräftige Politik würde der öster¬
reichischen Regierung die vollständige Kapitulation von 1867 erspart haben,
und was die Tschechen betrifft, so waren sie bereits mürbe, entschlossen, ohne
Bedingung, ohne Vorbehalt, sich wieder an der politischen Arbeit zu beteiligen,
als die Verfassungspartei in unerhörter Verblendung die Führung der Geschäfte
selbst aus den Händen gab und den Grafen Taaffe förmlich zwang, sich auf
die föderalistischen Parteien zu stützen. Anderseits ist zu bedenken, daß ohne
die Tschechen Österreich regiert werden kann, ohne die Deutschen nicht, und daß
die deutsch-böhmischen Abgeordneten sich in voller Übereinstimmung nicht allein
mit ihren Wühlern, sondern mit allen entschieden Deutschgcsinntcn im Reiche
befinden. Die böhmische Frage ist die deutsche Frage in Österreich, ist mit
einem Worte die österreichische Frage: wer könnte sich darüber täuschen?
Böhmen ist nnn einmal das prädestinirte Schlachtfeld, dort muß sich entscheiden,
ob dem unholden Wahnwitz, der sich des Slawentums bemächtigt hat, zunächst
die deutsche Ostmark zum Opfer werden soll oder nicht. Diese Überzeugung
spricht auch aus den täglichen Kundgebungen deutscher Städte außerhalb Böhmens.

Wird aber der nationale Sinn der Bevölkerung die gesamte Linke des Neichs-
rates mit fortzureißen imstande sein? Deren Lage der Rechten gegenüber ist die¬
selbe, wie die ihrer Gesinnungsgenossen im böhmischen Landtage, und der Schritt
der letztern, darin müssen wir dein obengenannten Berliner Blatte durchaus
beistimmen, wird eine volle Wirkung nicht erzielen, wenn er nicht den gleichen
Schritt der Rcichsratsminorität nach sich zieht. Jetzt ist im böhmischen Land¬
tage "och immer die Mehrheit der Bevölkerung des Kronlandes vertreten; aber
wenn im Neichsrat aus Böhmen nud Mähren mir Tschechen, aus allen kern¬
deutschen Ländern nur einige Klerikale säßen, wäre derselbe bei formeller
Beschlußfähigkeit ein Rumpfparlament und könnte von niemand für etwas
andres angesehen werden. Aber die permanenten Ministerkandidaten, welche
ihre Ungeduld garnicht mehr verheimlichen, werden höchst wahrscheinlich alles
aufbieten, um ein entschlossenes Auftreten zu verhindern, und ihnen wird die
Scheu vieler "Deutsch-Österreicher," die erste Silbe dieses Parteinamens nach-


Die böhmische Frage.

gegenüber, welcher als Echo der jungtschechischen Presse aus der Abweisung
herausklang, riß ihnen endlich die Geduld.

Jedermann wird diese Empfindung begreifen. Ob der Austritt politisch
richtig gewesen ist oder nicht, das kann erst die Zukunft lehren, und mit
Exemplifikationen ist dabei wenig gethan, da in jedem derartigen Falle die
Dinge verschieden liegen. Die PassivitätSpvlitik der würtembergischen Liberalen
im Jahre 1819 und der preußischen Demokraten im Jahre 1850 stellte sich
nachträglich als ein Fehler heraus, den Magyaren nud Tschechen hat die ihrige
zum Siege verholfen. Aber gerade diese beiden Beispiele lehren, daß nicht von
der Konsequenz der Streitenden allein, wie die „Kreuzzeitung" anzunehmen
scheint, der Erfolg abhängt. Eine entgegenkommende Haltung zu Anfang der
fünfziger Jahre und zehn Jahre später eine thatkräftige Politik würde der öster¬
reichischen Regierung die vollständige Kapitulation von 1867 erspart haben,
und was die Tschechen betrifft, so waren sie bereits mürbe, entschlossen, ohne
Bedingung, ohne Vorbehalt, sich wieder an der politischen Arbeit zu beteiligen,
als die Verfassungspartei in unerhörter Verblendung die Führung der Geschäfte
selbst aus den Händen gab und den Grafen Taaffe förmlich zwang, sich auf
die föderalistischen Parteien zu stützen. Anderseits ist zu bedenken, daß ohne
die Tschechen Österreich regiert werden kann, ohne die Deutschen nicht, und daß
die deutsch-böhmischen Abgeordneten sich in voller Übereinstimmung nicht allein
mit ihren Wühlern, sondern mit allen entschieden Deutschgcsinntcn im Reiche
befinden. Die böhmische Frage ist die deutsche Frage in Österreich, ist mit
einem Worte die österreichische Frage: wer könnte sich darüber täuschen?
Böhmen ist nnn einmal das prädestinirte Schlachtfeld, dort muß sich entscheiden,
ob dem unholden Wahnwitz, der sich des Slawentums bemächtigt hat, zunächst
die deutsche Ostmark zum Opfer werden soll oder nicht. Diese Überzeugung
spricht auch aus den täglichen Kundgebungen deutscher Städte außerhalb Böhmens.

Wird aber der nationale Sinn der Bevölkerung die gesamte Linke des Neichs-
rates mit fortzureißen imstande sein? Deren Lage der Rechten gegenüber ist die¬
selbe, wie die ihrer Gesinnungsgenossen im böhmischen Landtage, und der Schritt
der letztern, darin müssen wir dein obengenannten Berliner Blatte durchaus
beistimmen, wird eine volle Wirkung nicht erzielen, wenn er nicht den gleichen
Schritt der Rcichsratsminorität nach sich zieht. Jetzt ist im böhmischen Land¬
tage »och immer die Mehrheit der Bevölkerung des Kronlandes vertreten; aber
wenn im Neichsrat aus Böhmen nud Mähren mir Tschechen, aus allen kern¬
deutschen Ländern nur einige Klerikale säßen, wäre derselbe bei formeller
Beschlußfähigkeit ein Rumpfparlament und könnte von niemand für etwas
andres angesehen werden. Aber die permanenten Ministerkandidaten, welche
ihre Ungeduld garnicht mehr verheimlichen, werden höchst wahrscheinlich alles
aufbieten, um ein entschlossenes Auftreten zu verhindern, und ihnen wird die
Scheu vieler „Deutsch-Österreicher," die erste Silbe dieses Parteinamens nach-


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[0106] Die böhmische Frage. gegenüber, welcher als Echo der jungtschechischen Presse aus der Abweisung herausklang, riß ihnen endlich die Geduld. Jedermann wird diese Empfindung begreifen. Ob der Austritt politisch richtig gewesen ist oder nicht, das kann erst die Zukunft lehren, und mit Exemplifikationen ist dabei wenig gethan, da in jedem derartigen Falle die Dinge verschieden liegen. Die PassivitätSpvlitik der würtembergischen Liberalen im Jahre 1819 und der preußischen Demokraten im Jahre 1850 stellte sich nachträglich als ein Fehler heraus, den Magyaren nud Tschechen hat die ihrige zum Siege verholfen. Aber gerade diese beiden Beispiele lehren, daß nicht von der Konsequenz der Streitenden allein, wie die „Kreuzzeitung" anzunehmen scheint, der Erfolg abhängt. Eine entgegenkommende Haltung zu Anfang der fünfziger Jahre und zehn Jahre später eine thatkräftige Politik würde der öster¬ reichischen Regierung die vollständige Kapitulation von 1867 erspart haben, und was die Tschechen betrifft, so waren sie bereits mürbe, entschlossen, ohne Bedingung, ohne Vorbehalt, sich wieder an der politischen Arbeit zu beteiligen, als die Verfassungspartei in unerhörter Verblendung die Führung der Geschäfte selbst aus den Händen gab und den Grafen Taaffe förmlich zwang, sich auf die föderalistischen Parteien zu stützen. Anderseits ist zu bedenken, daß ohne die Tschechen Österreich regiert werden kann, ohne die Deutschen nicht, und daß die deutsch-böhmischen Abgeordneten sich in voller Übereinstimmung nicht allein mit ihren Wühlern, sondern mit allen entschieden Deutschgcsinntcn im Reiche befinden. Die böhmische Frage ist die deutsche Frage in Österreich, ist mit einem Worte die österreichische Frage: wer könnte sich darüber täuschen? Böhmen ist nnn einmal das prädestinirte Schlachtfeld, dort muß sich entscheiden, ob dem unholden Wahnwitz, der sich des Slawentums bemächtigt hat, zunächst die deutsche Ostmark zum Opfer werden soll oder nicht. Diese Überzeugung spricht auch aus den täglichen Kundgebungen deutscher Städte außerhalb Böhmens. Wird aber der nationale Sinn der Bevölkerung die gesamte Linke des Neichs- rates mit fortzureißen imstande sein? Deren Lage der Rechten gegenüber ist die¬ selbe, wie die ihrer Gesinnungsgenossen im böhmischen Landtage, und der Schritt der letztern, darin müssen wir dein obengenannten Berliner Blatte durchaus beistimmen, wird eine volle Wirkung nicht erzielen, wenn er nicht den gleichen Schritt der Rcichsratsminorität nach sich zieht. Jetzt ist im böhmischen Land¬ tage »och immer die Mehrheit der Bevölkerung des Kronlandes vertreten; aber wenn im Neichsrat aus Böhmen nud Mähren mir Tschechen, aus allen kern¬ deutschen Ländern nur einige Klerikale säßen, wäre derselbe bei formeller Beschlußfähigkeit ein Rumpfparlament und könnte von niemand für etwas andres angesehen werden. Aber die permanenten Ministerkandidaten, welche ihre Ungeduld garnicht mehr verheimlichen, werden höchst wahrscheinlich alles aufbieten, um ein entschlossenes Auftreten zu verhindern, und ihnen wird die Scheu vieler „Deutsch-Österreicher," die erste Silbe dieses Parteinamens nach-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/106>, abgerufen am 03.07.2024.