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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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allein mögliche, indem sich nur einer solchen die oben geschilderte Selbstsucht
als einem notwendigen Übel bis auf weiteres unterordnete. Zuletzt aber
glaubte man sich, nachdem Frehciuet durch das ihm gebotene Schaukeln bald
dem Opportunismus, bald dem Radikalismus Anstoß gegeben hatte, jener Ent¬
haltsamkeit überhoben, und Freheinet fiel, weil er jetzt fallen wollte, um nach
einiger Zeit stärker wieder aufstehen zu können. Er ließ sich stürzen, um später
zu einem festeren Vertrage mit den Parteien zu gelangen, die ihn trotz alledem
brauchten. Das letztere sah man sogleich. Als er bei seinem Rücktritte be-
harrte, war, wie man zu sagen Pflegt, Holland in Nöten. Der Kammerpräsident
Floquet, an den sich Grevy mit der Aufforderung, ein neues Kabinet zu bilden,
wendete, lehnte die Einladung ab und that wohl daran, da in Petersburg nicht
vergessen war, daß er dem Vater des Zaren 1867 ein ungezogenes: Viv<z 1-l
toto^us, Non8leur! zugerufen hatte, Boulanger, der sonst recht unternehmende
und selbstbewußte Kriegsminister, fühlte ebensowenig Neigung, die Aufgabe zu
übernehmen. Endlich ließ sich der bisherige Unterrichtsminister Goblct nach
einigem Zögern bereit finden, es damit zu versuchen. Er hat wieder eine Ne¬
gierung fertig gebracht, die gemischter Natur ist, nur die Personen sind andre
als in der gestürzten, und es verstand sich von selbst, daß es ein Koalitions¬
ministerium war. Ein radikales würde sehr bald durch ein Bündnis der
Opportunisten mit der Rechten genötigt worden sein, seine Stellung zu räumen,
ein opportunistisches würde sofort die letztere mit der Partei Clemencecms zum
Angriffe auf sich vereinigt haben. Sowohl die Radikalen als die Epigonen
Gambettas hätten nur durch Auflösung der Deputirtenkammer die Möglichkeit
schaffen können, ein Ministerium von ihrer Farbe für einige Zeit an die Re¬
gierung zu bringen, aber niemand konnte bei diesem Auswege die Bürgschaft
übernehmen, daß nicht ein Wahlkampf, in welchem die eine Partei der Re¬
publikaner gegen die andre zu Felde ziehen mußte, abermals den Fraktionen
der Monarchisten zu gefährlichem Vorteile gereichen würde.

Goblet hat nun in der Kammer Erklärungen abgegeben, die als sein Pro¬
gramm zu betrachten sind. Er verhehlt sich die Schwierigkeiten, vor denen er
steht, durchaus nicht, will sich aber bestreben, von allen persönlichen Rücksichten
abgewendet, mit Hingebung, "wie sie allen Republikanern ziemt," seine Aufgabe
zu erfüllen. In Betreff der auswärtigen Angelegenheiten wird er "die ebenso
kluge als feste Politik" seines Vorgängers auf dem Ministerpräsidcntenstnhle
fortsetzen. In Bezug ans die innern Fragen "gestattet ihm die Lage, in welche
die Wahlen von 1885 die Negierung gebracht haben, nicht, großen Ehrgeiz zu
zeigen." Bei den ins Auge gefaßten gesetzgeberischen Maßregeln soll ans die
Stimmung im Lande volle Rücksicht genommen werden. Die Punkte, welche
keine Mehrheit finden können, sollen vertagt und der Kammer nicht vorgelegt
werden; denn "es giebt Reformen, hinsichtlich deren es weder der Kammer noch
der Negierung zusteht, die öffentliche Meinung zu überfliegen, und auf die


allein mögliche, indem sich nur einer solchen die oben geschilderte Selbstsucht
als einem notwendigen Übel bis auf weiteres unterordnete. Zuletzt aber
glaubte man sich, nachdem Frehciuet durch das ihm gebotene Schaukeln bald
dem Opportunismus, bald dem Radikalismus Anstoß gegeben hatte, jener Ent¬
haltsamkeit überhoben, und Freheinet fiel, weil er jetzt fallen wollte, um nach
einiger Zeit stärker wieder aufstehen zu können. Er ließ sich stürzen, um später
zu einem festeren Vertrage mit den Parteien zu gelangen, die ihn trotz alledem
brauchten. Das letztere sah man sogleich. Als er bei seinem Rücktritte be-
harrte, war, wie man zu sagen Pflegt, Holland in Nöten. Der Kammerpräsident
Floquet, an den sich Grevy mit der Aufforderung, ein neues Kabinet zu bilden,
wendete, lehnte die Einladung ab und that wohl daran, da in Petersburg nicht
vergessen war, daß er dem Vater des Zaren 1867 ein ungezogenes: Viv<z 1-l
toto^us, Non8leur! zugerufen hatte, Boulanger, der sonst recht unternehmende
und selbstbewußte Kriegsminister, fühlte ebensowenig Neigung, die Aufgabe zu
übernehmen. Endlich ließ sich der bisherige Unterrichtsminister Goblct nach
einigem Zögern bereit finden, es damit zu versuchen. Er hat wieder eine Ne¬
gierung fertig gebracht, die gemischter Natur ist, nur die Personen sind andre
als in der gestürzten, und es verstand sich von selbst, daß es ein Koalitions¬
ministerium war. Ein radikales würde sehr bald durch ein Bündnis der
Opportunisten mit der Rechten genötigt worden sein, seine Stellung zu räumen,
ein opportunistisches würde sofort die letztere mit der Partei Clemencecms zum
Angriffe auf sich vereinigt haben. Sowohl die Radikalen als die Epigonen
Gambettas hätten nur durch Auflösung der Deputirtenkammer die Möglichkeit
schaffen können, ein Ministerium von ihrer Farbe für einige Zeit an die Re¬
gierung zu bringen, aber niemand konnte bei diesem Auswege die Bürgschaft
übernehmen, daß nicht ein Wahlkampf, in welchem die eine Partei der Re¬
publikaner gegen die andre zu Felde ziehen mußte, abermals den Fraktionen
der Monarchisten zu gefährlichem Vorteile gereichen würde.

Goblet hat nun in der Kammer Erklärungen abgegeben, die als sein Pro¬
gramm zu betrachten sind. Er verhehlt sich die Schwierigkeiten, vor denen er
steht, durchaus nicht, will sich aber bestreben, von allen persönlichen Rücksichten
abgewendet, mit Hingebung, „wie sie allen Republikanern ziemt," seine Aufgabe
zu erfüllen. In Betreff der auswärtigen Angelegenheiten wird er „die ebenso
kluge als feste Politik" seines Vorgängers auf dem Ministerpräsidcntenstnhle
fortsetzen. In Bezug ans die innern Fragen „gestattet ihm die Lage, in welche
die Wahlen von 1885 die Negierung gebracht haben, nicht, großen Ehrgeiz zu
zeigen." Bei den ins Auge gefaßten gesetzgeberischen Maßregeln soll ans die
Stimmung im Lande volle Rücksicht genommen werden. Die Punkte, welche
keine Mehrheit finden können, sollen vertagt und der Kammer nicht vorgelegt
werden; denn „es giebt Reformen, hinsichtlich deren es weder der Kammer noch
der Negierung zusteht, die öffentliche Meinung zu überfliegen, und auf die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/630>, abgerufen am 19.10.2024.