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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Nochmals von unsern Gymnasien.

selbst stammenden Kommentare, und der Grammatiker. Von alledem braucht nun
aber der Lehrer auch in der obersten Klasse des Gymnasiums einfach nichts,
garnichts. Um die ihm nötigen Ausgaben und Kommentare zu wissen, braucht
er sie sich nicht zum Examen einzuprägen; er kann sie leicht in jeder größeren
Literaturgeschichte finden. Was er dagegen braucht, ist liebevolles Verständnis
seines Autors und eine Art persönliches Verhältnis zu ihm, durch welches er
sich in denselben und seine Eigenart gleichsam hineingefühlt hat. Das erlangt
man nicht dadurch, daß man alles mögliche über ihn liest und lernt und seine
Erklärer und Herausgeber aus alter und neuer Zeit an deu Fingern herzuzählen
weiß, sondern nur dadurch, daß man ihn selbst gründlich studirt und über seine
Gestalten und Gebilde nachdenkt. Alles aber, was an Ästhetik und Kunstver¬
ständnis auch nur heranstreift, wird aus dem philologischen Staatsexamen mit
einer Art von zünftigen Hochmut verbannt. Nie wird z. B. ein Kandidat
darnach gefragt werdeu, wie sich die Tapferkeit des Odysseus von der des Achill
oder die des Max von der des Diomedes unterscheide, nie, wie der Dichter die
Penelope, die Nausikaa, den Paris und den Hektor gezeichnet habe, nie, welches
das Verhältnis von Schuld und Schicksal bei Sophokles sei, und welche ganz
verschiednen Ansichten über den tragischen Gehalt des "König Ödivus" laut ge¬
worden seien, sondern statt dessen heißt es: "Welches sind die verschiednen An¬
sichten über den Wert des (Zoäox Neäieeus?" oder gar: "Wie dick ist die olllli"
xrinoexs des Aristophanes?" oder: "Nennen Sie mir sämtliche griechische
Schriftsteller, welche mit Schollen versehen sind." Bücher vou so vitalen
Interesse für den Lehrer des Griechischen in den obern Klassen wie Günthers
"Grundzüge der tragischen Kunst, aus dem Drama der Griechen entwickelt,"
worin für die richtige Würdigung der antiken Tragödie zehmal mehr steckt als
in allen Schollen des Altertums, existiren für die Staatsprüfung nicht, aber
Wolfs veraltete Prolegomena zum Homer, deren bleibender Wert nnr im Nega¬
tiven liegt und in ein paar kurzen Sätzen zusammengefaßt werden kann, die
muß der Kandidat geuau studirt haben, über sie muß er eingehend Rechenschaft
geben können.

Nach unsäglichen Mühen, und nachdem er sein Gedächtnis mit den ent¬
legensten und verschiedenartigsten Gegenständen, Namen und Zahlen bis zum
Zerspringen überfüllt hat, erschwingt der Kandidat glücklich ein Zeugnis ersten
Grades und kommt nun in die Praxis. Einige Jahre unterrichtet er nur in
den untern und mittlern Klaffen. Während dieser Zeit vergißt er all den ge¬
lehrten Ballast wieder, kraft dessen er das Examen bestanden hatte, und nur
das bleibt, was er, ehe die eigentliche Examenbttffelei losging, mit Lust und
Liebe erstudirt hatte, und das ist oft erschreckend wenig, weil bei dem heutigen
Stande der Dinge die leidige Rücksicht auf das Examen oft schon in die ersten
Semester hinein ihre Schatten wirft. Aber er ist sonst ein tüchtiger Mann,
und der Direktor vertraut ihm nach nicht zu lauger Frist den Unterricht im


Nochmals von unsern Gymnasien.

selbst stammenden Kommentare, und der Grammatiker. Von alledem braucht nun
aber der Lehrer auch in der obersten Klasse des Gymnasiums einfach nichts,
garnichts. Um die ihm nötigen Ausgaben und Kommentare zu wissen, braucht
er sie sich nicht zum Examen einzuprägen; er kann sie leicht in jeder größeren
Literaturgeschichte finden. Was er dagegen braucht, ist liebevolles Verständnis
seines Autors und eine Art persönliches Verhältnis zu ihm, durch welches er
sich in denselben und seine Eigenart gleichsam hineingefühlt hat. Das erlangt
man nicht dadurch, daß man alles mögliche über ihn liest und lernt und seine
Erklärer und Herausgeber aus alter und neuer Zeit an deu Fingern herzuzählen
weiß, sondern nur dadurch, daß man ihn selbst gründlich studirt und über seine
Gestalten und Gebilde nachdenkt. Alles aber, was an Ästhetik und Kunstver¬
ständnis auch nur heranstreift, wird aus dem philologischen Staatsexamen mit
einer Art von zünftigen Hochmut verbannt. Nie wird z. B. ein Kandidat
darnach gefragt werdeu, wie sich die Tapferkeit des Odysseus von der des Achill
oder die des Max von der des Diomedes unterscheide, nie, wie der Dichter die
Penelope, die Nausikaa, den Paris und den Hektor gezeichnet habe, nie, welches
das Verhältnis von Schuld und Schicksal bei Sophokles sei, und welche ganz
verschiednen Ansichten über den tragischen Gehalt des „König Ödivus" laut ge¬
worden seien, sondern statt dessen heißt es: „Welches sind die verschiednen An¬
sichten über den Wert des (Zoäox Neäieeus?" oder gar: „Wie dick ist die olllli»
xrinoexs des Aristophanes?" oder: „Nennen Sie mir sämtliche griechische
Schriftsteller, welche mit Schollen versehen sind." Bücher vou so vitalen
Interesse für den Lehrer des Griechischen in den obern Klassen wie Günthers
„Grundzüge der tragischen Kunst, aus dem Drama der Griechen entwickelt,"
worin für die richtige Würdigung der antiken Tragödie zehmal mehr steckt als
in allen Schollen des Altertums, existiren für die Staatsprüfung nicht, aber
Wolfs veraltete Prolegomena zum Homer, deren bleibender Wert nnr im Nega¬
tiven liegt und in ein paar kurzen Sätzen zusammengefaßt werden kann, die
muß der Kandidat geuau studirt haben, über sie muß er eingehend Rechenschaft
geben können.

Nach unsäglichen Mühen, und nachdem er sein Gedächtnis mit den ent¬
legensten und verschiedenartigsten Gegenständen, Namen und Zahlen bis zum
Zerspringen überfüllt hat, erschwingt der Kandidat glücklich ein Zeugnis ersten
Grades und kommt nun in die Praxis. Einige Jahre unterrichtet er nur in
den untern und mittlern Klaffen. Während dieser Zeit vergißt er all den ge¬
lehrten Ballast wieder, kraft dessen er das Examen bestanden hatte, und nur
das bleibt, was er, ehe die eigentliche Examenbttffelei losging, mit Lust und
Liebe erstudirt hatte, und das ist oft erschreckend wenig, weil bei dem heutigen
Stande der Dinge die leidige Rücksicht auf das Examen oft schon in die ersten
Semester hinein ihre Schatten wirft. Aber er ist sonst ein tüchtiger Mann,
und der Direktor vertraut ihm nach nicht zu lauger Frist den Unterricht im


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[0594] Nochmals von unsern Gymnasien. selbst stammenden Kommentare, und der Grammatiker. Von alledem braucht nun aber der Lehrer auch in der obersten Klasse des Gymnasiums einfach nichts, garnichts. Um die ihm nötigen Ausgaben und Kommentare zu wissen, braucht er sie sich nicht zum Examen einzuprägen; er kann sie leicht in jeder größeren Literaturgeschichte finden. Was er dagegen braucht, ist liebevolles Verständnis seines Autors und eine Art persönliches Verhältnis zu ihm, durch welches er sich in denselben und seine Eigenart gleichsam hineingefühlt hat. Das erlangt man nicht dadurch, daß man alles mögliche über ihn liest und lernt und seine Erklärer und Herausgeber aus alter und neuer Zeit an deu Fingern herzuzählen weiß, sondern nur dadurch, daß man ihn selbst gründlich studirt und über seine Gestalten und Gebilde nachdenkt. Alles aber, was an Ästhetik und Kunstver¬ ständnis auch nur heranstreift, wird aus dem philologischen Staatsexamen mit einer Art von zünftigen Hochmut verbannt. Nie wird z. B. ein Kandidat darnach gefragt werdeu, wie sich die Tapferkeit des Odysseus von der des Achill oder die des Max von der des Diomedes unterscheide, nie, wie der Dichter die Penelope, die Nausikaa, den Paris und den Hektor gezeichnet habe, nie, welches das Verhältnis von Schuld und Schicksal bei Sophokles sei, und welche ganz verschiednen Ansichten über den tragischen Gehalt des „König Ödivus" laut ge¬ worden seien, sondern statt dessen heißt es: „Welches sind die verschiednen An¬ sichten über den Wert des (Zoäox Neäieeus?" oder gar: „Wie dick ist die olllli» xrinoexs des Aristophanes?" oder: „Nennen Sie mir sämtliche griechische Schriftsteller, welche mit Schollen versehen sind." Bücher vou so vitalen Interesse für den Lehrer des Griechischen in den obern Klassen wie Günthers „Grundzüge der tragischen Kunst, aus dem Drama der Griechen entwickelt," worin für die richtige Würdigung der antiken Tragödie zehmal mehr steckt als in allen Schollen des Altertums, existiren für die Staatsprüfung nicht, aber Wolfs veraltete Prolegomena zum Homer, deren bleibender Wert nnr im Nega¬ tiven liegt und in ein paar kurzen Sätzen zusammengefaßt werden kann, die muß der Kandidat geuau studirt haben, über sie muß er eingehend Rechenschaft geben können. Nach unsäglichen Mühen, und nachdem er sein Gedächtnis mit den ent¬ legensten und verschiedenartigsten Gegenständen, Namen und Zahlen bis zum Zerspringen überfüllt hat, erschwingt der Kandidat glücklich ein Zeugnis ersten Grades und kommt nun in die Praxis. Einige Jahre unterrichtet er nur in den untern und mittlern Klaffen. Während dieser Zeit vergißt er all den ge¬ lehrten Ballast wieder, kraft dessen er das Examen bestanden hatte, und nur das bleibt, was er, ehe die eigentliche Examenbttffelei losging, mit Lust und Liebe erstudirt hatte, und das ist oft erschreckend wenig, weil bei dem heutigen Stande der Dinge die leidige Rücksicht auf das Examen oft schon in die ersten Semester hinein ihre Schatten wirft. Aber er ist sonst ein tüchtiger Mann, und der Direktor vertraut ihm nach nicht zu lauger Frist den Unterricht im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/594>, abgerufen am 19.10.2024.