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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Nahmen dieser Zeit sich durchaus nicht für ein Drama mit glücklichem Ausgange
eignet, er übersteht vollständig, daß es ein ganz anders geartetes, wiederum
überreiches Stoffgebiet berührt, ein ganz neues, ganz verschieden getöntes Drama
in sich enthält. Er sieht vorläufig nur eine neue glückliche Szene; unbekümmert
um ihre neuen Bedingungen verkürzt er die Rechte seiner ältern Idee und
schreibt ein Drama mit dem Grundgedanken "Wimar, der treue Königsdiener"
und einer riesigen, fast zwei Akte füllenden Episode "Das Ehemartyrium," und
betitelt es ganz unorganisch "Das neue Gebot."

Bedurfte man, dies im Einzelnen genan zu erkennen, einer Handhabe, der
Dichter selbst hat sie in einer Figur seines Dramas gegeben, die wie ein äußerst
feinfühlender Sphygmograph alle Veränderungen in seinem Organismus treu¬
lich bezeichnet. Man wird erraten, welche es ist. Es ist die Frau dieses
für zwei dramatische Aufgaben bestimmten Pfarrers. Bei der ersten nichts als
ganz statistische "Konfidentc," schwillt sie sofort riesenhaft an, sobald die zweite
einsetzt, und verstummt mit dem Augenblicke vollständig, als am Schlüsse die
erste wieder in ihr Anfangsrecht tritt. Das wäre ganz ebenso, anch wenn der
Dramatiker es ermöglicht hätte, daß seine Titelhandlung schon im ersten Akte
in Erscheinung träte, und nicht erst im dritten, wie seine Kritiker einigermaßen
verwundert bemerkten. Die beiden Handlungen würden sich nur dann fort¬
während gegenseitig auf die Füße getreten haben, was der erfahrene Kompositeur
resolut vermied, dadurch, daß er sie in kompakte Massen zerlegte, von denen
die eine die andre umrahmt. So leidet wenigstens das dramatische Wohl¬
behagen der beiden Hauptpersonen äußerlich nicht allzusehr unter ihren so ganz
entgegengesetzten Lebensbedingungen, desto mehr das in modernen Stücken nun
einmal unumgängliche, hier bei dem Alter des Hauptpaares immerhin berechtigte
junge, zweite Paar. Daß schließlich die feindlichen Gegenspieler am schlechtesten
wegkommen, wird man bei dieser Fülle von Hauptpersonen (von denen allerdings,
wie bereits angedeutet, eine garnicht auftritt, nämlich der Herr des treuen
Dieners, König Heinrich) begreiflich finden. Der eine Gegenspieler (vorwiegend
für das Ehcdrama bestimmt), der päpstliche Legat Bruno, ein zu keinem vorteil¬
haften Vergleiche herausfordernder Verwandter des so herrlich gezeichneten, weil
motivirten Wilfried im "Harold," tritt stets auf wie aus der Pistole geschossen, der
andre (nur für das Königsdrama bestimmt), der bäurische Intrigant Reginer, wendet
eine noch dazu bei einem Bauern beneidenswerte Suada ans, um uns zu verbergen,
was er im Grunde gegen Wimar und den König hat und was er eigentlich will.

Wir können dem freundlichen Leser, dessen Geduld vielleicht schon zu lange
gemißbraucht ist, ruhig überlassen, sich diese Andeutungen im einzelnen auszu¬
führen. Sie werden seine Freude an dem Stücke ebensowenig beeinträchtigen
wie die unsre, aber sie werden auch durch nichts widerlegt werden können.
Nicht ohne Absicht schlössen wir sie an eine Würdigung der dichterischen Gesamt¬
erscheinung Wildenbruchs, deren Vorzüge sonst gerade hier am herrlichsten in


Nahmen dieser Zeit sich durchaus nicht für ein Drama mit glücklichem Ausgange
eignet, er übersteht vollständig, daß es ein ganz anders geartetes, wiederum
überreiches Stoffgebiet berührt, ein ganz neues, ganz verschieden getöntes Drama
in sich enthält. Er sieht vorläufig nur eine neue glückliche Szene; unbekümmert
um ihre neuen Bedingungen verkürzt er die Rechte seiner ältern Idee und
schreibt ein Drama mit dem Grundgedanken „Wimar, der treue Königsdiener"
und einer riesigen, fast zwei Akte füllenden Episode „Das Ehemartyrium," und
betitelt es ganz unorganisch „Das neue Gebot."

Bedurfte man, dies im Einzelnen genan zu erkennen, einer Handhabe, der
Dichter selbst hat sie in einer Figur seines Dramas gegeben, die wie ein äußerst
feinfühlender Sphygmograph alle Veränderungen in seinem Organismus treu¬
lich bezeichnet. Man wird erraten, welche es ist. Es ist die Frau dieses
für zwei dramatische Aufgaben bestimmten Pfarrers. Bei der ersten nichts als
ganz statistische „Konfidentc," schwillt sie sofort riesenhaft an, sobald die zweite
einsetzt, und verstummt mit dem Augenblicke vollständig, als am Schlüsse die
erste wieder in ihr Anfangsrecht tritt. Das wäre ganz ebenso, anch wenn der
Dramatiker es ermöglicht hätte, daß seine Titelhandlung schon im ersten Akte
in Erscheinung träte, und nicht erst im dritten, wie seine Kritiker einigermaßen
verwundert bemerkten. Die beiden Handlungen würden sich nur dann fort¬
während gegenseitig auf die Füße getreten haben, was der erfahrene Kompositeur
resolut vermied, dadurch, daß er sie in kompakte Massen zerlegte, von denen
die eine die andre umrahmt. So leidet wenigstens das dramatische Wohl¬
behagen der beiden Hauptpersonen äußerlich nicht allzusehr unter ihren so ganz
entgegengesetzten Lebensbedingungen, desto mehr das in modernen Stücken nun
einmal unumgängliche, hier bei dem Alter des Hauptpaares immerhin berechtigte
junge, zweite Paar. Daß schließlich die feindlichen Gegenspieler am schlechtesten
wegkommen, wird man bei dieser Fülle von Hauptpersonen (von denen allerdings,
wie bereits angedeutet, eine garnicht auftritt, nämlich der Herr des treuen
Dieners, König Heinrich) begreiflich finden. Der eine Gegenspieler (vorwiegend
für das Ehcdrama bestimmt), der päpstliche Legat Bruno, ein zu keinem vorteil¬
haften Vergleiche herausfordernder Verwandter des so herrlich gezeichneten, weil
motivirten Wilfried im „Harold," tritt stets auf wie aus der Pistole geschossen, der
andre (nur für das Königsdrama bestimmt), der bäurische Intrigant Reginer, wendet
eine noch dazu bei einem Bauern beneidenswerte Suada ans, um uns zu verbergen,
was er im Grunde gegen Wimar und den König hat und was er eigentlich will.

Wir können dem freundlichen Leser, dessen Geduld vielleicht schon zu lange
gemißbraucht ist, ruhig überlassen, sich diese Andeutungen im einzelnen auszu¬
führen. Sie werden seine Freude an dem Stücke ebensowenig beeinträchtigen
wie die unsre, aber sie werden auch durch nichts widerlegt werden können.
Nicht ohne Absicht schlössen wir sie an eine Würdigung der dichterischen Gesamt¬
erscheinung Wildenbruchs, deren Vorzüge sonst gerade hier am herrlichsten in


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[0543] Nahmen dieser Zeit sich durchaus nicht für ein Drama mit glücklichem Ausgange eignet, er übersteht vollständig, daß es ein ganz anders geartetes, wiederum überreiches Stoffgebiet berührt, ein ganz neues, ganz verschieden getöntes Drama in sich enthält. Er sieht vorläufig nur eine neue glückliche Szene; unbekümmert um ihre neuen Bedingungen verkürzt er die Rechte seiner ältern Idee und schreibt ein Drama mit dem Grundgedanken „Wimar, der treue Königsdiener" und einer riesigen, fast zwei Akte füllenden Episode „Das Ehemartyrium," und betitelt es ganz unorganisch „Das neue Gebot." Bedurfte man, dies im Einzelnen genan zu erkennen, einer Handhabe, der Dichter selbst hat sie in einer Figur seines Dramas gegeben, die wie ein äußerst feinfühlender Sphygmograph alle Veränderungen in seinem Organismus treu¬ lich bezeichnet. Man wird erraten, welche es ist. Es ist die Frau dieses für zwei dramatische Aufgaben bestimmten Pfarrers. Bei der ersten nichts als ganz statistische „Konfidentc," schwillt sie sofort riesenhaft an, sobald die zweite einsetzt, und verstummt mit dem Augenblicke vollständig, als am Schlüsse die erste wieder in ihr Anfangsrecht tritt. Das wäre ganz ebenso, anch wenn der Dramatiker es ermöglicht hätte, daß seine Titelhandlung schon im ersten Akte in Erscheinung träte, und nicht erst im dritten, wie seine Kritiker einigermaßen verwundert bemerkten. Die beiden Handlungen würden sich nur dann fort¬ während gegenseitig auf die Füße getreten haben, was der erfahrene Kompositeur resolut vermied, dadurch, daß er sie in kompakte Massen zerlegte, von denen die eine die andre umrahmt. So leidet wenigstens das dramatische Wohl¬ behagen der beiden Hauptpersonen äußerlich nicht allzusehr unter ihren so ganz entgegengesetzten Lebensbedingungen, desto mehr das in modernen Stücken nun einmal unumgängliche, hier bei dem Alter des Hauptpaares immerhin berechtigte junge, zweite Paar. Daß schließlich die feindlichen Gegenspieler am schlechtesten wegkommen, wird man bei dieser Fülle von Hauptpersonen (von denen allerdings, wie bereits angedeutet, eine garnicht auftritt, nämlich der Herr des treuen Dieners, König Heinrich) begreiflich finden. Der eine Gegenspieler (vorwiegend für das Ehcdrama bestimmt), der päpstliche Legat Bruno, ein zu keinem vorteil¬ haften Vergleiche herausfordernder Verwandter des so herrlich gezeichneten, weil motivirten Wilfried im „Harold," tritt stets auf wie aus der Pistole geschossen, der andre (nur für das Königsdrama bestimmt), der bäurische Intrigant Reginer, wendet eine noch dazu bei einem Bauern beneidenswerte Suada ans, um uns zu verbergen, was er im Grunde gegen Wimar und den König hat und was er eigentlich will. Wir können dem freundlichen Leser, dessen Geduld vielleicht schon zu lange gemißbraucht ist, ruhig überlassen, sich diese Andeutungen im einzelnen auszu¬ führen. Sie werden seine Freude an dem Stücke ebensowenig beeinträchtigen wie die unsre, aber sie werden auch durch nichts widerlegt werden können. Nicht ohne Absicht schlössen wir sie an eine Würdigung der dichterischen Gesamt¬ erscheinung Wildenbruchs, deren Vorzüge sonst gerade hier am herrlichsten in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/543>, abgerufen am 20.10.2024.