Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Agitation für die größere Freiheit der evangelischen Kirche in Preußen.

gering schätzen könne. "Die Kirche darf im Volksleben nicht mehr dastehen als
eine Dienerin des Staates, sondern sie muß erscheinen als eine Gebundne des
Herrn." Schön gesagt! Aber es wird weder gezeigt, daß sich diese beide"
Stellungen ausschlossen, noch daß die Kirche jetzt eine Dienerin des Staates
zu heißen verdiene. Bei der Ortsgemeinde findet der Redner Freiheit genug
-- worin wir ihm nicht einmal beistimmen --, bei den Mittelstufen findet er zu
wenig, bei den obersten Stufen der Kirche eine gänzliche Abhängigkeit vom
Staate. Die Kirche sei dankbar, wenn der Landesherr ihr Schutzherr sein
wolle, aber sie wolle unter ihrem einzigen König Jesu Christo leben, der ihr
ein unantastbares Gesetz in der heiligen Schrift gegeben habe. Das ist die Aus¬
drucksweise eines frommen Laien, dem man gern zuhört, der aber über die
gröbsten Schwierigkeit?" wegspringt. Der Ausdruck "unantastbares Gesetz" ist
theologisch völlig unrichtig, wie das erste beste Kirchenrecht zeigt (z. B. Fried¬
berg, § 31), und es ist gänzlich unbegreiflich, was in der jetzigen Lage die Kirche
verhindern sollte, unter dem "einzigen Könige Jesu Christo" zu leben. Das
konnte man selbst unter Nero und hat es gethan, um Gottes willen; unter dem
jetzigen Regiment geht es aber erfahrungsmäßig auch und viel leichter.

Vergebens haben wir in den Forderungen der einzelnen Befreiungen von
den staatlich gesetzlichen Einwirkungen auf die Kirche (in den Personalien) einen
Grund gesucht, durch den die Forderung als durch die Sache geboten erschiene.
Die bloße Freiheit der Kirche kann doch nicht der Grund sein; die ist ja über¬
haupt nicht ein Zweck, sondern ein Mittel, um an ihrem Teil auch der Auf¬
gabe der Kirche zu diene". Kann man nun zeigen, daß die Aufgaben der
evangelischen Kirche besser gelöst werden, wenn der Staat bei der Wahl der
kirchlichen Würdenträger keine Stimme hat, oder wenn er die theologischen
Fakultäten der Kirche abtritt, sich um die Bildung der Kandidaten nicht mehr
kümmert, wenn er die ungehörigen Beschlüsse der kirchliche" Behörden erst hinter¬
her von Stacitswegeu vernichtet, nachdem sie vom Staatsoberhaupte als Träger
des Kirchenregiments vielleicht genehmigt worden sind? Hat man die uner¬
freulichen Seiten der jetzigen Einrichtungen, die ja nicht geleugnet werden sollen,
mit ihren Vorteilen verglichen und abgewogen? Uns ist eine ernstliche Arbeit
der Art ans den neuesten Konzilien nicht bekannt geworden, wenigstens in Barmer
ist nichts der Art vorgekommen; es galt als selbstverständlich, daß die Kirche
alles besser allein mache, als unter Mitwirkung des konstitutionellen Staates.
Wie sich diese Annahme zu dem Begriffe des evangelischen Kirchenwesens ver¬
hält, oder zu der Leistungsfähigkeit der konkreten preußischen Kirchenorganisativn,
das würde eine interessante Untersuchung sein, die wir wohl noch zu erwarten
haben.

Vorläufig überwiegt noch die Rhetorik. Herr v. Ehnern, der als Zuhörer
an der Barmer Versammlung teilgenommen hat, ist von der Rhetorik derselben
ermüdet und von den aufreizenden Stelle" der gehaltenen Reden abgestoßen


Die Agitation für die größere Freiheit der evangelischen Kirche in Preußen.

gering schätzen könne. „Die Kirche darf im Volksleben nicht mehr dastehen als
eine Dienerin des Staates, sondern sie muß erscheinen als eine Gebundne des
Herrn." Schön gesagt! Aber es wird weder gezeigt, daß sich diese beide»
Stellungen ausschlossen, noch daß die Kirche jetzt eine Dienerin des Staates
zu heißen verdiene. Bei der Ortsgemeinde findet der Redner Freiheit genug
— worin wir ihm nicht einmal beistimmen —, bei den Mittelstufen findet er zu
wenig, bei den obersten Stufen der Kirche eine gänzliche Abhängigkeit vom
Staate. Die Kirche sei dankbar, wenn der Landesherr ihr Schutzherr sein
wolle, aber sie wolle unter ihrem einzigen König Jesu Christo leben, der ihr
ein unantastbares Gesetz in der heiligen Schrift gegeben habe. Das ist die Aus¬
drucksweise eines frommen Laien, dem man gern zuhört, der aber über die
gröbsten Schwierigkeit?» wegspringt. Der Ausdruck „unantastbares Gesetz" ist
theologisch völlig unrichtig, wie das erste beste Kirchenrecht zeigt (z. B. Fried¬
berg, § 31), und es ist gänzlich unbegreiflich, was in der jetzigen Lage die Kirche
verhindern sollte, unter dem „einzigen Könige Jesu Christo" zu leben. Das
konnte man selbst unter Nero und hat es gethan, um Gottes willen; unter dem
jetzigen Regiment geht es aber erfahrungsmäßig auch und viel leichter.

Vergebens haben wir in den Forderungen der einzelnen Befreiungen von
den staatlich gesetzlichen Einwirkungen auf die Kirche (in den Personalien) einen
Grund gesucht, durch den die Forderung als durch die Sache geboten erschiene.
Die bloße Freiheit der Kirche kann doch nicht der Grund sein; die ist ja über¬
haupt nicht ein Zweck, sondern ein Mittel, um an ihrem Teil auch der Auf¬
gabe der Kirche zu diene». Kann man nun zeigen, daß die Aufgaben der
evangelischen Kirche besser gelöst werden, wenn der Staat bei der Wahl der
kirchlichen Würdenträger keine Stimme hat, oder wenn er die theologischen
Fakultäten der Kirche abtritt, sich um die Bildung der Kandidaten nicht mehr
kümmert, wenn er die ungehörigen Beschlüsse der kirchliche» Behörden erst hinter¬
her von Stacitswegeu vernichtet, nachdem sie vom Staatsoberhaupte als Träger
des Kirchenregiments vielleicht genehmigt worden sind? Hat man die uner¬
freulichen Seiten der jetzigen Einrichtungen, die ja nicht geleugnet werden sollen,
mit ihren Vorteilen verglichen und abgewogen? Uns ist eine ernstliche Arbeit
der Art ans den neuesten Konzilien nicht bekannt geworden, wenigstens in Barmer
ist nichts der Art vorgekommen; es galt als selbstverständlich, daß die Kirche
alles besser allein mache, als unter Mitwirkung des konstitutionellen Staates.
Wie sich diese Annahme zu dem Begriffe des evangelischen Kirchenwesens ver¬
hält, oder zu der Leistungsfähigkeit der konkreten preußischen Kirchenorganisativn,
das würde eine interessante Untersuchung sein, die wir wohl noch zu erwarten
haben.

Vorläufig überwiegt noch die Rhetorik. Herr v. Ehnern, der als Zuhörer
an der Barmer Versammlung teilgenommen hat, ist von der Rhetorik derselben
ermüdet und von den aufreizenden Stelle» der gehaltenen Reden abgestoßen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0526" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199880"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Agitation für die größere Freiheit der evangelischen Kirche in Preußen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2315" prev="#ID_2314"> gering schätzen könne. &#x201E;Die Kirche darf im Volksleben nicht mehr dastehen als<lb/>
eine Dienerin des Staates, sondern sie muß erscheinen als eine Gebundne des<lb/>
Herrn." Schön gesagt! Aber es wird weder gezeigt, daß sich diese beide»<lb/>
Stellungen ausschlossen, noch daß die Kirche jetzt eine Dienerin des Staates<lb/>
zu heißen verdiene. Bei der Ortsgemeinde findet der Redner Freiheit genug<lb/>
&#x2014; worin wir ihm nicht einmal beistimmen &#x2014;, bei den Mittelstufen findet er zu<lb/>
wenig, bei den obersten Stufen der Kirche eine gänzliche Abhängigkeit vom<lb/>
Staate. Die Kirche sei dankbar, wenn der Landesherr ihr Schutzherr sein<lb/>
wolle, aber sie wolle unter ihrem einzigen König Jesu Christo leben, der ihr<lb/>
ein unantastbares Gesetz in der heiligen Schrift gegeben habe. Das ist die Aus¬<lb/>
drucksweise eines frommen Laien, dem man gern zuhört, der aber über die<lb/>
gröbsten Schwierigkeit?» wegspringt. Der Ausdruck &#x201E;unantastbares Gesetz" ist<lb/>
theologisch völlig unrichtig, wie das erste beste Kirchenrecht zeigt (z. B. Fried¬<lb/>
berg, § 31), und es ist gänzlich unbegreiflich, was in der jetzigen Lage die Kirche<lb/>
verhindern sollte, unter dem &#x201E;einzigen Könige Jesu Christo" zu leben. Das<lb/>
konnte man selbst unter Nero und hat es gethan, um Gottes willen; unter dem<lb/>
jetzigen Regiment geht es aber erfahrungsmäßig auch und viel leichter.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2316"> Vergebens haben wir in den Forderungen der einzelnen Befreiungen von<lb/>
den staatlich gesetzlichen Einwirkungen auf die Kirche (in den Personalien) einen<lb/>
Grund gesucht, durch den die Forderung als durch die Sache geboten erschiene.<lb/>
Die bloße Freiheit der Kirche kann doch nicht der Grund sein; die ist ja über¬<lb/>
haupt nicht ein Zweck, sondern ein Mittel, um an ihrem Teil auch der Auf¬<lb/>
gabe der Kirche zu diene». Kann man nun zeigen, daß die Aufgaben der<lb/>
evangelischen Kirche besser gelöst werden, wenn der Staat bei der Wahl der<lb/>
kirchlichen Würdenträger keine Stimme hat, oder wenn er die theologischen<lb/>
Fakultäten der Kirche abtritt, sich um die Bildung der Kandidaten nicht mehr<lb/>
kümmert, wenn er die ungehörigen Beschlüsse der kirchliche» Behörden erst hinter¬<lb/>
her von Stacitswegeu vernichtet, nachdem sie vom Staatsoberhaupte als Träger<lb/>
des Kirchenregiments vielleicht genehmigt worden sind? Hat man die uner¬<lb/>
freulichen Seiten der jetzigen Einrichtungen, die ja nicht geleugnet werden sollen,<lb/>
mit ihren Vorteilen verglichen und abgewogen? Uns ist eine ernstliche Arbeit<lb/>
der Art ans den neuesten Konzilien nicht bekannt geworden, wenigstens in Barmer<lb/>
ist nichts der Art vorgekommen; es galt als selbstverständlich, daß die Kirche<lb/>
alles besser allein mache, als unter Mitwirkung des konstitutionellen Staates.<lb/>
Wie sich diese Annahme zu dem Begriffe des evangelischen Kirchenwesens ver¬<lb/>
hält, oder zu der Leistungsfähigkeit der konkreten preußischen Kirchenorganisativn,<lb/>
das würde eine interessante Untersuchung sein, die wir wohl noch zu erwarten<lb/>
haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2317" next="#ID_2318"> Vorläufig überwiegt noch die Rhetorik. Herr v. Ehnern, der als Zuhörer<lb/>
an der Barmer Versammlung teilgenommen hat, ist von der Rhetorik derselben<lb/>
ermüdet und von den aufreizenden Stelle» der gehaltenen Reden abgestoßen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0526] Die Agitation für die größere Freiheit der evangelischen Kirche in Preußen. gering schätzen könne. „Die Kirche darf im Volksleben nicht mehr dastehen als eine Dienerin des Staates, sondern sie muß erscheinen als eine Gebundne des Herrn." Schön gesagt! Aber es wird weder gezeigt, daß sich diese beide» Stellungen ausschlossen, noch daß die Kirche jetzt eine Dienerin des Staates zu heißen verdiene. Bei der Ortsgemeinde findet der Redner Freiheit genug — worin wir ihm nicht einmal beistimmen —, bei den Mittelstufen findet er zu wenig, bei den obersten Stufen der Kirche eine gänzliche Abhängigkeit vom Staate. Die Kirche sei dankbar, wenn der Landesherr ihr Schutzherr sein wolle, aber sie wolle unter ihrem einzigen König Jesu Christo leben, der ihr ein unantastbares Gesetz in der heiligen Schrift gegeben habe. Das ist die Aus¬ drucksweise eines frommen Laien, dem man gern zuhört, der aber über die gröbsten Schwierigkeit?» wegspringt. Der Ausdruck „unantastbares Gesetz" ist theologisch völlig unrichtig, wie das erste beste Kirchenrecht zeigt (z. B. Fried¬ berg, § 31), und es ist gänzlich unbegreiflich, was in der jetzigen Lage die Kirche verhindern sollte, unter dem „einzigen Könige Jesu Christo" zu leben. Das konnte man selbst unter Nero und hat es gethan, um Gottes willen; unter dem jetzigen Regiment geht es aber erfahrungsmäßig auch und viel leichter. Vergebens haben wir in den Forderungen der einzelnen Befreiungen von den staatlich gesetzlichen Einwirkungen auf die Kirche (in den Personalien) einen Grund gesucht, durch den die Forderung als durch die Sache geboten erschiene. Die bloße Freiheit der Kirche kann doch nicht der Grund sein; die ist ja über¬ haupt nicht ein Zweck, sondern ein Mittel, um an ihrem Teil auch der Auf¬ gabe der Kirche zu diene». Kann man nun zeigen, daß die Aufgaben der evangelischen Kirche besser gelöst werden, wenn der Staat bei der Wahl der kirchlichen Würdenträger keine Stimme hat, oder wenn er die theologischen Fakultäten der Kirche abtritt, sich um die Bildung der Kandidaten nicht mehr kümmert, wenn er die ungehörigen Beschlüsse der kirchliche» Behörden erst hinter¬ her von Stacitswegeu vernichtet, nachdem sie vom Staatsoberhaupte als Träger des Kirchenregiments vielleicht genehmigt worden sind? Hat man die uner¬ freulichen Seiten der jetzigen Einrichtungen, die ja nicht geleugnet werden sollen, mit ihren Vorteilen verglichen und abgewogen? Uns ist eine ernstliche Arbeit der Art ans den neuesten Konzilien nicht bekannt geworden, wenigstens in Barmer ist nichts der Art vorgekommen; es galt als selbstverständlich, daß die Kirche alles besser allein mache, als unter Mitwirkung des konstitutionellen Staates. Wie sich diese Annahme zu dem Begriffe des evangelischen Kirchenwesens ver¬ hält, oder zu der Leistungsfähigkeit der konkreten preußischen Kirchenorganisativn, das würde eine interessante Untersuchung sein, die wir wohl noch zu erwarten haben. Vorläufig überwiegt noch die Rhetorik. Herr v. Ehnern, der als Zuhörer an der Barmer Versammlung teilgenommen hat, ist von der Rhetorik derselben ermüdet und von den aufreizenden Stelle» der gehaltenen Reden abgestoßen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/526
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/526>, abgerufen am 20.10.2024.