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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Zur Reform des juristischen Studiums.

Erd- und Völkerkunde, der Literatur- und der Kunstwissenschaft stehen, zu deren
Studium doch an den meisten unsrer Hochschulen auch für Nichtfachleute jetzt
die auregendste Gelegenheit geboten ist.

Ein zweiter Vorwurf Lißts betrifft die Mißachtung rein wissenschaftlicher
Thätigkeit, welche angeblich alle Kreise der preußischen Bureaukratie durchzieht.
Wenn man die Auslassungen Lißts über diesen Punkt liest, wird man billiger¬
maßen erstaunt den Kopf schütteln. Es ist ja richtig, daß die Scheidung der
Rechtswissenschaft in Theorie und Praxis die Gefahr in sich birgt, periodisch
in eine gewisse Gegensätzlichkeit auszuarten, die die Unwissenschaftlichkeit auf
der einen, Verkennung des praktischen Charakters des Rechts, Spielerei mit
Spitzfindigkeiten und Haarspaltereien auf der andern Seite erzeugt. Aber in
der jetzigen Zeit dem preußischen Beamtentum, das heißt doch hauptsächlich den
richterlichen und Verwaltungsbeamten, Mißachtung der Wissenschaft und ihrer
Lehrer vorzuwerfen, das ist ein Vorwurf, der als durch und durch unbegründet
bezeichnet und aufs nachdrücklichste zurückgewiesen werden muß. Sehen wir
doch unter den Männern der Praxis eine recht stattliche Anzahl gerade der
hervorragendsten Vertreter auch als Arbeiter auf dem Felde der reinen Wissen¬
schaft thätig! Sind nicht (merkwürdigerweise hebt dies Lißt an einer andern
Stelle seiner Rede selbst hervor) unter den Erscheinungen der theoretisch-juri¬
stischen Literatur eine Reihe anerkannt vorzüglicher Leistungen ans den Kreisen
derjenigen Juristen hervorgegangen, welche die praktische Bethätigung ihrer
Wissenschaft zum Lebensberufe erwählt haben? Und werde" diese Männer etwa
von ihren engern Fachgenossen darum mißachtet und nicht vielmehr gerade wegen
ihrer wissenschaftlichen Leistungen mit Stolz als die ihrigen betrachtet? Man
braucht nur Namen wie Ennius oder Bähr zu nennen, um die ganze UnHalt¬
barkeit des Lißtscheu Vorwurfes aufzudecken. Der Glaube an Professoren-
untugeuden und an einen Zusammenhang der zu Tage liegenden Mängel mit
Fehlern in der Lehrmethode wird von Lißt wie ein Ammenmärchen abgefertigt,
aber die vielleicht vor dreißig bis vierzig Jahren einmal vorhanden gewesene
Mißachtung der Wissenschaft durch die Praktiker wird als ein Axiom hinge¬
stellt, dessen Giltigkeit auch für die Gegenwart gar keines Beweises bedarf.
Und doch ist das Gegenteil richtig! Man werfe nur einen Blick in die Entschei¬
dungen der hohem Gerichte, z. V. des Reichsgerichts, das doch zum größern Teil
aus den Kreisen der "preußischen Büreaukratie" hervorgeht, und man wird sehen,
daß der Vorwurf der Unwissenschaftliche wahrlich nicht berechtigt ist. Ein Mann
von der Bedeutung und der Erfahrung Bghrs macht dem Reichsgerichte gerade
den entgegengesetzten Vorwurf einer viel zu weit gehenden theoretisirender Tendenz.
Und was die untern Gerichte anlangt, so erkundige sich Lißt doch einmal bei einigen
Landgerichten im Gebiete des gemeinen Rechts nach ihrer Ansicht über Wind¬
scheid, oder im preußischen Landrecht über Dernburg; ich glaube, er wird von
Mißachtung wenig hören, und bei eigner praktischer Mitwirkung würde er viel-


Grenzbotcn IV. 1886. 59
Zur Reform des juristischen Studiums.

Erd- und Völkerkunde, der Literatur- und der Kunstwissenschaft stehen, zu deren
Studium doch an den meisten unsrer Hochschulen auch für Nichtfachleute jetzt
die auregendste Gelegenheit geboten ist.

Ein zweiter Vorwurf Lißts betrifft die Mißachtung rein wissenschaftlicher
Thätigkeit, welche angeblich alle Kreise der preußischen Bureaukratie durchzieht.
Wenn man die Auslassungen Lißts über diesen Punkt liest, wird man billiger¬
maßen erstaunt den Kopf schütteln. Es ist ja richtig, daß die Scheidung der
Rechtswissenschaft in Theorie und Praxis die Gefahr in sich birgt, periodisch
in eine gewisse Gegensätzlichkeit auszuarten, die die Unwissenschaftlichkeit auf
der einen, Verkennung des praktischen Charakters des Rechts, Spielerei mit
Spitzfindigkeiten und Haarspaltereien auf der andern Seite erzeugt. Aber in
der jetzigen Zeit dem preußischen Beamtentum, das heißt doch hauptsächlich den
richterlichen und Verwaltungsbeamten, Mißachtung der Wissenschaft und ihrer
Lehrer vorzuwerfen, das ist ein Vorwurf, der als durch und durch unbegründet
bezeichnet und aufs nachdrücklichste zurückgewiesen werden muß. Sehen wir
doch unter den Männern der Praxis eine recht stattliche Anzahl gerade der
hervorragendsten Vertreter auch als Arbeiter auf dem Felde der reinen Wissen¬
schaft thätig! Sind nicht (merkwürdigerweise hebt dies Lißt an einer andern
Stelle seiner Rede selbst hervor) unter den Erscheinungen der theoretisch-juri¬
stischen Literatur eine Reihe anerkannt vorzüglicher Leistungen ans den Kreisen
derjenigen Juristen hervorgegangen, welche die praktische Bethätigung ihrer
Wissenschaft zum Lebensberufe erwählt haben? Und werde» diese Männer etwa
von ihren engern Fachgenossen darum mißachtet und nicht vielmehr gerade wegen
ihrer wissenschaftlichen Leistungen mit Stolz als die ihrigen betrachtet? Man
braucht nur Namen wie Ennius oder Bähr zu nennen, um die ganze UnHalt¬
barkeit des Lißtscheu Vorwurfes aufzudecken. Der Glaube an Professoren-
untugeuden und an einen Zusammenhang der zu Tage liegenden Mängel mit
Fehlern in der Lehrmethode wird von Lißt wie ein Ammenmärchen abgefertigt,
aber die vielleicht vor dreißig bis vierzig Jahren einmal vorhanden gewesene
Mißachtung der Wissenschaft durch die Praktiker wird als ein Axiom hinge¬
stellt, dessen Giltigkeit auch für die Gegenwart gar keines Beweises bedarf.
Und doch ist das Gegenteil richtig! Man werfe nur einen Blick in die Entschei¬
dungen der hohem Gerichte, z. V. des Reichsgerichts, das doch zum größern Teil
aus den Kreisen der „preußischen Büreaukratie" hervorgeht, und man wird sehen,
daß der Vorwurf der Unwissenschaftliche wahrlich nicht berechtigt ist. Ein Mann
von der Bedeutung und der Erfahrung Bghrs macht dem Reichsgerichte gerade
den entgegengesetzten Vorwurf einer viel zu weit gehenden theoretisirender Tendenz.
Und was die untern Gerichte anlangt, so erkundige sich Lißt doch einmal bei einigen
Landgerichten im Gebiete des gemeinen Rechts nach ihrer Ansicht über Wind¬
scheid, oder im preußischen Landrecht über Dernburg; ich glaube, er wird von
Mißachtung wenig hören, und bei eigner praktischer Mitwirkung würde er viel-


Grenzbotcn IV. 1886. 59
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[0473] Zur Reform des juristischen Studiums. Erd- und Völkerkunde, der Literatur- und der Kunstwissenschaft stehen, zu deren Studium doch an den meisten unsrer Hochschulen auch für Nichtfachleute jetzt die auregendste Gelegenheit geboten ist. Ein zweiter Vorwurf Lißts betrifft die Mißachtung rein wissenschaftlicher Thätigkeit, welche angeblich alle Kreise der preußischen Bureaukratie durchzieht. Wenn man die Auslassungen Lißts über diesen Punkt liest, wird man billiger¬ maßen erstaunt den Kopf schütteln. Es ist ja richtig, daß die Scheidung der Rechtswissenschaft in Theorie und Praxis die Gefahr in sich birgt, periodisch in eine gewisse Gegensätzlichkeit auszuarten, die die Unwissenschaftlichkeit auf der einen, Verkennung des praktischen Charakters des Rechts, Spielerei mit Spitzfindigkeiten und Haarspaltereien auf der andern Seite erzeugt. Aber in der jetzigen Zeit dem preußischen Beamtentum, das heißt doch hauptsächlich den richterlichen und Verwaltungsbeamten, Mißachtung der Wissenschaft und ihrer Lehrer vorzuwerfen, das ist ein Vorwurf, der als durch und durch unbegründet bezeichnet und aufs nachdrücklichste zurückgewiesen werden muß. Sehen wir doch unter den Männern der Praxis eine recht stattliche Anzahl gerade der hervorragendsten Vertreter auch als Arbeiter auf dem Felde der reinen Wissen¬ schaft thätig! Sind nicht (merkwürdigerweise hebt dies Lißt an einer andern Stelle seiner Rede selbst hervor) unter den Erscheinungen der theoretisch-juri¬ stischen Literatur eine Reihe anerkannt vorzüglicher Leistungen ans den Kreisen derjenigen Juristen hervorgegangen, welche die praktische Bethätigung ihrer Wissenschaft zum Lebensberufe erwählt haben? Und werde» diese Männer etwa von ihren engern Fachgenossen darum mißachtet und nicht vielmehr gerade wegen ihrer wissenschaftlichen Leistungen mit Stolz als die ihrigen betrachtet? Man braucht nur Namen wie Ennius oder Bähr zu nennen, um die ganze UnHalt¬ barkeit des Lißtscheu Vorwurfes aufzudecken. Der Glaube an Professoren- untugeuden und an einen Zusammenhang der zu Tage liegenden Mängel mit Fehlern in der Lehrmethode wird von Lißt wie ein Ammenmärchen abgefertigt, aber die vielleicht vor dreißig bis vierzig Jahren einmal vorhanden gewesene Mißachtung der Wissenschaft durch die Praktiker wird als ein Axiom hinge¬ stellt, dessen Giltigkeit auch für die Gegenwart gar keines Beweises bedarf. Und doch ist das Gegenteil richtig! Man werfe nur einen Blick in die Entschei¬ dungen der hohem Gerichte, z. V. des Reichsgerichts, das doch zum größern Teil aus den Kreisen der „preußischen Büreaukratie" hervorgeht, und man wird sehen, daß der Vorwurf der Unwissenschaftliche wahrlich nicht berechtigt ist. Ein Mann von der Bedeutung und der Erfahrung Bghrs macht dem Reichsgerichte gerade den entgegengesetzten Vorwurf einer viel zu weit gehenden theoretisirender Tendenz. Und was die untern Gerichte anlangt, so erkundige sich Lißt doch einmal bei einigen Landgerichten im Gebiete des gemeinen Rechts nach ihrer Ansicht über Wind¬ scheid, oder im preußischen Landrecht über Dernburg; ich glaube, er wird von Mißachtung wenig hören, und bei eigner praktischer Mitwirkung würde er viel- Grenzbotcn IV. 1886. 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/473>, abgerufen am 27.09.2024.