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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Von unsern Gymnasien.

einen entscheidenden Schritt zu thun, und die schwerwiegende Bedeutung, die
jeder Mißgriff auf Generationen hinaus haben könnte, macht auch weise Vor-
sicht zur Pflicht.

Die Frage, ob unser Gymnasium das sei, was es sein könnte, ist oft ge¬
stellt, oft beantwortet und dennoch nicht gelöst worden. Seine Freunde be¬
rufen sich ans das Latein als unentbehrliches Hilfsmittel, auf den "Geist des
Altertums," auf die unerreichten Meister griechischer Poesie und Prosa, welche
unsre Jugend mit Idealen erfüllen müßten. Ihre Gegner weisen mit Hohn auf
die Hunderte von tüchtigen Ghmnasialabiturienten hin, die mit dem Prüfungs¬
zeugnis in der Tasche so rasch als möglich ihre "Klassiker" beim Antiquar
verschleudern und in süßem Nichtsthun über alles andre, nur nicht über den
"Geist des Altertums" nachdenken. In der That, wollte man den Wert der
Gymnasialerziehung nach der Liebe und Begeisterung, die sie zum Geist der
Griechen und Römer einflößt, beurteilen, so würde man die Abschreckung als
ihre vornehmste Pflicht betrachten müssen, mittels deren es gelingt, in neunzig
von hundert jede Hinneigung zu den Klassikern so radikal als möglich auszu¬
rotten, und die müden Gesichter unsrer Gymnasialabiturienten, besonders derer,
die auf einem sogenannten "ersten" Gymnasium waren, sind in Wirklichkeit der
Annahme wenig günstig, daß der Trank aus dem Jungbrunnen der Antike
sehr erfrischend gewesen sei. Von den zehn Prozent, welche später einmal im
Leben wirklich ihren Sophokles oder eine Anthologie griechischer Lyriker zur
Hand nehmen, thun es -- von Philologen natürlich abgesehen -- fünf, wie
ich fürchte, trotz des Gymnasiums, nicht wegen desselben, und nur die letzten
fünf, weil sie vorzüglichen und verehrten Lehrern nachhaltige Anregungen ver¬
danken. An dieser Thatsache läßt sich nicht rütteln. Eine Statistik, wenn es
möglich wäre, eine solche aufzustellen, würde wahrscheinlich noch bctrübendere
Ergebnisse zeigen, und ich weiß nicht, ob unsre Pädagogen sich das immer vor
Augen halten, und wem, sie es thun, ob sie es beherzigen. Vielleicht würden
sie geneigter sein, etwas milder gegenüber den Angriffen zu urteilen, die laut
an ihre Pforte klopfen. Sie berufen sich auf die ewige Schönheit des klassischen
Altertums, als ob man davon viel lernte, und ihre Gegner anderseits nehmen
die gegenwärtige Methode für klassische Erziehung und schütten so das Kind
mit dem Bade aus. So wird eine Verständigung freilich schwer möglich sein.

Latein und Griechisch haben sicher den höchsten Bildungswert. Aber das La¬
teinische hat einen andern als das Griechische, und das Griechische einen andern
als das Lateinische. Das klingt so einfach, daß man sich fast schent, es aus¬
zusprechen, und doch zieht man die Konsequenzen davon nicht. Beide Sprachen
werden in gleicher Weise gelehrt, als ob sie parallel stünden, nicht als ob sie
sich gegenseitig ergänzten, und so erzielt man den bekannten Mißerfolg, daß weite
Kreise das Griechische für höchst überflüssig halten.

Die formale Ausbildung, die das Latein gewährt, stellt an den Unterricht


Von unsern Gymnasien.

einen entscheidenden Schritt zu thun, und die schwerwiegende Bedeutung, die
jeder Mißgriff auf Generationen hinaus haben könnte, macht auch weise Vor-
sicht zur Pflicht.

Die Frage, ob unser Gymnasium das sei, was es sein könnte, ist oft ge¬
stellt, oft beantwortet und dennoch nicht gelöst worden. Seine Freunde be¬
rufen sich ans das Latein als unentbehrliches Hilfsmittel, auf den „Geist des
Altertums," auf die unerreichten Meister griechischer Poesie und Prosa, welche
unsre Jugend mit Idealen erfüllen müßten. Ihre Gegner weisen mit Hohn auf
die Hunderte von tüchtigen Ghmnasialabiturienten hin, die mit dem Prüfungs¬
zeugnis in der Tasche so rasch als möglich ihre „Klassiker" beim Antiquar
verschleudern und in süßem Nichtsthun über alles andre, nur nicht über den
„Geist des Altertums" nachdenken. In der That, wollte man den Wert der
Gymnasialerziehung nach der Liebe und Begeisterung, die sie zum Geist der
Griechen und Römer einflößt, beurteilen, so würde man die Abschreckung als
ihre vornehmste Pflicht betrachten müssen, mittels deren es gelingt, in neunzig
von hundert jede Hinneigung zu den Klassikern so radikal als möglich auszu¬
rotten, und die müden Gesichter unsrer Gymnasialabiturienten, besonders derer,
die auf einem sogenannten „ersten" Gymnasium waren, sind in Wirklichkeit der
Annahme wenig günstig, daß der Trank aus dem Jungbrunnen der Antike
sehr erfrischend gewesen sei. Von den zehn Prozent, welche später einmal im
Leben wirklich ihren Sophokles oder eine Anthologie griechischer Lyriker zur
Hand nehmen, thun es — von Philologen natürlich abgesehen — fünf, wie
ich fürchte, trotz des Gymnasiums, nicht wegen desselben, und nur die letzten
fünf, weil sie vorzüglichen und verehrten Lehrern nachhaltige Anregungen ver¬
danken. An dieser Thatsache läßt sich nicht rütteln. Eine Statistik, wenn es
möglich wäre, eine solche aufzustellen, würde wahrscheinlich noch bctrübendere
Ergebnisse zeigen, und ich weiß nicht, ob unsre Pädagogen sich das immer vor
Augen halten, und wem, sie es thun, ob sie es beherzigen. Vielleicht würden
sie geneigter sein, etwas milder gegenüber den Angriffen zu urteilen, die laut
an ihre Pforte klopfen. Sie berufen sich auf die ewige Schönheit des klassischen
Altertums, als ob man davon viel lernte, und ihre Gegner anderseits nehmen
die gegenwärtige Methode für klassische Erziehung und schütten so das Kind
mit dem Bade aus. So wird eine Verständigung freilich schwer möglich sein.

Latein und Griechisch haben sicher den höchsten Bildungswert. Aber das La¬
teinische hat einen andern als das Griechische, und das Griechische einen andern
als das Lateinische. Das klingt so einfach, daß man sich fast schent, es aus¬
zusprechen, und doch zieht man die Konsequenzen davon nicht. Beide Sprachen
werden in gleicher Weise gelehrt, als ob sie parallel stünden, nicht als ob sie
sich gegenseitig ergänzten, und so erzielt man den bekannten Mißerfolg, daß weite
Kreise das Griechische für höchst überflüssig halten.

Die formale Ausbildung, die das Latein gewährt, stellt an den Unterricht


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[0423] Von unsern Gymnasien. einen entscheidenden Schritt zu thun, und die schwerwiegende Bedeutung, die jeder Mißgriff auf Generationen hinaus haben könnte, macht auch weise Vor- sicht zur Pflicht. Die Frage, ob unser Gymnasium das sei, was es sein könnte, ist oft ge¬ stellt, oft beantwortet und dennoch nicht gelöst worden. Seine Freunde be¬ rufen sich ans das Latein als unentbehrliches Hilfsmittel, auf den „Geist des Altertums," auf die unerreichten Meister griechischer Poesie und Prosa, welche unsre Jugend mit Idealen erfüllen müßten. Ihre Gegner weisen mit Hohn auf die Hunderte von tüchtigen Ghmnasialabiturienten hin, die mit dem Prüfungs¬ zeugnis in der Tasche so rasch als möglich ihre „Klassiker" beim Antiquar verschleudern und in süßem Nichtsthun über alles andre, nur nicht über den „Geist des Altertums" nachdenken. In der That, wollte man den Wert der Gymnasialerziehung nach der Liebe und Begeisterung, die sie zum Geist der Griechen und Römer einflößt, beurteilen, so würde man die Abschreckung als ihre vornehmste Pflicht betrachten müssen, mittels deren es gelingt, in neunzig von hundert jede Hinneigung zu den Klassikern so radikal als möglich auszu¬ rotten, und die müden Gesichter unsrer Gymnasialabiturienten, besonders derer, die auf einem sogenannten „ersten" Gymnasium waren, sind in Wirklichkeit der Annahme wenig günstig, daß der Trank aus dem Jungbrunnen der Antike sehr erfrischend gewesen sei. Von den zehn Prozent, welche später einmal im Leben wirklich ihren Sophokles oder eine Anthologie griechischer Lyriker zur Hand nehmen, thun es — von Philologen natürlich abgesehen — fünf, wie ich fürchte, trotz des Gymnasiums, nicht wegen desselben, und nur die letzten fünf, weil sie vorzüglichen und verehrten Lehrern nachhaltige Anregungen ver¬ danken. An dieser Thatsache läßt sich nicht rütteln. Eine Statistik, wenn es möglich wäre, eine solche aufzustellen, würde wahrscheinlich noch bctrübendere Ergebnisse zeigen, und ich weiß nicht, ob unsre Pädagogen sich das immer vor Augen halten, und wem, sie es thun, ob sie es beherzigen. Vielleicht würden sie geneigter sein, etwas milder gegenüber den Angriffen zu urteilen, die laut an ihre Pforte klopfen. Sie berufen sich auf die ewige Schönheit des klassischen Altertums, als ob man davon viel lernte, und ihre Gegner anderseits nehmen die gegenwärtige Methode für klassische Erziehung und schütten so das Kind mit dem Bade aus. So wird eine Verständigung freilich schwer möglich sein. Latein und Griechisch haben sicher den höchsten Bildungswert. Aber das La¬ teinische hat einen andern als das Griechische, und das Griechische einen andern als das Lateinische. Das klingt so einfach, daß man sich fast schent, es aus¬ zusprechen, und doch zieht man die Konsequenzen davon nicht. Beide Sprachen werden in gleicher Weise gelehrt, als ob sie parallel stünden, nicht als ob sie sich gegenseitig ergänzten, und so erzielt man den bekannten Mißerfolg, daß weite Kreise das Griechische für höchst überflüssig halten. Die formale Ausbildung, die das Latein gewährt, stellt an den Unterricht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/423>, abgerufen am 19.10.2024.