Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Still-Leben in einer böhmischen Landstadt.

und die Gemeinde ist, da sie vor zehn Jahren eine Kaserne erbaut hat und vier
Schulen fast allein erhalten muß, schwer verschuldet. Auch siud einzelne Wohl--
habende kaum vorhanden. Eine allgemeine Klage ist, daß es von Tag zu Tag
schlechter werde: die Väter brachten es vorwärts, die Söhne wirtschaften ab
oder fristen sich nur so fort. So ist auf die Eisenbahn die Hoffnung aller ge¬
setzt. Erhält sich die Gemeinde bis dahin den Waldbesitz, so wird mit ihr der
Bürger Wohlstand sich freilich wieder heben, auch den armen Leuten Verdienst
zufließen. Denn die Bäume dieser Wälder liefern wirklich ein ausgezeichnetes
Bauholz, es kommt vor, daß einzelne Stämme, trotz der niedrigen Holzpreise,
die eben eine Folge der geschilderten Verkehrsverhältnisse sind, für vierzig bis
fünfundvierzig Gulden verkauft werden. Kohle kennt man hier mir dem Namen
nach, die Bürger erhalten jährlich ein bestimmtes Quantum Brennholz unent¬
geltlich, die Inwohner ohne Bürgerrecht dürfen jeden Montag und Freitag in
den Wäldern der Gemeinde ihren Wochenbedarf sammeln: nicht nur Reisig,
sondern anch lebendes Holz, drei Schuh vom Boden aufwärts. Dafür bezahlen
sie im Jahre zwei Gulden, die Armen leisten dafür an sechs Tagen Arbeiten
zur Forstkultur.

Grund und Boden, Pacht und Miete sind äußerst billig. Für 2000 Gulden
kann man hier ein kleines, einstöckiges Häuschen erwerben, für 3000 Gulden
sich eine Villa bauen. Eine Wohnung im ersten Stock, bestehend aus drei
Stuben und Küche, Boden und Keller kostet jährlich 100 bis 120 Gulden,
Stube und Küche allein im Erdgeschoß erhält man für das Drittel.

Auch die Preise der Lebensmittel müssen in Österreich, wo man teuer zu
leben gewohnt ist, überraschen; namentlich Geflügel und Wilopret ist billig.
Doch die Leute sind an die größte Einfachheit gewöhnt, auch in Bürgerhäusern
wird nur zwei- oder dreimal in der Woche Fleisch gekocht, und die Händler
bringen meist nur den knappen Bedarf zu Markte, svoaß der Fremde bisweilen
kaum etwas erhalten kann und ins Gasthaus zu gehen gezwungen ist. Hier
reichen die Beamten noch mit ihrem Gehalte ans -- auch eine Seltenheit in
Österreich, hier kann eine Familie von fünf Personen mit 1500 Gulden im
Jahre noch ein leidlich bürgerlich einfaches, aber noch nicht dürftig eingeschränktes
Auskomme"! finden.

So wie die Hänser noch so stehen, wie sie Urväter vor zwei- und drei¬
hundert Jahren erbaut haben, so ist auch unter den Bewohnern jenes Wesen
noch zu finden, das man in der Gegenwart so oft vermißt und der Vergangen¬
heit bisweilen mehr als billig nachrühmt: Frömmigkeit, schlichter, gerader Sinn,
bei rauher Außenseite warme Teilnahme für den Nächsten. Wenn man des
Abends durch die schlecht erleuchteten, holprigen Straßen geht, hört man. wie
die Leute in den Häusern drinnen laut ihr Gebet sprechen, in der Nacht schließt
man die Thüren kaum, so sicher fühlt man sich. Unter den Bürgern giebt es
noch jene typischen Gestalten, die wir aus alten Erzählungen kennen: den our-


Still-Leben in einer böhmischen Landstadt.

und die Gemeinde ist, da sie vor zehn Jahren eine Kaserne erbaut hat und vier
Schulen fast allein erhalten muß, schwer verschuldet. Auch siud einzelne Wohl--
habende kaum vorhanden. Eine allgemeine Klage ist, daß es von Tag zu Tag
schlechter werde: die Väter brachten es vorwärts, die Söhne wirtschaften ab
oder fristen sich nur so fort. So ist auf die Eisenbahn die Hoffnung aller ge¬
setzt. Erhält sich die Gemeinde bis dahin den Waldbesitz, so wird mit ihr der
Bürger Wohlstand sich freilich wieder heben, auch den armen Leuten Verdienst
zufließen. Denn die Bäume dieser Wälder liefern wirklich ein ausgezeichnetes
Bauholz, es kommt vor, daß einzelne Stämme, trotz der niedrigen Holzpreise,
die eben eine Folge der geschilderten Verkehrsverhältnisse sind, für vierzig bis
fünfundvierzig Gulden verkauft werden. Kohle kennt man hier mir dem Namen
nach, die Bürger erhalten jährlich ein bestimmtes Quantum Brennholz unent¬
geltlich, die Inwohner ohne Bürgerrecht dürfen jeden Montag und Freitag in
den Wäldern der Gemeinde ihren Wochenbedarf sammeln: nicht nur Reisig,
sondern anch lebendes Holz, drei Schuh vom Boden aufwärts. Dafür bezahlen
sie im Jahre zwei Gulden, die Armen leisten dafür an sechs Tagen Arbeiten
zur Forstkultur.

Grund und Boden, Pacht und Miete sind äußerst billig. Für 2000 Gulden
kann man hier ein kleines, einstöckiges Häuschen erwerben, für 3000 Gulden
sich eine Villa bauen. Eine Wohnung im ersten Stock, bestehend aus drei
Stuben und Küche, Boden und Keller kostet jährlich 100 bis 120 Gulden,
Stube und Küche allein im Erdgeschoß erhält man für das Drittel.

Auch die Preise der Lebensmittel müssen in Österreich, wo man teuer zu
leben gewohnt ist, überraschen; namentlich Geflügel und Wilopret ist billig.
Doch die Leute sind an die größte Einfachheit gewöhnt, auch in Bürgerhäusern
wird nur zwei- oder dreimal in der Woche Fleisch gekocht, und die Händler
bringen meist nur den knappen Bedarf zu Markte, svoaß der Fremde bisweilen
kaum etwas erhalten kann und ins Gasthaus zu gehen gezwungen ist. Hier
reichen die Beamten noch mit ihrem Gehalte ans — auch eine Seltenheit in
Österreich, hier kann eine Familie von fünf Personen mit 1500 Gulden im
Jahre noch ein leidlich bürgerlich einfaches, aber noch nicht dürftig eingeschränktes
Auskomme»! finden.

So wie die Hänser noch so stehen, wie sie Urväter vor zwei- und drei¬
hundert Jahren erbaut haben, so ist auch unter den Bewohnern jenes Wesen
noch zu finden, das man in der Gegenwart so oft vermißt und der Vergangen¬
heit bisweilen mehr als billig nachrühmt: Frömmigkeit, schlichter, gerader Sinn,
bei rauher Außenseite warme Teilnahme für den Nächsten. Wenn man des
Abends durch die schlecht erleuchteten, holprigen Straßen geht, hört man. wie
die Leute in den Häusern drinnen laut ihr Gebet sprechen, in der Nacht schließt
man die Thüren kaum, so sicher fühlt man sich. Unter den Bürgern giebt es
noch jene typischen Gestalten, die wir aus alten Erzählungen kennen: den our-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0035" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199389"/>
          <fw type="header" place="top"> Still-Leben in einer böhmischen Landstadt.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_68" prev="#ID_67"> und die Gemeinde ist, da sie vor zehn Jahren eine Kaserne erbaut hat und vier<lb/>
Schulen fast allein erhalten muß, schwer verschuldet. Auch siud einzelne Wohl--<lb/>
habende kaum vorhanden. Eine allgemeine Klage ist, daß es von Tag zu Tag<lb/>
schlechter werde: die Väter brachten es vorwärts, die Söhne wirtschaften ab<lb/>
oder fristen sich nur so fort. So ist auf die Eisenbahn die Hoffnung aller ge¬<lb/>
setzt. Erhält sich die Gemeinde bis dahin den Waldbesitz, so wird mit ihr der<lb/>
Bürger Wohlstand sich freilich wieder heben, auch den armen Leuten Verdienst<lb/>
zufließen. Denn die Bäume dieser Wälder liefern wirklich ein ausgezeichnetes<lb/>
Bauholz, es kommt vor, daß einzelne Stämme, trotz der niedrigen Holzpreise,<lb/>
die eben eine Folge der geschilderten Verkehrsverhältnisse sind, für vierzig bis<lb/>
fünfundvierzig Gulden verkauft werden. Kohle kennt man hier mir dem Namen<lb/>
nach, die Bürger erhalten jährlich ein bestimmtes Quantum Brennholz unent¬<lb/>
geltlich, die Inwohner ohne Bürgerrecht dürfen jeden Montag und Freitag in<lb/>
den Wäldern der Gemeinde ihren Wochenbedarf sammeln: nicht nur Reisig,<lb/>
sondern anch lebendes Holz, drei Schuh vom Boden aufwärts. Dafür bezahlen<lb/>
sie im Jahre zwei Gulden, die Armen leisten dafür an sechs Tagen Arbeiten<lb/>
zur Forstkultur.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_69"> Grund und Boden, Pacht und Miete sind äußerst billig. Für 2000 Gulden<lb/>
kann man hier ein kleines, einstöckiges Häuschen erwerben, für 3000 Gulden<lb/>
sich eine Villa bauen. Eine Wohnung im ersten Stock, bestehend aus drei<lb/>
Stuben und Küche, Boden und Keller kostet jährlich 100 bis 120 Gulden,<lb/>
Stube und Küche allein im Erdgeschoß erhält man für das Drittel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_70"> Auch die Preise der Lebensmittel müssen in Österreich, wo man teuer zu<lb/>
leben gewohnt ist, überraschen; namentlich Geflügel und Wilopret ist billig.<lb/>
Doch die Leute sind an die größte Einfachheit gewöhnt, auch in Bürgerhäusern<lb/>
wird nur zwei- oder dreimal in der Woche Fleisch gekocht, und die Händler<lb/>
bringen meist nur den knappen Bedarf zu Markte, svoaß der Fremde bisweilen<lb/>
kaum etwas erhalten kann und ins Gasthaus zu gehen gezwungen ist. Hier<lb/>
reichen die Beamten noch mit ihrem Gehalte ans &#x2014; auch eine Seltenheit in<lb/>
Österreich, hier kann eine Familie von fünf Personen mit 1500 Gulden im<lb/>
Jahre noch ein leidlich bürgerlich einfaches, aber noch nicht dürftig eingeschränktes<lb/>
Auskomme»! finden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_71" next="#ID_72"> So wie die Hänser noch so stehen, wie sie Urväter vor zwei- und drei¬<lb/>
hundert Jahren erbaut haben, so ist auch unter den Bewohnern jenes Wesen<lb/>
noch zu finden, das man in der Gegenwart so oft vermißt und der Vergangen¬<lb/>
heit bisweilen mehr als billig nachrühmt: Frömmigkeit, schlichter, gerader Sinn,<lb/>
bei rauher Außenseite warme Teilnahme für den Nächsten. Wenn man des<lb/>
Abends durch die schlecht erleuchteten, holprigen Straßen geht, hört man. wie<lb/>
die Leute in den Häusern drinnen laut ihr Gebet sprechen, in der Nacht schließt<lb/>
man die Thüren kaum, so sicher fühlt man sich. Unter den Bürgern giebt es<lb/>
noch jene typischen Gestalten, die wir aus alten Erzählungen kennen: den our-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0035] Still-Leben in einer böhmischen Landstadt. und die Gemeinde ist, da sie vor zehn Jahren eine Kaserne erbaut hat und vier Schulen fast allein erhalten muß, schwer verschuldet. Auch siud einzelne Wohl-- habende kaum vorhanden. Eine allgemeine Klage ist, daß es von Tag zu Tag schlechter werde: die Väter brachten es vorwärts, die Söhne wirtschaften ab oder fristen sich nur so fort. So ist auf die Eisenbahn die Hoffnung aller ge¬ setzt. Erhält sich die Gemeinde bis dahin den Waldbesitz, so wird mit ihr der Bürger Wohlstand sich freilich wieder heben, auch den armen Leuten Verdienst zufließen. Denn die Bäume dieser Wälder liefern wirklich ein ausgezeichnetes Bauholz, es kommt vor, daß einzelne Stämme, trotz der niedrigen Holzpreise, die eben eine Folge der geschilderten Verkehrsverhältnisse sind, für vierzig bis fünfundvierzig Gulden verkauft werden. Kohle kennt man hier mir dem Namen nach, die Bürger erhalten jährlich ein bestimmtes Quantum Brennholz unent¬ geltlich, die Inwohner ohne Bürgerrecht dürfen jeden Montag und Freitag in den Wäldern der Gemeinde ihren Wochenbedarf sammeln: nicht nur Reisig, sondern anch lebendes Holz, drei Schuh vom Boden aufwärts. Dafür bezahlen sie im Jahre zwei Gulden, die Armen leisten dafür an sechs Tagen Arbeiten zur Forstkultur. Grund und Boden, Pacht und Miete sind äußerst billig. Für 2000 Gulden kann man hier ein kleines, einstöckiges Häuschen erwerben, für 3000 Gulden sich eine Villa bauen. Eine Wohnung im ersten Stock, bestehend aus drei Stuben und Küche, Boden und Keller kostet jährlich 100 bis 120 Gulden, Stube und Küche allein im Erdgeschoß erhält man für das Drittel. Auch die Preise der Lebensmittel müssen in Österreich, wo man teuer zu leben gewohnt ist, überraschen; namentlich Geflügel und Wilopret ist billig. Doch die Leute sind an die größte Einfachheit gewöhnt, auch in Bürgerhäusern wird nur zwei- oder dreimal in der Woche Fleisch gekocht, und die Händler bringen meist nur den knappen Bedarf zu Markte, svoaß der Fremde bisweilen kaum etwas erhalten kann und ins Gasthaus zu gehen gezwungen ist. Hier reichen die Beamten noch mit ihrem Gehalte ans — auch eine Seltenheit in Österreich, hier kann eine Familie von fünf Personen mit 1500 Gulden im Jahre noch ein leidlich bürgerlich einfaches, aber noch nicht dürftig eingeschränktes Auskomme»! finden. So wie die Hänser noch so stehen, wie sie Urväter vor zwei- und drei¬ hundert Jahren erbaut haben, so ist auch unter den Bewohnern jenes Wesen noch zu finden, das man in der Gegenwart so oft vermißt und der Vergangen¬ heit bisweilen mehr als billig nachrühmt: Frömmigkeit, schlichter, gerader Sinn, bei rauher Außenseite warme Teilnahme für den Nächsten. Wenn man des Abends durch die schlecht erleuchteten, holprigen Straßen geht, hört man. wie die Leute in den Häusern drinnen laut ihr Gebet sprechen, in der Nacht schließt man die Thüren kaum, so sicher fühlt man sich. Unter den Bürgern giebt es noch jene typischen Gestalten, die wir aus alten Erzählungen kennen: den our-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/35
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/35>, abgerufen am 19.10.2024.