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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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bildung bringen/' denn Glück ist ihm das erfreuliche Anschauen der moralischen
Schönheit des eignen Wesens. Kleist strebte als echter Künstler dem nach,
was Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Men¬
schengeschlechtes gelehrt hatte: der harmonischen Ausbildung des Ichs. Dabei
war er sich seines künstlerischen Zieles wohl bemußt; das ist sicher. Oder dürfen
wir etwa annehmen, den zweiundzwanzigjährigen Kleist habe das Schillersche
Jdeallehrgebäude angelockt, ohne daß er an irgend einen Fühlungspunkt mit dem
realen Leben gedacht habe? Sicher nicht. Die Fühlung Kleists mit der Wirk¬
lichkeit ist aber alsbald hergestellt, wenn wir zwischen seinen Zeilen lesen, er
habe die vollkommenste Ausbildung seines Selbst deshalb erstrebt, weil er in
ihr die notwendige Unterlage für die Entfaltung seiner vielwollenden dichte¬
rischen Kraft erkannte. Universell wollte er sein im Wissen, um universell zu
werden im Dichte". Brahm sucht eine Verbindung Kleists mit der realen Welt
dadurch herzustellen, daß er uns sagt, Heinrich habe sich der akademischen Lauf¬
bahn widmen wollen; er habe dem Militärdienste entsagt, um der Wissenschaft
allein zu leben. "Der Wissenschaft -- nicht der Poesie: in dem bildungseifngen
Jüngling schlummerte der poetische Trieb noch, und sein Leben dem gelehrten
Beruf zu weihen, schien ihn?, der in einer Universitätsstadt aufgewachsen war,
das Ideal." Brahm täuscht sich jedoch, in der Annahme, daß Kleist jemals
allen Ernstes ein akademisches Lehramt für sich im Auge gehabt habe. Gegen
einen solchen Plan spricht schon der Umstand, daß der Dichter seine Kräfte von
vornherein nicht auf eine Wissenschaft nebst den verwandten Fächern beschränkt,
sondern daß er die Sphäre seines Strebens auf die verschiedenartigsten Wissens¬
zweige ausdehnt. Um als Akademiker hervorragendes zu leisten, hätte er sich
einer Wissenschaft, wenn nicht ausschließlich, so doch vorzugsweise hingeben
müssen. Er geht aber auf die Universität, um das Wissen der Welt zu
umfassen."

Es sei gleich hier bemerkt, daß wir das Wort "Wissenschaft bei Kleist
immer "zum grWo 8^8 zu nehmen haben. In demselben Briefe (13. November
1800), in dem er von seinen "geliebten Wissenschaften" spricht, erklärt er mit
Bestimmtheit, kein Amt annehmen zu wollen, ein eigner Zweck stehe ihm vor
Augen. Wenn aber in der That die Wissenschaften seine ganze Zuneigung be¬
sessen hätten, so würde er sich nicht gegen den Eintritt in ein Amt gesträubt
haben, vielmehr hätte ihm gerade ein akademisches Amt als die wünschens¬
werteste Zukunft erscheinen müssen. Seine wahre Herzensmeinung rückt er uns
in das Licht, wenn er in eben demselben Briefe, der immer uur die "Wissen¬
schaften" als das Ziel seiner Wünsche hinstellt, den Ausspruch thut: "Shake¬
speare war ein Pferdejunge, und jetzt ist er die Bewunderung der Nachwelt____
Wilhelmine, warte zehn Jahre, und dn wirst mich nicht ohne Stolz umarmen."
Unter den Begriff der "geliebten Wissenschaften" faßt Kleist alles, was seine"
Geist innig beschäftigt, und nicht zuletzt die heißgeliebte Poesie. Es ist eine


bildung bringen/' denn Glück ist ihm das erfreuliche Anschauen der moralischen
Schönheit des eignen Wesens. Kleist strebte als echter Künstler dem nach,
was Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Men¬
schengeschlechtes gelehrt hatte: der harmonischen Ausbildung des Ichs. Dabei
war er sich seines künstlerischen Zieles wohl bemußt; das ist sicher. Oder dürfen
wir etwa annehmen, den zweiundzwanzigjährigen Kleist habe das Schillersche
Jdeallehrgebäude angelockt, ohne daß er an irgend einen Fühlungspunkt mit dem
realen Leben gedacht habe? Sicher nicht. Die Fühlung Kleists mit der Wirk¬
lichkeit ist aber alsbald hergestellt, wenn wir zwischen seinen Zeilen lesen, er
habe die vollkommenste Ausbildung seines Selbst deshalb erstrebt, weil er in
ihr die notwendige Unterlage für die Entfaltung seiner vielwollenden dichte¬
rischen Kraft erkannte. Universell wollte er sein im Wissen, um universell zu
werden im Dichte». Brahm sucht eine Verbindung Kleists mit der realen Welt
dadurch herzustellen, daß er uns sagt, Heinrich habe sich der akademischen Lauf¬
bahn widmen wollen; er habe dem Militärdienste entsagt, um der Wissenschaft
allein zu leben. „Der Wissenschaft — nicht der Poesie: in dem bildungseifngen
Jüngling schlummerte der poetische Trieb noch, und sein Leben dem gelehrten
Beruf zu weihen, schien ihn?, der in einer Universitätsstadt aufgewachsen war,
das Ideal." Brahm täuscht sich jedoch, in der Annahme, daß Kleist jemals
allen Ernstes ein akademisches Lehramt für sich im Auge gehabt habe. Gegen
einen solchen Plan spricht schon der Umstand, daß der Dichter seine Kräfte von
vornherein nicht auf eine Wissenschaft nebst den verwandten Fächern beschränkt,
sondern daß er die Sphäre seines Strebens auf die verschiedenartigsten Wissens¬
zweige ausdehnt. Um als Akademiker hervorragendes zu leisten, hätte er sich
einer Wissenschaft, wenn nicht ausschließlich, so doch vorzugsweise hingeben
müssen. Er geht aber auf die Universität, um das Wissen der Welt zu
umfassen."

Es sei gleich hier bemerkt, daß wir das Wort „Wissenschaft bei Kleist
immer «zum grWo 8^8 zu nehmen haben. In demselben Briefe (13. November
1800), in dem er von seinen „geliebten Wissenschaften" spricht, erklärt er mit
Bestimmtheit, kein Amt annehmen zu wollen, ein eigner Zweck stehe ihm vor
Augen. Wenn aber in der That die Wissenschaften seine ganze Zuneigung be¬
sessen hätten, so würde er sich nicht gegen den Eintritt in ein Amt gesträubt
haben, vielmehr hätte ihm gerade ein akademisches Amt als die wünschens¬
werteste Zukunft erscheinen müssen. Seine wahre Herzensmeinung rückt er uns
in das Licht, wenn er in eben demselben Briefe, der immer uur die „Wissen¬
schaften" als das Ziel seiner Wünsche hinstellt, den Ausspruch thut: „Shake¬
speare war ein Pferdejunge, und jetzt ist er die Bewunderung der Nachwelt____
Wilhelmine, warte zehn Jahre, und dn wirst mich nicht ohne Stolz umarmen."
Unter den Begriff der „geliebten Wissenschaften" faßt Kleist alles, was seine»
Geist innig beschäftigt, und nicht zuletzt die heißgeliebte Poesie. Es ist eine


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[0335] bildung bringen/' denn Glück ist ihm das erfreuliche Anschauen der moralischen Schönheit des eignen Wesens. Kleist strebte als echter Künstler dem nach, was Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Men¬ schengeschlechtes gelehrt hatte: der harmonischen Ausbildung des Ichs. Dabei war er sich seines künstlerischen Zieles wohl bemußt; das ist sicher. Oder dürfen wir etwa annehmen, den zweiundzwanzigjährigen Kleist habe das Schillersche Jdeallehrgebäude angelockt, ohne daß er an irgend einen Fühlungspunkt mit dem realen Leben gedacht habe? Sicher nicht. Die Fühlung Kleists mit der Wirk¬ lichkeit ist aber alsbald hergestellt, wenn wir zwischen seinen Zeilen lesen, er habe die vollkommenste Ausbildung seines Selbst deshalb erstrebt, weil er in ihr die notwendige Unterlage für die Entfaltung seiner vielwollenden dichte¬ rischen Kraft erkannte. Universell wollte er sein im Wissen, um universell zu werden im Dichte». Brahm sucht eine Verbindung Kleists mit der realen Welt dadurch herzustellen, daß er uns sagt, Heinrich habe sich der akademischen Lauf¬ bahn widmen wollen; er habe dem Militärdienste entsagt, um der Wissenschaft allein zu leben. „Der Wissenschaft — nicht der Poesie: in dem bildungseifngen Jüngling schlummerte der poetische Trieb noch, und sein Leben dem gelehrten Beruf zu weihen, schien ihn?, der in einer Universitätsstadt aufgewachsen war, das Ideal." Brahm täuscht sich jedoch, in der Annahme, daß Kleist jemals allen Ernstes ein akademisches Lehramt für sich im Auge gehabt habe. Gegen einen solchen Plan spricht schon der Umstand, daß der Dichter seine Kräfte von vornherein nicht auf eine Wissenschaft nebst den verwandten Fächern beschränkt, sondern daß er die Sphäre seines Strebens auf die verschiedenartigsten Wissens¬ zweige ausdehnt. Um als Akademiker hervorragendes zu leisten, hätte er sich einer Wissenschaft, wenn nicht ausschließlich, so doch vorzugsweise hingeben müssen. Er geht aber auf die Universität, um das Wissen der Welt zu umfassen." Es sei gleich hier bemerkt, daß wir das Wort „Wissenschaft bei Kleist immer «zum grWo 8^8 zu nehmen haben. In demselben Briefe (13. November 1800), in dem er von seinen „geliebten Wissenschaften" spricht, erklärt er mit Bestimmtheit, kein Amt annehmen zu wollen, ein eigner Zweck stehe ihm vor Augen. Wenn aber in der That die Wissenschaften seine ganze Zuneigung be¬ sessen hätten, so würde er sich nicht gegen den Eintritt in ein Amt gesträubt haben, vielmehr hätte ihm gerade ein akademisches Amt als die wünschens¬ werteste Zukunft erscheinen müssen. Seine wahre Herzensmeinung rückt er uns in das Licht, wenn er in eben demselben Briefe, der immer uur die „Wissen¬ schaften" als das Ziel seiner Wünsche hinstellt, den Ausspruch thut: „Shake¬ speare war ein Pferdejunge, und jetzt ist er die Bewunderung der Nachwelt____ Wilhelmine, warte zehn Jahre, und dn wirst mich nicht ohne Stolz umarmen." Unter den Begriff der „geliebten Wissenschaften" faßt Kleist alles, was seine» Geist innig beschäftigt, und nicht zuletzt die heißgeliebte Poesie. Es ist eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/335>, abgerufen am 20.10.2024.