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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Phantasie war zügellos, sein Wollen grenzenlos. Je erhabener aber seine Ab¬
sichten waren, umso ungenügender däuchte ihn dasjenige, was er seinem un¬
geübten Geiste abringen konnte. Was er schuf, ward vernichtet, was dem
schaffenden Geiste entspringen wollte, ward oft vielleicht nicht einmal zur Ge¬
staltung zugelassen, denn der Unersättliche verlangte Größeres, immer Größeres
von sich selbst. Es kann kaum bezweifelt werden, daß Kleist von jungen Jahre"
an den unerhörten Gedanken in sich trug, gleich mit dein ersten seiner Werke
einen vor ihm noch nie erreichten Höhepunkt der dramatischen Dichtkunst zu er¬
klimmen. Wie Goethe durch den "Götz," Schiller durch die "nunder" zu plötzlicher
Berühmtheit gelaugt war, so wollte es auch Kleist mit seinem Erstlingsdrama,
nur daß dieses Werk in Sprache, Handlung und Charakterzeichnung untadelig
sein sollte. Er wollte von einer jugendlichen Periode seines Dichtens nichts
wissen, er wollte sofort als Meister dastehen. Wie Kleist von der poetischen
Produktion dachte, geht klar aus eiuer Briefstelle hervor. Am 16. September
1L00 schreibt er an seine Braut Wilhelmine von Zeuge"): "Vielleicht erhalte
ich auch den Aufsatz (über Wilhelminens Anschauungen von dem Glück der Ehe)
von dir -- oder ist er uoch nicht fertig? Nun, übereile dich nicht. Ein
Frühlingssvnnenstrahl reist die Orangeblütc, aber ein Jahrhundert die Eiche.
Ich möchte gern etwas Gutes, etwas Seltenes, etwas Nützliches von dir erhalten,
das ich selbst gebrauchen kann, und das Gute bedarf Zeit, es zu bilden. Das
Schnellgebildete stirbt schnell dahin. Zwei Frühlingstage, und die Orangeblüte
ist verwelkt, aber die Eiche durchlebt ein Jahrtausend." Diese Äußerung gewährt
uns einen tiefen Einblick in Heinrichs Geisteswcrkstatt und erklärt vortrefflich,
warum er mit seinen Schöpfungen erst spät an die Öffentlichkeit trat. Seinem
Ehrgeiz genügte es nicht, flüchtige poetische Blüten hervorzubringen; er wollte
den Wald mit Riesenbäumen bereichern, deren Kronen die Bewunderung un¬
zähliger Geschlechter sein sollten. Als besonders charakteristisch in dieser Hinsicht
muß noch erwähnt werden, was Wieland in einem Briefe vom 10. April 1804
über Kleist mitteilt. Nachdem er erzählt hat, daß Heinrich während eines mehr-
wochentlichen Aufenthalts in seinein Hanse zu Oßmannstedt ganz absonderliche
Eigenheiten an den Tag gelegt habe, fährt er fort: "Er mußte mir endlich ge¬
stehen, daß er in solchen Augenblicken von Abwesenheit mit seinem Drama zu
schaffen hatte, und dies nötigte ihn, mir gern oder ungern zu entdecken, daß
er an einem Trauerspiele arbeite, aber ein so hohes Ideal seinem Geiste vor¬
schweben habe, daß es ihm immer unmöglich gewesen sei, es zu Papier zu bringen.
Er habe zwar viele Szenen nach und nach aufgeschrieben, vernichte sie aber
immer wieder, weil er sich selbst nichts zu Dank machen könne." Wer so
Außerordentliches leisten wollte, dürfte wohl anch Außerordentliches thun für



Vergl. Heinrich von KleistS Briefe an seine Braut, herausgegeben von K. Bieder¬
mann. BrcÄau und Leipzig. 1834.

Phantasie war zügellos, sein Wollen grenzenlos. Je erhabener aber seine Ab¬
sichten waren, umso ungenügender däuchte ihn dasjenige, was er seinem un¬
geübten Geiste abringen konnte. Was er schuf, ward vernichtet, was dem
schaffenden Geiste entspringen wollte, ward oft vielleicht nicht einmal zur Ge¬
staltung zugelassen, denn der Unersättliche verlangte Größeres, immer Größeres
von sich selbst. Es kann kaum bezweifelt werden, daß Kleist von jungen Jahre»
an den unerhörten Gedanken in sich trug, gleich mit dein ersten seiner Werke
einen vor ihm noch nie erreichten Höhepunkt der dramatischen Dichtkunst zu er¬
klimmen. Wie Goethe durch den „Götz," Schiller durch die „nunder" zu plötzlicher
Berühmtheit gelaugt war, so wollte es auch Kleist mit seinem Erstlingsdrama,
nur daß dieses Werk in Sprache, Handlung und Charakterzeichnung untadelig
sein sollte. Er wollte von einer jugendlichen Periode seines Dichtens nichts
wissen, er wollte sofort als Meister dastehen. Wie Kleist von der poetischen
Produktion dachte, geht klar aus eiuer Briefstelle hervor. Am 16. September
1L00 schreibt er an seine Braut Wilhelmine von Zeuge"): „Vielleicht erhalte
ich auch den Aufsatz (über Wilhelminens Anschauungen von dem Glück der Ehe)
von dir — oder ist er uoch nicht fertig? Nun, übereile dich nicht. Ein
Frühlingssvnnenstrahl reist die Orangeblütc, aber ein Jahrhundert die Eiche.
Ich möchte gern etwas Gutes, etwas Seltenes, etwas Nützliches von dir erhalten,
das ich selbst gebrauchen kann, und das Gute bedarf Zeit, es zu bilden. Das
Schnellgebildete stirbt schnell dahin. Zwei Frühlingstage, und die Orangeblüte
ist verwelkt, aber die Eiche durchlebt ein Jahrtausend." Diese Äußerung gewährt
uns einen tiefen Einblick in Heinrichs Geisteswcrkstatt und erklärt vortrefflich,
warum er mit seinen Schöpfungen erst spät an die Öffentlichkeit trat. Seinem
Ehrgeiz genügte es nicht, flüchtige poetische Blüten hervorzubringen; er wollte
den Wald mit Riesenbäumen bereichern, deren Kronen die Bewunderung un¬
zähliger Geschlechter sein sollten. Als besonders charakteristisch in dieser Hinsicht
muß noch erwähnt werden, was Wieland in einem Briefe vom 10. April 1804
über Kleist mitteilt. Nachdem er erzählt hat, daß Heinrich während eines mehr-
wochentlichen Aufenthalts in seinein Hanse zu Oßmannstedt ganz absonderliche
Eigenheiten an den Tag gelegt habe, fährt er fort: „Er mußte mir endlich ge¬
stehen, daß er in solchen Augenblicken von Abwesenheit mit seinem Drama zu
schaffen hatte, und dies nötigte ihn, mir gern oder ungern zu entdecken, daß
er an einem Trauerspiele arbeite, aber ein so hohes Ideal seinem Geiste vor¬
schweben habe, daß es ihm immer unmöglich gewesen sei, es zu Papier zu bringen.
Er habe zwar viele Szenen nach und nach aufgeschrieben, vernichte sie aber
immer wieder, weil er sich selbst nichts zu Dank machen könne." Wer so
Außerordentliches leisten wollte, dürfte wohl anch Außerordentliches thun für



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mann. BrcÄau und Leipzig. 1834.
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[0331] Phantasie war zügellos, sein Wollen grenzenlos. Je erhabener aber seine Ab¬ sichten waren, umso ungenügender däuchte ihn dasjenige, was er seinem un¬ geübten Geiste abringen konnte. Was er schuf, ward vernichtet, was dem schaffenden Geiste entspringen wollte, ward oft vielleicht nicht einmal zur Ge¬ staltung zugelassen, denn der Unersättliche verlangte Größeres, immer Größeres von sich selbst. Es kann kaum bezweifelt werden, daß Kleist von jungen Jahre» an den unerhörten Gedanken in sich trug, gleich mit dein ersten seiner Werke einen vor ihm noch nie erreichten Höhepunkt der dramatischen Dichtkunst zu er¬ klimmen. Wie Goethe durch den „Götz," Schiller durch die „nunder" zu plötzlicher Berühmtheit gelaugt war, so wollte es auch Kleist mit seinem Erstlingsdrama, nur daß dieses Werk in Sprache, Handlung und Charakterzeichnung untadelig sein sollte. Er wollte von einer jugendlichen Periode seines Dichtens nichts wissen, er wollte sofort als Meister dastehen. Wie Kleist von der poetischen Produktion dachte, geht klar aus eiuer Briefstelle hervor. Am 16. September 1L00 schreibt er an seine Braut Wilhelmine von Zeuge"): „Vielleicht erhalte ich auch den Aufsatz (über Wilhelminens Anschauungen von dem Glück der Ehe) von dir — oder ist er uoch nicht fertig? Nun, übereile dich nicht. Ein Frühlingssvnnenstrahl reist die Orangeblütc, aber ein Jahrhundert die Eiche. Ich möchte gern etwas Gutes, etwas Seltenes, etwas Nützliches von dir erhalten, das ich selbst gebrauchen kann, und das Gute bedarf Zeit, es zu bilden. Das Schnellgebildete stirbt schnell dahin. Zwei Frühlingstage, und die Orangeblüte ist verwelkt, aber die Eiche durchlebt ein Jahrtausend." Diese Äußerung gewährt uns einen tiefen Einblick in Heinrichs Geisteswcrkstatt und erklärt vortrefflich, warum er mit seinen Schöpfungen erst spät an die Öffentlichkeit trat. Seinem Ehrgeiz genügte es nicht, flüchtige poetische Blüten hervorzubringen; er wollte den Wald mit Riesenbäumen bereichern, deren Kronen die Bewunderung un¬ zähliger Geschlechter sein sollten. Als besonders charakteristisch in dieser Hinsicht muß noch erwähnt werden, was Wieland in einem Briefe vom 10. April 1804 über Kleist mitteilt. Nachdem er erzählt hat, daß Heinrich während eines mehr- wochentlichen Aufenthalts in seinein Hanse zu Oßmannstedt ganz absonderliche Eigenheiten an den Tag gelegt habe, fährt er fort: „Er mußte mir endlich ge¬ stehen, daß er in solchen Augenblicken von Abwesenheit mit seinem Drama zu schaffen hatte, und dies nötigte ihn, mir gern oder ungern zu entdecken, daß er an einem Trauerspiele arbeite, aber ein so hohes Ideal seinem Geiste vor¬ schweben habe, daß es ihm immer unmöglich gewesen sei, es zu Papier zu bringen. Er habe zwar viele Szenen nach und nach aufgeschrieben, vernichte sie aber immer wieder, weil er sich selbst nichts zu Dank machen könne." Wer so Außerordentliches leisten wollte, dürfte wohl anch Außerordentliches thun für Vergl. Heinrich von KleistS Briefe an seine Braut, herausgegeben von K. Bieder¬ mann. BrcÄau und Leipzig. 1834.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/331>, abgerufen am 20.10.2024.