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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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grenzter Aussicht entdecken; Menschen, die sich mit allgemeiner Freundschaft lieben,
deren Glück durch das Glück ihrer Nebengeschvpfe vervielfacht wird, die in
der Vollkommenheit unaufhörlich wachsen -- o wie selig sind siel" Welcher
Schwung der Empfindung, welche Tiefe der Lebensauffassung, welche Fülle
dichterischer Beredsamkeit in wenigen Worten! In dem Ausdrucke: "Himmel
über Himmel in unbegrenzter Aussicht" liegt der ganze Hochflng des spätern
Kleist, die gewaltige Jllusivnskraft, die unsern Dichter noch Jahre lang begleitet
und ihm immer das Wahnbild des zu vollendenden Meister- und Musterdramas,
des "Robert Guiscard," vvrmalt. Auch die Freude an der wachsenden Voll¬
kommenheit, das Streben nach Bildung ist eine Eigenschaft, der wir bei Kleist
immer wieder begegnen, eine Eigenschaft, ohne die kein wahrer Künstler zu
denken ist. Kurz, dieses Stammbuchblatt wirft ein Helles Licht auf Heinrichs
Denken und Wollen, und es ist durchaus ungerechtfertigt, wenn Brahm nichts
als die optimistische Lebensanschauung des achtzehnjährigen Fähndrichs aus
den Worten herausliest. Aus der ganzen Zeit seines Potsdamer Aufenthalts
(1795--1799) wissen wir, daß Kleist eifrig den Studien oblag, daß er "mehr
Student als Soldat" war.

Aus diesem Bekenntnis nun, sowie aus der Thatsache, daß Kleist später
als Student in Frankfurt a. O. einen lebhaften Eifer für die Wissenschaften
an den Tag legt, zieht Brahm den Schluß, Heinrich sei einzig und allein aus
Liebe für die Wissenschaft seinem militärischen Beruf entfremdet worden, an die
Poesie habe er damals noch nicht gedacht. Dieser Schluß ist aber unzulässig,
abgesehen vou der thatsächlichen Widerlegung, welche er erfährt. Dürfen
wir nicht annehmen, Kleist habe die gewaltigen Lücken in der Ausbildung seines
Geistes ausfüllen wollen, und habe einzig ans diesem Grnnde die Hochschule
besucht? Hat nicht auch Schiller nach seiner Jugendperiode das Bedürfnis ge¬
fühlt, das dichterische Schaffen jahrelang hintanzusetzen zu Gunsten der Läu¬
terung seines Geistes durch philosophische Studien? Man würde diese Analogie
unzweifelhaft passend finden, wenn uns von Kleist ebenfalls eine Anzahl jugend¬
licher Schöpfungen erhalten wäre. Nun, daß der junge Kleist dichterisch nicht
völlig unthätig war, beweist das erwähnte Gedicht. Sicherlich ist aber in jungen
Jahren noch vieles entstanden, was Heinrichs allzu strenger Selbstkritik später
wieder zum Opfer gefallen ist. Diese rücksichtslose Selbstkritik hängt mit einer
andern Eigenschaft des Dichters eng zusammen. Wir wissen, daß Kleist den
leidenschaftlichsten Ehrgeiz besaß, der je einen Dichter zum Schaffen angetrieben
hat. Selbst Goethes Ruhmesstufe war ihm nicht zu hoch: er wollte höher
steigen. "Ich werde ihm den Kranz von der Stirne reißen" war der Aus¬
druck seines vermessenen Strebens. Dieser ausschweifende Ehrgeiz datirt nicht
erst aus späterer Zeit, sondern, wie wir gesehen haben, dachte schon der junge
Fähndrich um einen das Menschliche überstrebendcn Flug, wenn er "Himmel
über Himmel in unbegrenzter Aussicht" in seiner Zukunft sich öffnen sah. Seine


grenzter Aussicht entdecken; Menschen, die sich mit allgemeiner Freundschaft lieben,
deren Glück durch das Glück ihrer Nebengeschvpfe vervielfacht wird, die in
der Vollkommenheit unaufhörlich wachsen — o wie selig sind siel" Welcher
Schwung der Empfindung, welche Tiefe der Lebensauffassung, welche Fülle
dichterischer Beredsamkeit in wenigen Worten! In dem Ausdrucke: „Himmel
über Himmel in unbegrenzter Aussicht" liegt der ganze Hochflng des spätern
Kleist, die gewaltige Jllusivnskraft, die unsern Dichter noch Jahre lang begleitet
und ihm immer das Wahnbild des zu vollendenden Meister- und Musterdramas,
des „Robert Guiscard," vvrmalt. Auch die Freude an der wachsenden Voll¬
kommenheit, das Streben nach Bildung ist eine Eigenschaft, der wir bei Kleist
immer wieder begegnen, eine Eigenschaft, ohne die kein wahrer Künstler zu
denken ist. Kurz, dieses Stammbuchblatt wirft ein Helles Licht auf Heinrichs
Denken und Wollen, und es ist durchaus ungerechtfertigt, wenn Brahm nichts
als die optimistische Lebensanschauung des achtzehnjährigen Fähndrichs aus
den Worten herausliest. Aus der ganzen Zeit seines Potsdamer Aufenthalts
(1795—1799) wissen wir, daß Kleist eifrig den Studien oblag, daß er „mehr
Student als Soldat" war.

Aus diesem Bekenntnis nun, sowie aus der Thatsache, daß Kleist später
als Student in Frankfurt a. O. einen lebhaften Eifer für die Wissenschaften
an den Tag legt, zieht Brahm den Schluß, Heinrich sei einzig und allein aus
Liebe für die Wissenschaft seinem militärischen Beruf entfremdet worden, an die
Poesie habe er damals noch nicht gedacht. Dieser Schluß ist aber unzulässig,
abgesehen vou der thatsächlichen Widerlegung, welche er erfährt. Dürfen
wir nicht annehmen, Kleist habe die gewaltigen Lücken in der Ausbildung seines
Geistes ausfüllen wollen, und habe einzig ans diesem Grnnde die Hochschule
besucht? Hat nicht auch Schiller nach seiner Jugendperiode das Bedürfnis ge¬
fühlt, das dichterische Schaffen jahrelang hintanzusetzen zu Gunsten der Läu¬
terung seines Geistes durch philosophische Studien? Man würde diese Analogie
unzweifelhaft passend finden, wenn uns von Kleist ebenfalls eine Anzahl jugend¬
licher Schöpfungen erhalten wäre. Nun, daß der junge Kleist dichterisch nicht
völlig unthätig war, beweist das erwähnte Gedicht. Sicherlich ist aber in jungen
Jahren noch vieles entstanden, was Heinrichs allzu strenger Selbstkritik später
wieder zum Opfer gefallen ist. Diese rücksichtslose Selbstkritik hängt mit einer
andern Eigenschaft des Dichters eng zusammen. Wir wissen, daß Kleist den
leidenschaftlichsten Ehrgeiz besaß, der je einen Dichter zum Schaffen angetrieben
hat. Selbst Goethes Ruhmesstufe war ihm nicht zu hoch: er wollte höher
steigen. „Ich werde ihm den Kranz von der Stirne reißen" war der Aus¬
druck seines vermessenen Strebens. Dieser ausschweifende Ehrgeiz datirt nicht
erst aus späterer Zeit, sondern, wie wir gesehen haben, dachte schon der junge
Fähndrich um einen das Menschliche überstrebendcn Flug, wenn er „Himmel
über Himmel in unbegrenzter Aussicht" in seiner Zukunft sich öffnen sah. Seine


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[0330] grenzter Aussicht entdecken; Menschen, die sich mit allgemeiner Freundschaft lieben, deren Glück durch das Glück ihrer Nebengeschvpfe vervielfacht wird, die in der Vollkommenheit unaufhörlich wachsen — o wie selig sind siel" Welcher Schwung der Empfindung, welche Tiefe der Lebensauffassung, welche Fülle dichterischer Beredsamkeit in wenigen Worten! In dem Ausdrucke: „Himmel über Himmel in unbegrenzter Aussicht" liegt der ganze Hochflng des spätern Kleist, die gewaltige Jllusivnskraft, die unsern Dichter noch Jahre lang begleitet und ihm immer das Wahnbild des zu vollendenden Meister- und Musterdramas, des „Robert Guiscard," vvrmalt. Auch die Freude an der wachsenden Voll¬ kommenheit, das Streben nach Bildung ist eine Eigenschaft, der wir bei Kleist immer wieder begegnen, eine Eigenschaft, ohne die kein wahrer Künstler zu denken ist. Kurz, dieses Stammbuchblatt wirft ein Helles Licht auf Heinrichs Denken und Wollen, und es ist durchaus ungerechtfertigt, wenn Brahm nichts als die optimistische Lebensanschauung des achtzehnjährigen Fähndrichs aus den Worten herausliest. Aus der ganzen Zeit seines Potsdamer Aufenthalts (1795—1799) wissen wir, daß Kleist eifrig den Studien oblag, daß er „mehr Student als Soldat" war. Aus diesem Bekenntnis nun, sowie aus der Thatsache, daß Kleist später als Student in Frankfurt a. O. einen lebhaften Eifer für die Wissenschaften an den Tag legt, zieht Brahm den Schluß, Heinrich sei einzig und allein aus Liebe für die Wissenschaft seinem militärischen Beruf entfremdet worden, an die Poesie habe er damals noch nicht gedacht. Dieser Schluß ist aber unzulässig, abgesehen vou der thatsächlichen Widerlegung, welche er erfährt. Dürfen wir nicht annehmen, Kleist habe die gewaltigen Lücken in der Ausbildung seines Geistes ausfüllen wollen, und habe einzig ans diesem Grnnde die Hochschule besucht? Hat nicht auch Schiller nach seiner Jugendperiode das Bedürfnis ge¬ fühlt, das dichterische Schaffen jahrelang hintanzusetzen zu Gunsten der Läu¬ terung seines Geistes durch philosophische Studien? Man würde diese Analogie unzweifelhaft passend finden, wenn uns von Kleist ebenfalls eine Anzahl jugend¬ licher Schöpfungen erhalten wäre. Nun, daß der junge Kleist dichterisch nicht völlig unthätig war, beweist das erwähnte Gedicht. Sicherlich ist aber in jungen Jahren noch vieles entstanden, was Heinrichs allzu strenger Selbstkritik später wieder zum Opfer gefallen ist. Diese rücksichtslose Selbstkritik hängt mit einer andern Eigenschaft des Dichters eng zusammen. Wir wissen, daß Kleist den leidenschaftlichsten Ehrgeiz besaß, der je einen Dichter zum Schaffen angetrieben hat. Selbst Goethes Ruhmesstufe war ihm nicht zu hoch: er wollte höher steigen. „Ich werde ihm den Kranz von der Stirne reißen" war der Aus¬ druck seines vermessenen Strebens. Dieser ausschweifende Ehrgeiz datirt nicht erst aus späterer Zeit, sondern, wie wir gesehen haben, dachte schon der junge Fähndrich um einen das Menschliche überstrebendcn Flug, wenn er „Himmel über Himmel in unbegrenzter Aussicht" in seiner Zukunft sich öffnen sah. Seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/330>, abgerufen am 20.10.2024.